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Agenda 2010 und die Linke

Magerer Inhalt, fette Form

Gerald Waidhofer, Neue Internationale 83, September 2003

Die Aufrufe und Publikationen der Linken sind relativ ähnlich. Für den Revolutionär Sozialistischen Bund (RSB) ist ‚Schröders Agenda' ein ‚umfassendes Deformpaket', "ein brutaler Angriff auf den Lebensstandard von Millionen Lohnabhängiger." Sie "ist zusammen mit den "Vorschlägen" von Hartz und Rürup ein Frontalangriff gegen alle Arbeitenden, Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentner." Auch die Sozialistische Alternative Voran (SAV) stellt entlarvend fest: "Hinter der Agenda 2010 verbirgt sich das größte Sozialabbau-Programm in der Geschichte der Bundesrepublik." In dasselbe Horn stößt Linksruck, indem es die Agenda als ‚den größten Angriff auf den Sozialstaat in der Nachkriegsgeschichte' brandmarkt und feststellt: "Unsere Regierung plant den größten Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme in unserem Land seit dem 2. Weltkrieg - die Agenda 2010."

Wenn wir die dahinter stehenden Analysen ansehen, werden die Unterschiede schon größer. Sie bestehen weniger darin, dass die SAV die Opferung der in Jahrzehnten erkämpften Errungenschaften der Arbeiterbewegung für die Banken und Konzerne hervorstreicht und der RSB die Politik der steuerlichen Entlastung der Unternehmen und Reichen und die Mehrbelastung der Beschäftigten betont. Sie bestehen vielmehr in verschiedenartigen Annäherungen an reformistische Analysen.

Der RSB hält die vermeintlichen Sachzwänge für unglaubwürdig, weil die Bundesrepublik ein Niedrigsteuerland und eines der reichsten Länder der Erde sei. "Geld ist genug da, es kommt nur darauf an, wer bestimmt, was damit passiert." Die Schmälerung der Massenkaufkraft werde die Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen. "Der Dreh- und Angelpunkt bleibt nun mal die zu geringe kaufkräftige Nachfrage, die sich - im Kapitalismus zwangsläufig - nicht im Gleichklang mit den aufgebauten Kapazitäten entwickelt hat."

Das ist keine marxistische, sondern eine keynesianische Analyse. Im Gegensatz zu Marx, der die Probleme der kapitalistischen Ökonomie von der Produktion her analysiert, hält Keynes die Nachfrage für entscheidend. Der Konsum müsse demnach von den Regierungen durch ausreichende Beschäftigung und Nachfrageförderung in Krisenzeiten erhalten bleiben. Die Notwendigkeit ökonomischer Krisen und der Existenz einer industriellen Reservearmee für die Kapitalakkumulation bleibt solcher Analyse freilich verborgen.

Die SAV fügt ihrer ökonomischen Analyse auch eine politische an: "Getrieben vom kapitalistischen Konkurrenzkampf versuchen die Konzerne, auch in der Krise ihre Profite zu steigern und die Reichen wollen - wie immer - noch reicher werden. Und Schröder ist der Genosse der Bosse. Das ist nicht bloß ein flotter Spruch, das ist sein Programm."

War die internationale Strömung der SAV ursprünglich selbst lange Zeit innerhalb der Sozialdemokratie, so gilt sie ihr heute nur noch als offen bürgerliche Partei. Den Widerspruch innerhalb der SPD zwischen ihrer sozialen Verankerung in der Arbeiterklasse, bes. in der Arbeiteraristokratie, und ihrer offen bürgerlichen Politik begreift die SAV nicht. Gerade die durch die Agenda-Politik immer offenbarer werdende Krise der SPD wie auch jene der Gewerkschaften (dem ökonomischen Arm des Reformismus) ist für die SAV kein Problem, das auch durch die Intervention von Revolutionären gelöst werden muss. Für die SAV besteht dieses Problem zwischen Arbeiterklasse und SPD nicht mehr, weil es zwischen beiden keine organische Verbindung mehr gebe. Die Antwort der SAV ist simpel: eine neue Arbeiterpartei ist nötig. Das ist sicherlich unstrittig. Doch zum einen entsteht diese nicht einfach durch Selbstproklamation, wie es die SAV praktiziert, andererseits sollten Revolutionäre für eine revolutionäre Arbeiterpartei kämpfen und nicht für eine linksreformistische Halbheit wie die SAV. In deren Praxis und Programm zeigt sich nämlich deutlich, dass ihr Parteiprojekt letztlich auf die Umgruppierung innerhalb des linken Reformismus abzielt, den man mit einem linksreformistisch/zentristischen Programm ködern will.

Bei Linksruck sucht man eine Analyse der gegenwärtigen Krise völlig vergebens. Um dieses theoretische Defizit etwas zu kaschieren, werden dann gerne Interviews mit AktivistInnen und ExpertInnen eingefügt. Freilich ohne jegliche Kritik. Also - egal mit wem, wozu, wie, wohin - Hauptsache, es bewegt sich was. Doch dass Bewegung, dass Widerstand eben auch immer heißt, gegen die vorherrschenden bürgerlichen und reformistischen Ideen zu kämpfen, ist Linksruck offensichtlich nicht klar. Ihre Methode läuft darauf hinaus, etwas linker, etwas kämpferischer zu sein - eben einen "Ruck nach links" zu erzeugen. Ein Verständnis, ein Bruch, gar die Überwindung reformistischer Ideologie und Praxis ist das nicht.

Forderungen

Die Durchsicht der Forderungen ergibt ein Bild von relativ willkürlich zusammengesetzten Wünschen, die an die jeweiligen politischen Weihnachtsbäume gehangen werden. Die fehlende Fähigkeit zur Analyse des gesellschaftlichen Geschehens führt bei der Zusammenstellung von Forderungskatalogen zur Aufstellung von Wunschlisten statt zur Formulierung klarer Konzeptionen und Taktiken.

Allgemeine Forderungen wie die nach Stopp und Rücknahme des Sozialabbaus (SAV) werden ergänzt mit Forderungen wie die nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich als erstem Schritt für weitere Arbeitszeitverkürzung zur Umverteilung der vorhandenen Arbeit.

Daran reihen sich dann Forderungen nach einem Verbot von Kündigungen und hohen Lohnsteigerungen (RSB) oder nach einer Mindestsicherung von 750 Euro netto plus Warmmiete (SAV). Dazu wird ein öffentliches Investitionsprogramm in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Soziales und Umwelt statt Aufrüstung und Umbau der Bundeswehr gefordert (SAV).

Weiter plädiert man für die Abschaffung aller direkten Steuern für die Lohnabhängigen und die Bezahlung der Steuern durch die KapitaleignerInnen und Reichen (RSB), für die Rücknahme aller Steuergeschenke an die Unternehmen und stark progressive Besteuerung von Gewinnen und Vermögen (SAV), Unternehmen besteuern wie im Durchschnitt der OECD, Besteuerung des Verkaufs von Unternehmensbeteiligungen und Einführung der Vermögenssteuer (Linksruck).

Die SAV hängt auch noch ein Übergangsfähnchen daran: Überführung der Banken, Konzerne und Versicherungen in Gemeineigentum, demokratische Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung und für das Happy End die Sozialistische Demokratie statt der Diktatur der Banken und Konzerne.

Was empfehlen uns nun diese Linken zu tun, um diese Wunschlisten auch einlösen zu können? Der RSB sagt hier ganz deutlich: "Es muss eine wirkliche gemeinsame Mobilisierung geben, um Schröder & Co. aufzuhalten." Gemeint sind die Gewerkschaften, die branchenübergreifend und mit den Arbeitslosen gemeinsam in den Kampf ziehen sollen. Wie soll diese Mobilmachung aussehen? "Die Regierung und die Chefetagen setzen wir nur mit einem Mittel wirklich unter Druck: Mit Streik. Dass auch ein Generalstreik möglich ist, haben die Kolleginnen und Kollegen in Frankreich gezeigt." Kurz gesagt: die Gewerkschaften sollen für die Forderungen des RSB streiken.

Zu dem Problem, dass die Gewerkschaftsführungen aber gerade jeden Widerstand boykottieren, schweigt der RSB. Wie dieses zentrale Problem gelöst werden kann, welche konkreten taktischen Mittel dafür geeignet sind - Fehlanzeige.

Was empfiehlt uns die SAV? Gegen die Agenda als die größte aller Gemeinheiten bietet uns die SAV das beste aller Gegenmittel. Dieses Mittel heißt eintägiger Generalstreik: "Eine eintägige Arbeitsniederlegung aller Beschäftigten wäre eine Demonstration der Stärke, Geschlossenheit und Entschlossenheit der abhängig Beschäftigten in Deutschland, die der Regierung und den Damen und Herren in den Chefetagen der Konzerne das Fürchten lehren würde."

Eine Demonstration der Stärke wäre es tatsächlich, einen Generalstreik in Gang zu bringen - und auch gleich wieder abzuwürgen. Das wäre nicht nur die Stärke einer Bewegung, sondern vor allem die der Bürokratie, die nichts sehnlicher wünscht, als die Bewegung sofort wieder zu beenden. Dem Problem, wie der Bürokratie, die den Kampf boykottiert, beizukommen sei, wird noch ergänzt, dass es nötig wäre, den Gewerkschaftsführungen Dampf zu machen. "An Stelle von Huber und Peters müssen kämpferische Vertrauensleute und Betriebsräte die Gewerkschaftsführung herausfordern." Und "Das Haupthindernis beim Kampf gegen Schröders Angriffe ist die Haltung der Gewerkschaftsspitzen: Sie versuchen verzweifelt SPD und Grünen den Rücken frei zu halten. Doch diese Parteien vertreten nur noch Unternehmerinteressen - ab und zu vielleicht mit netteren Worten als CDU/CSU und FDP. Die Gewerkschaften müssen mit diesen Parteien der Banken und Konzerne brechen und auf die eigene Kraft der Beschäftigten setzen. Um diese auch politisch zu entfalten muss eine neue Arbeiterpartei aufgebaut werden, die sich konsequent allen Angriffen auf erkämpfte Errungenschaften widersetzt."

Wie die Führung "herausgefordert" werden kann, welche Taktik dazu geeignet ist - auch hier Fehlanzeige.

Die Linke krankt bei all ihren sonst richtigen Vorschlägen und Forderungen gegen die Agenda an mehreren Grundübeln. Ihre Analysen der Ursachen der derzeitigen massiven Angriffe setzt nicht bei der Krise der Kapitalverwertung an. Sie bewegt sich vielmehr in der reformistischen Logik keynesianischer Umverteilungsversuche.

Zugleich fehlt oft die Einbettung der Reformangriffe in eine bewusste und zielgerichtete Strategie des deutschen Imperialismus und seines Projektes EU. Es geht dem Kapital und dem Staat eben nicht nur darum, die Krise auf ihre Art zu bewältigen. Es geht um den bewussten Versuch, der Arbeiterbewegung eine strategische Niederlage beizubringen und ihre Errungenschaften wesentlich zu schleifen.

Auch wenn das Gros der Linken einsieht, dass die Gewerkschaften einzig in der Lage sind, die Angriffe zu stoppen, so fehlt es an klaren, systematischen Vorstellungen, wie die Gewerkschaften zum Kämpfen gebracht werden können. Insbesondere in der Frage, wie die reformistischen Führungen dazu gezwungen werden können, bleibt es bei unverbindlichen Allgemeinplätzen und frommen Wünschen. Genaue Auskünfte darüber, was die nächsten konkreten Schritte der Mobilisierung, was an organisatorischen Strukturen dafür nötig ist, sucht man vergebens.

Der tiefere Grund für dieses Manko ist nicht einfach nur die schwache Verankerung in der Klasse; das Hauptproblem liegt darin, dass die Linke die Bedeutung des Programms, und das heißt u.a. eben auch die Systematisierung von Strategie und Taktik hinsichtlich der Gewerkschaften vernachlässigt. Wo ein Programm immerhin vorhanden ist, wie z.B. bei der SAV, ist es dann eines, dem wesentliche Elemente eines revolutionären Übergangsprogramms fehlen. Gerade das, was das Revolutionäre am Programm sein würde, ist ausgemerzt. Übergangsforderungen wie z.B. jene nach Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung sucht man bei Linksruck vergebens, bei der SAV scheint sie allenfalls verklausuliert (demokratische Kontrolle …) auf. Eine klare Zielrichtung auf die Umwandlung der Gewerkschaften in revolutionäre Kampforganisationen, auf die Eroberung der Führung in ihnen geschweige Vorstellungen, wie und über welche Zwischenschritte das erfolgen soll, fehlt.

Mit diesem unzureichenden Rüstzeug versehen, kann es bei allem guten Wollen perspektivisch nicht gelingen, die Arbeiterbewegung ein Stück nach vorn zu bringen, ein revolutionäres Programm und entsprechende Strukturen in den Gewerkschaften durchzusetzen.

Bei allen unterschiedlichen Auffassungen und der dringenden Notwendigkeit, diese auszudiskutieren, bieten wir allen, die gegen die Agenda kämpfen wollen, unsere Unterstützung an.

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Nr. 83, September 2003

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*  Gewerkschaften: Für eine revolutionäre Fraktion!
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