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Nach dem Fall Aleppos

Das Ende der syrischen Revolution

Martin Suchanek, Neue Internationale 216, Februar 17

Aleppo, die letzte Metropole, die von den Rebellen gehalten worden war, ist im Dezember 2016 gefallen. Sie fiel durch  die Hand eines autoritären, despotischen Regimes, durch die wochen-, ja monatelangen Bombardements seines russischen Verbündeten. Sie fiel infolge der schonungslosen, barbarischen Kriegsführung der Armee, der Milizen der Hisbollah, von Spezialkräften aus dem Iran und Russland, die schon als erzreaktionäre islamistische „Revolutionswächter“ oder im Häuserkampf um Grosny „erprobt“ wurden.

Der Krieg gegen die Bevölkerung von Aleppo war ein Akt der Barbarei, der dazu diente, einer selbst immer mehr von reaktionären Kräften dominierten Aufstandsbewegung den Garaus zu machen. Dazu war und ist jedes Mittel recht.

Auch wenn der Bürgerkrieg in Syrien längst nicht vorbei ist, so müssen wir als revolutionäre RealistInnen anerkennen, dass die syrische Revolution in Aleppo besiegt wurde. Der Sieg der Konterrevolution geht weit über eine einzelne Schlacht hinaus.

Bedeutung

Erstens ist unter den Trümmern der Stadt endgültig die Hoffnung auf den Sieg einer am Beginn genuinen demokratischen und revolutionären Massenbewegung begraben worden. Die nach Idlib evakuierte Bevölkerung und die Kräfte der Rebellion werden sich zwar weiter gegen das Regime wehren, ja wehren müssen, nicht zuletzt, da als militärisch logischer nächster Schritt der syrischen Armee wahrscheinlich der Angriff auf den letzten Zufluchtsort folgen wird. Aus dieser Position, in die auch die reaktionären Teile der Rebellen gedrängt werden, lässt sich ihre Politik legitimieren nach dem Motto: Wenn wir Islamisten euch ZivilistInnen nicht verteidigen, wer dann?

Der Fall Aleppos setzt aber auch eine Dynamik innerhalb der Bewegung fort, die schon in den letzten Jahren immer mehr voranschritt. Die dschihadistischen und islamistischen Kräfte sind auf der Basis von Verzweiflung, Perspektivlosigkeit der Massen wie auch der Führungskrise innerhalb der Aufstandsbewegung immer stärker geworden.

Hinzu kommt, dass die großstädtische Struktur der Bevölkerung Aleppos, die selbst eine soziale Basis des Kampfes gegen Assad bildete, eine Beschränkung des Einflusses der reaktionären Milizen darstellte. Das zeigte sich unter anderem auf den Demonstrationen gegen islamistische Kräfte in der ersten Jahreshälfte 2016.

Gleichzeitig wird die Fragmentierung der Rebellen weiter zunehmen. Für die westlichen ImperialistInnen, aber auch für die Türkei waren sie letztlich bloße Verhandlungsmasse für ein Abkommen mit dem Assad-Regime, genauer: mit Russland. Jetzt sind sie endgültig abgeschrieben.

Zweitens wurde der gesamte Krieg in Syrien mehr und mehr zu einem Schlachtfeld des Kampfes um eine Neuaufteilung der Welt zwischen alten und „neuen“ Großmächten unter eifriger Beteiligung sämtlicher „Regionalmächte“, also von politisch-ökonomisch stärkeren halb-kolonialen Ländern, die selbst nach mehr Einfluss in der globalen Ordnung streben.

Der Fall Aleppos ist in erster Linie ein Sieg des russischen Imperialismus und keineswegs ein Sieg über islamistisch-reaktionäre Kräfte. Er hat handgreiflich, brutal vor Augen geführt, dass das Land eine globale imperialistische Macht ist, fähig und gewillt, ihre Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen. Das Ziel der USA und etlicher ihrer westlichen Verbündeten, Russland auf den Status einer Regionalmacht zu beschränken, ist fürs Erste gescheitert. Schon in den letzten Jahren hatte die Obama-Administration das Ziel aufgegeben, Assad zu stürzen, wollte aber Russlands Einfluss in Syrien begrenzen. Daher wurden pro-westliche, „moderate“ RebellInnen unterstützt - und zwar in dem Ausmaß, der es ihnen erlaubte, den Kampf irgendwie fortzuführen, zugleich aber verunmöglichte, die überlegene militärische Kraft des Regimes und seiner Verbündeten zu brechen.

Auch wenn diese Absicht weiter bei Teilen der westlichen ImperialistInnen besteht, haben Putin, Assad und ihre Verbündeten Fakten geschaffen, die unter Donald Trump wahrscheinlich nicht in Frage gestellt werden, da sich sein Kabinett auf den eigentlichen Hauptrivalen konzentrieren will, das ökonomisch viel potentere und strategisch bedeutendere China.

Sämtliche Krokodilstränen, die jetzt von den zynischen MachtpolitikerInnen in den USA und der EU vergossen werden, sind reine Heuchelei. Der Sieg des russischen Imperialismus zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er die „Waffenruhen“ zwischen Syrien und der Türkei vermittelt, dass er die Astana-Konferenz mit Iran und Türkei organisiert und auch die UN-Resolution schreibt. So wie die europäischen und US-amerikanischen ImperialistInnen die Illusionen der „moderaten“, pro-westlichen FührerInnen der Rebellion für ihre Zwecke nutzten und sie an der Nase herumführten, so verfährt die Türkei mit ihren syrischen Verbündeten.

Astana und die KurdInnen

Drittens geht der Fall Aleppos mit einem von Russland vermittelten Arrangement zwischen der Türkei, Iran und Syrien einher. Für Erdogan ist der Sturz Assads in den Bereich des Unmöglichen gerückt. Der Kampf gegen Daesch (den sog. Islamischen Staat) war ohnedies immer nur ein Vorwand für die eigene Intervention. Das zentrale strategische und nicht verhandelbare Ziel für die Türkei ist der Kampf gegen jede Form der kurdischen Selbstbestimmung, also gegen Rojava und die dortigen Selbstverteidigungskräfte. Dass es wahrscheinlich schon vor dem Fall Aleppos einen Deal zwischen Russland und der Türkei gegeben hat, legt die Tatsache nahe, dass die mit der Türkei verbündeten Kräfte der FSA schon vor der Niederlage aus der Stadt abgezogen wurden, um sich auf den türkischen Hauptgegner, die KurdInnen, zu konzentrieren.

Zweifellos werden die Abmachungen zwischen Russland, Türkei, Iran und Syrien nicht einfach auszuhandeln sein, die anti-kurdischen Forderungen stellen jedoch kein Problem für diese Parteien dar. Es ist kein Zufall, dass die PYD nicht nach Astana geladen wurde, dass sie nicht zu den Parteien gehört, mit denen eine Befriedung von oben ausgehandelt werden soll. Im Gegenteil: Sobald die Rebellen besiegt oder Teile ihrer Führung in einen „Friedensprozess“ oder eine „Übergangsordnung“ eingebunden sind, werden die Errungenschaften kurdischer Selbstverwaltung selbst unvermeidlich zum Ziel des Regimes. Zur Zeit hofft die kurdische Führung, möglichst große Teile ihre Errungenschaften durch symbolische Zugeständnisse zu halten. Das wird aber letztlich keinen ihrer Gegner täuschen, so wie umgekehrt die USA ihren aktuellen Verbündeten allenfalls als Manövriermasse nutzen werden, um bei der Neuordnung des Landes ein Wort mitreden zu können.

Mit dem Fall der syrischen Revolution, ohne die Rojava selbst nie hätte entstehen können, ist aber auch jene soziale Kraft besiegt, die die einzige verlässliche Verbündete der KurdInnen in Syrien hätte bilden können - die Masse der ArbeiterInnen und Bauern. Zwar war die Politik der Führung der Aufstandsbewegung - abgesehen von kleinen sozialistischen Kräften wie der „Linken Revolutionären Strömung“ - selbst vom Gift des arabischen Nationalismus infiziert und wollte von kurdischer Selbstbestimmung nichts wissen. Mit einer entschiedenen Politik der Unterstützung der syrischen Revolution hätte die PYD diesen Chauvinismus jedoch unter den Massen aufbrechen und zugleich auch ein Bündnis zur Stärkung der demokratischen, fortschrittlichen und sozialistischen Kräfte der syrischen Revolution schaffen können.

So drohen nun die PYD und die KurdInnen selbst zum Opfer ihrer Politik des Raushaltens aus der Revolution zu werden. Für Assad und Russland gibt es keinen politischen Grund, nach einem Sieg Rojava seine Errungenschaften zu lassen. Das despotische, bonapartistische Regime Assads kann letztlich seine Herrschaft nur durch die Vernichtung jeder möglichen Gegenmacht wieder errichten. Zugleich könnte die Zerstörung kurdischer Errungenschaften auch die Basis für eine „Normalisierung“ der Beziehungen zur Türkei sein.

Angesichts dieser Lage ist zu befürchten, dass sich die politische Führung in Rojava weiter, ja verstärkt auf ein Bündnis mit dem US-Imperialismus orientiert, der einzig verbliebenen schlagkräftigen „Schutzmacht“. Schon heute kämpfen hunderte Marines in den Reihen der Selbstverteidigungskräfte, gibt es eine ständige militärische Präsenz der USA. Die kurdische Führung droht dabei jenen grundlegenden, strategischen Fehler zu wiederholen, den große Teile der, oft genug auch selbsternannten, Führungen der syrischen Revolution gemacht haben - nämlich auf den US-Imperialismus und die EU zu hoffen. Die EU hat sich mittlerweile ohnedies als politische Nebenfigur auf dem syrischen Schlachtfeld erwiesen. Die USA wird keine Minute zögern, ihre kurdischen Verbündeten zu verkaufen, wenn nur der politische Preis dafür stimmt. Die politische Strategie der PYD könnte sich spätestens dann als Katastrophe für die kurdische Bevölkerung herausstellen.

Viertens markiert der Fall von Aleppo ein weiteres, massives Fortschreiten der Reaktion im Nahen und Mittleren Osten wie weltweit. Die „arabische Revolution“ ist besiegt. Reaktionäre Diktaturen festigen sich in Ägypten und Syrien; Saudi-Arabien wütet im Jemen; Daesch, Assad und schiitische Milizen marodieren in Syrien und Irak. Erdogan errichtet seine Präsidialdiktatur und führt Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, das zionistische Regime erhält freie Hand bei seinem Krieg gegen das palästinensische Volk. Die Wahl Trumps, der Rechtsruck in Europa, der Rollback in Lateinamerika und Rechts-Populismus in Asien (Philippinen, Indien, ...) bringen diese globale, reaktionäre Entwicklung zum Ausdruck.

Neue Lage

Zusammenfassend müssen wir festhalten: Die syrische wie auch die arabische Revolution haben eine tiefe, strategische Niederlage erlitten. Ihre innere Degeneration ist nicht nur Resultat der Hegemonie reaktionärer Führungen, sondern auch der politischen Schwäche der demokratischen Kräfte der Revolution.

Sie waren zwar von einem hohen Maß an Basisaktivität gekennzeichnet, den sog. „Koordinierungskomitees“, die die lokale Selbstverwaltung in den vom Regime befreiten Gebieten organisierten. Aber diese verfügten selbst über keine politische Perspektive, kein Programm und oft auch nicht den Willen, die Führung im politischen und militärischen Kampf zu übernehmen. Das heißt aber, dass sie unwillkürlich anderen Kräften diese Rolle überlassen mussten und damit pro-westlichen und/oder islamistischen Kräften ihr Spiel erleichterten.

Zugleich wurde das Land zunehmend zu einem Schauplatz der Austragung inner-imperialistischer Gegensätze. Die Auseinandersetzung wurde mehr und mehr von den geo-strategischen Absichten der Großmächte wie von Regionalmächten bestimmt. An einigen Punkten bestand tatsächlich die Gefahr, dass die Konflikte um Syrien zu einer Konfrontation der Großmächte - inklusive Russlands und den USA - führen könnten.

Heute werden die Auseinandersetzungen zwischen den Kräften in Syrien wesentlich durch Gegensätze zwischen sich formierenden imperialistischen Blöcken bestimmt.

Lage verstehen

Solche Perioden der Niederlagen haben selbst einen demoralisierenden, desillusionierenden Effekt auf die Massen, ja selbst auf große Teile der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse.

Die erste Vorbedingung für einen erneuten Aufschwung der Bewegung besteht darin, die Ursachen der vergangenen Niederlage zu verstehen. Es gilt, der leeren Hoffnung zu entsagen, durch geschickte Wundermittel oder Ignoranz den Strom der Ereignisse ändern zu können. Angesichts solcher Niederlagen müssen RevolutionärInnen gegen den Strom schwimmen.

Gegen den Strom schwimmen heißt auch, die Heuchelei des westlichen Imperialismus, dessen „humanitäres“ Getue angesichts der Massaker in Syrien zu denunzieren, weil die Verurteilung Russlands und seiner Verbündeten nur die ideologische Hülle für die eigenen wirtschaftlichen und geo-strategischen Interessen darstellt.

Das darf aber die Verbrechen des Regimes und seiner Verbündeten in keinster Weise relativieren. Assad und sein Militärapparat sind Massenmörder, die für den Tod Hunderttausender verantwortlich sind. Widerstand gegen diese Schlächter ist legitim, kein Verbrechen. Die reaktionäre und zunehmend reaktionärer gewordene Führung der syrischen Revolution ändert nichts daran, dass diese eine legitime Erhebung war, die blutig unterdrückt wurde - so wie die verfehlte politische Strategie der kurdischen Führung nichts daran ändert, dass Rojava gegen die verschiedenen Spielarten der inneren wie äußeren Reaktion verteidigt werden muss.

Verstehen heißt aber auch zu erkennen, dass in Syrien neben Regionalmächten (Türkei, Iran, Golfstaaten, Israel) zwei imperialistische Mächtegruppen intervenierten und intervenieren. Einerseits die USA und der Westen, andererseits Russland und seine Verbündeten, die das vom Regime gehaltene Syrien praktisch zu einer russischen Halbkolonie gemacht haben - und nun daran gehen, das ganze Land unter ihre Kontrolle zu bringen.

Große Teile der Linken in Deutschland weigern sich, diese Realität zur Kenntnis zu nehmen und betrachten Russland als irgendwie besseren Imperialismus oder leugnen gar, dass es ein imperialistischer Staat wäre. Andere gehen als Antwort auf die Heuchelei Deutschlands und anderer westlicher Mächte sogar so weit, die russischen Verbrechen zu relativieren oder zu vertuschen. Im schlimmsten Fall feiern sie gar den Schlächter Assad.

Diese sog. Linken verspielen nicht nur ihren letzten politischen Kredit. Das wäre uns reichlich egal. Aber sie arbeiten auch den bürgerlichen, imperialistischen DemokratInnen in die Hände, die den menschenverachtenden Zynismus der Assad-FreundInnen der gesamten Linken in die Schuhe zu schieben trachten.

Der syrische Aufstand ist besiegt. Die arabische Revolution ist auf halbem Wege steckengeblieben und einer ganzen Konterrevolution gewichen. Aber die Ordnung der Reaktion, mag sie auch noch so total, unaufhaltsam, demoralisierend erscheinen, ist letztlich auf Sand gebaut. Die gesellschaftlichen Widersprüche, die die Aufstandsbewegung hervorbrachten, sind nicht gelöst, sondern werden früher oder später zur neuen Eruptionen, zu neuen Klassenkämpfen führen müssen. Für uns geht es nicht darum, diese passiv abzuwarten, sondern sich aktiv darauf vorzubereiten. „Nicht weinen, nicht zürnen, sondern begreifen!“ (Spinoza) - darum geht es.

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Nr. 216, Februar 17

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