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Arbeiterklasse in Deutschland

Vertreibung aus dem Paradies?

Markus Lehner, Neue Internationale 78, März 2003

Liest man die Schlagzeilen bürgerlicher Zeitungen, hört man die Weisheiten der Talkshows, könnte man glauben, in der Bundesrepublik würden wir ArbeiterInnen und Angestellten in einer Art Paradies von Arbeitsrechten, eisenharten und absolut kollektiven Tarifregelungen und sozialstaatlichen Wohltaten leben.

Doch dieses "Paradies", heißt es, "können wir uns nicht mehr leisten". Es würde "unseren Standort" zum "Schlusslicht" machen, es sei Schuld daran, dass die "eingeengten" Unternehmer nicht genug Arbeitskräfte einstellen können. Dabei seien es vor allem die Unternehmerverbände, die sich Tag und Nacht wegen der armen Arbeitslosen grämten, während die Gewerkschaften als "Besitzstandswahrer der Arbeitsplatzbesitzer" zum zentralen Hemmfaktor für "notwendige Reformen" würden. Nach Westerwelle sind die Gewerkschaften "eine Plage", die, wie auch Merz meinte, endlich in ihrem "arroganten Machtanspruch" in die Schranken gewiesen werden sollten.

Solches Vokabular wurde übrigens vor genau 70 Jahren schon einmal in Bezug auf die deutschen Gewerkschaften gebraucht ...

Angriffe

Schon am Wahlabend selbst begann die Kampagne gegen den drohenden sozialdemokratisch/gewerkschaftlichen "Weg in den Abgrund". Ein paar scheinbare und halbherzige "sozialdemokratische Traditionsprojekte" wie die lächerliche Mini-Vermögenssteuer oder einige Subventionsstreichungen wurden als Staats- und Steuererhöhungssozialismus gebrandmarkt, der auf den unheilvollen Einfluss gewerkschaftlicher Hintermänner auf den "Kanzler der Gewerkschaften" zurück zu führen sei.

Kaum eine gewerkschaftliche Errungenschaft wurde als "entscheidendes Arbeitsmarkthemmnis" ausgelassen, gegen das endlich "grundlegende Reformen" durchzuführen seien. Auch "seriöse" Medien beteiligten sich an solch bodenlosen Kampagnen, wie jener gegen den Kündigungsschutz. In fast gleichlautenden Artikeln wird verbreitet, dass es für einen deutschen Unternehmer fast unmöglich sei, Beschäftigte rechtssicher zu kündigen.

Der "Einzelfall des Grauens" wird bemüht, wo das arme, kleine Unternehmerlein einen Arbeiter nicht erfolgreich kündigen kann - trotz monatelanger Krankschreibung. Nicht einmal ein Abmahnungsgrund (sic!) sei es, einfach bösartig wegen Krankheit zu lange zu fehlen! Kein Wunder, dass neben dem Kündigungsschutz auch wieder die alte Sau "Lohnfortzahlung" und "übertriebene Leistungen der Krankenkassen" durchs mediale Dorf getrieben wird.

Von einer faktischen Unkündbarkeit angesichts einer der größten Kündigungswellen in der Geschichte der deutschen Wirtschaft zu faseln, ist schon unverfroren genug. Woche für Woche werden Beschäftigte mit "Krankenrückkehrgesprächen" gemobbt. Tag für Tag wird ihnen mit unsinnigen "Qualifizierungs-Prüfungen" klar gemacht, dass sie sich besser nach anderen Jobs umsehen sollten. Kaum eine Stunde vergeht, an dem nicht wieder ein Standort oder ein ganzer Bereich mit Verlagerungsdrohungen zu besonderen "Beschäftigungssicherungs-Maßnahmen", Outsourcing, Teilstilllegungen oder Sozialplänen erpresst wird.

Hintergrund

Die Krise des Weltkapitalismus durch die fortgesetzte Verdrängung lebendiger Arbeit - der eigentlichen Quelle von Mehrwert - führt zu einer eingeschränkten Basis für profitable Kapitalverwertung. Ganz unabhängig von den sog. "Arbeitskosten" kann so ein immer produktiverer Arbeitskörper angesichts immer eingeengterer Akkumulation nur sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft hervorbringen. Umgekehrt ist daher die krisenhafte Akkumulation die Ursache für weltweiten Druck auf den Preis der Ware Arbeitskraft - nicht umgekehrt dieser Preis der Grund für die Abwärtsspirale. Daher zeigt der realwirtschaftlich tatsächlich relevante Vergleichsfaktor, nämlich die Bewegung der Lohnstückkosten, dass sich hier die deutsche Industrie im Vergleich tatsächlich im Spitzenfeld der "erfolgreichen" Ausbeutung befindet. Die Stagnation der Realeinkommen der Arbeiterklasse in Deutschland seit über zehn Jahren konnte auch durch die etwas kräftiger geführten Tarifrunden 2002 kaum aufgebessert werden, was sich auch an der ach so beklagten stagnierenden Binnennachfrage deutlich zeigt.

Doch dem deutschen Kapital genügt es nicht, im Spitzenfeld zu sein. Um die imperialistischen Konkurrenten in einem sich verengenden Weltmarkt zu überflügeln, ist ein Übertreffen der anderen durch gefügigere und billigere ArbeiterInnen unumgänglich.

Die sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften glauben in diesem Kontext weiterhin an die Möglichkeit eines "Interessensausgleichs" zwischen Lohnarbeit und Kapital. Das Konzept des "Dritten Wegs" geht davon aus, dass sich "neoliberale Reformen" mit dem eingeschränkten Erhalt von "Mitbestimmung", "sozialen Grundsicherungen" bei gleichzeitigem Ausbau individueller "Autonomie" vereinbaren ließe und lediglich zu "neuen Formen" von Interessensvertretung führe.

Tatsächlich führt dieses Konzept in Veranstaltungen a la "Bündnis für Arbeit" oder "Hartz-Konzept" zur Mitbeteiligung der Gewerkschaften an der eigenen Demontage! Statt den scharfen Angriff auf Kündigungsschutz und Tarifsystem durch die Liberalisierung der Leiharbeit frontal abzuwehren, ist man stolz auf den Widersinn untertariflicher Tarifverträge mit Zeitarbeitsfirmen.

Auch wenn dies für einige Betroffene momentan bessere Tarife bringt, so ist dies sekundär gegenüber der Ausweitung der Zeitarbeit in großem Stil. Es ist absehbar, dass der momentane Beschäftigungsabbau in der nächsten Konjunktur in den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen fast nur noch durch Leiharbeit wieder aufgefüllt wird. Angesichts der massiven Abdrängung der unteren Einkommensgruppen in Leiharbeit werden solche Konzepte wie der Entgeltrahmen-Tarifvertrag (ERA) zu weiteren tariflichen Spaltungsmomenten zwischen Kern- und Randbelegschaften.

Die Aufsplitterung der Tariflandschaft wird insgesamt vertieft und somit auch die Kampffähigkeit der betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen immer mehr untergraben. Der Zeitarbeitstarifvertrag wird sich im Rahmen der Hartz-Reformen angesichts der zentralen Schwächung und Spaltung der Klasse, die hier vorangetrieben wird, als Makulatur erweisen.

Tatsächlich sind es sowohl die "Traditionalisten" als auch die "Modernisierer" in der Gewerkschaftsführung mit ihrem Glauben an ihre unterschiedlichen Methoden der "Mitbestimmung" im sich verändernden Kapitalismus, die einer verheerenden Illusion aufsitzen. Nicht diejenigen, die nur in der entschiedenen, kompromisslosen Konfrontation die Antwort auf die Angriffe sehen, sind die "Utopisten", sondern jene, die noch an die "vernünftigen Kompromisse" glauben.

Anders als die Gewerkschaftsführungen heute meinen, geht es tatsächlich um die "Zukunft der Gewerkschaften" - nämlich ganz unmittelbar um ihre Existenz als Basisorgane der Selbstverteidigung der Arbeiterklasse.

Die Westerwelles & Co. mit ihren Forderungen, den "Widerstand der Gewerkschaften zu brechen" sind durchaus wörtlich zu nehmen. Auch Schröder/Clement sind inzwischen in einer Position, wo eine SPD-geführte Regierung selbst zum Instrument des strategischen Schlags gegen die Gewerkschaften werden kann. Die Nibelungentreue der Gewerkschaftsbürokratie zur SPD-Regierung - am deutlichsten am Abnicken des Hartz-Desasters sichtbar -, macht diese Gefahr umso größer.

Gewerkschaftsopposition

Die Auseinandersetzung um Hartz zeigt auch das Problem der gegenwärtigen gewerkschaftlichen Opposition. Während es an der Basis rumorte und sich der Unmut in teils heftigen Resolutionen von Vertrauenskörpern, Delegiertenversammlungen oder regionalen Gliederungen Luft machte, blieb die Gewerkschaftsführung davon fast unbeeindruckt. Selbst wo sie von der Basis verpflichtet wurde, aus Hartz auszusteigen bzw. dagegen zu mobilisieren, wurde ignoriert oder mit phrasenhaften Verweisen auf innerorganisatorische Demokratie abgetan. Deutlich ist, dass die Linie der großen Gewerkschaften vor allem durch die völlig system-integrierte Spitzenbürokratie von Gesamt-Betriebsrats-Köpfen und hauptamtlichen Spitzenfunktionären bestimmt wird, die wegen der bürokratischen Struktur der Gewerkschaften von den Basisorganen kaum kontrolliert oder beeinflusst werden können.

Gegen diese abgehobene Spitze ist die "Opposition" teils resigniert, teils richtet sie sich gemütlich in verbal-radikaler Resolutionsfabrikation ein, die an der betrieblichen und gewerkschaftlichen Realität weit vorbei geht. Natürlich gab es in letzter Zeit Ansätze zu spürbarer Gegenpositionierung (z.B. bei der Metall-Tarifrunde). Doch wird diese Opposition langfristig zur Alibi-Veranstaltung, wenn sie nicht tatsächlich die Machtfrage gegenüber den gewerkschaftlichen und betrieblichen Spitzenfunktionären stellt. Dies bedeutet, um eine alternative Führung zu kämpfen!

Auf programmatischer Ebene heißt das, den konfrontativen Klassenkampf, der mit einer Perspektive der Überwindung des Kapitalismus verbunden sein muss, an die Stelle des jetzigen Klassenkompromisses zu setzen.

Auf struktureller Ebene bedeutet das, eine Führung, die direkt von Organen der Basis bestimmt und kontrolliert wird und keine Privilegien hat, zu schaffen.

Es bedeutet auch, die Gewerkschaften aus ihrer bornierten Verengung auf traditionelle Facharbeiterschichten zu lösen, und sie in eine breitere Klassenkampfbewegung zusammen mit prekären Beschäftigten, Arbeitslosen und vom Produktionsprozess ausgeschlossenen Jugendlichen, rassistisch und geschlechtsspezifisch Unterdrückten umzuwandeln. Das ist umso notwendiger, als ökonomische Krise und sinkende Profitraten auch dazu führen, dass sich das Kapital immer weniger ein Heer von "besser gestellter" Arbeiteraristokratie leisten will und kann. Insofern schmilzt damit auch der traditionelle Kern der Gewerkschaftsbasis und mit ihm auch die Mobilisierungskraft traditioneller reformistischer Gewerkschaftspolitik. Gleichzeitig erodiert so auch die soziale Basis des Reformismus im Proletariat.

Dieses doppelte Problem ist nur progressiv auflösbar, wenn einerseits bewußt die unterprivilegierten Teile der Arbeiterklasse (ImmigrantInnen, Frauen, prekär Beschäftigte) gewerkschaftlich organisiert und andererseits bürokratische Routine und reformistische "Selbstbeschränkung" überwunden und so die Gewerkschaften wieder zu effektiven und attraktiven Instrumenten von Klassenpolitik werden.

Die Lösung dieser Frage ist die zentrale Aufgabe, um die Arbeiterbewegung aus der Defensive zu führen und sie für den Sturz des Kapitalismus "fit" zu machen. Und jene, die sich Marxisten und Revolutionäre nennen, müssen sich an dieser Aufgabe messen!

Konsequenzen

Eine solche Perspektive erfordert eine klassenkämpferische Basisbewegung in den bestehenden Gewerkschaften, die bereit ist, auf allen Ebenen und in allen Konflikten um die Führung kämpfen: programmatisch und personell. Dieser Anspruch muss in konkreten Kämpfen, auf die Einfluss genommen werden kann, auch praktisch und exemplarisch umgesetzt werden.

Vor allem muss die Opposition eine tatsächliche betriebliche Verankerung haben, um mobilisierungsfähig sein zu können und dem Druck der Bürokratie standzuhalten. Zugleich muss eine Vernetzung mit breiteren sozialen und internationalen Bewegungen, die über den engen Horizont der Traditionsgewerkschaften hinausgehen (wie es sich z.B. in den Sozialforen abzeichnet) erreicht werden.

Die "Gewerkschaftseinheit", so wünschenswert sie an sich ist, darf nicht zum Fetisch, darf nicht zur Fessel werden: ein konsequenter Kampf gegen die bestehende, systemintegrierte Gewerkschaftsstruktur kann mitunter auch zur Spaltung der Gewerkschaften führen. Eine kämpferische, effektive Gewerkschaft kann es nicht geben, ohne einen grundlegenden Bruch mit der politischen Führung durch die sozialdemokratische Führung zu vollziehen.

Eine wirkliche, grundlegende Perspektive können die gewerkschaftlichen und sozialen Kämpfe nur gewinnen, wenn sie mit zwei wesentlichen Fragen verbunden werden. Erstens mit dem Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiterpartei, die die Machtfrage auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stellt.

Insofern ist für die Entwicklung einer klassenkämpferischen Basisbewegung von Anfang an der Aufbau einer solchen Partei und ihrer Gewerkschaftsfraktion von entscheidender Bedeutung. Angesichts der sich zuspitzenden Klassenkampfsituation und der Krise der traditionellen reformistischen Führungen (wozu auch die PDS gehört) wird das Problem immer akuter.

Packen wir es an! Die Zeit ist reif!

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Nr. 78, März 2003

*  Irak-Krieg: Krieg dem Imperialismus!
*  Offener Brief: Für eine bundesweite Aktionskonferenz
*  Antikriegsaktivität: Was tun wir?
*  Antikriegsbewegung: Der nächste Schritt
*  Deutsche Linke und der Krieg: Nur Frieden?
*  Arbeiterbewegung in den USA: Doppelter Krieg
*  Krise und Krieg: Welt am Wendepunkt
*  Massenproteste in Bolivien: Krieg den Palästen
*  Stiftung Warentest: Vorsicht Falle!
*  Heile Welt
*  Internationaler Frauentag am 8. März: No Sweatshops!
*  Arbeiterklasse in Deutschland: Vertreibung aus dem Paradies?