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90 Jahre Münchner Räterepublik

Als Arbeiter regierten

Jürgen Roth, Neue Internationale 139, Mai 2009

Am 3. Mai 1919 hatten die konterrevolutionären Freikorps endgültig München erobert und damit einem der heroischsten - wenn auch kurzen - Kapitel der deutschen Arbeiterbewegung ein blutiges Ende bereitet: der Münchner Räterepublik. Stolz können revolutionäre KommunistInnen heute insbesondere auf die Politik der dortigen KPD (Spartakusbund) sein, die unter Führung Eugen Levinés wesentliche Lehren aus der Politik der Bolschewiki von 1917 gezogen hatte. Das unterschied sie wohltuend vom Rest der Reichspartei.

Ausgerechnet Bayern?

Bayern war vor 90 Jahren ein rückständiges Agrarland. Selbst die Großstädte verfügten kaum über Großbetriebe. Zudem spielte der Großgrundbesitz eine im Vergleich zu Russland zu vernachlässigende Rolle. Es gab ein winziges Landproletariat. Die Masse der Bauern war frei und überdies während des Krieges besser gestellt als im übrigen Reich.

Die Politik „Preußens“ zog sich seit Bestehen Deutschlands den Hass insbesondere des partikularistisch geprägten Bayern zu. Zwangsbewirtschaftung und massenhafte Rekrutierung von Soldaten trugen das Ihre zum Unmut nahezu aller regionalen Klassen auf die imperialistische Kriegspolitik Berlins bei. Zweitens spiegelte die scheinbare Klassenharmonie eine entscheidende Schwäche der bayrischen Bourgeoisie im Vergleich zu ihren Klassengeschwistern im Reich wider: das Fehlen einer verlässlichen bewaffneten Macht!

Alter Staatsapparat und Räte

Am 7. November 1918 wurde der König davongejagt. Spontan entstand ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat. Die Existenz des letzteren erklärt sich aus der Unzufriedenheit des Dorfes mit Kriegszwangswirtschaft und jahrelangem Kriegsdienst.

Sie fand auch ihren Niederschlag im linkspopulistischen „Bauernbund“, der ähnlich den russischen Sozialrevolutionären viele Kleinbauern organisierte. Bayern wurde zum „Volksstaat“ erklärt. Die provisorische Regierung bestand aus drei unabhängigen, vier rechtssozialdemokratischen und einem parteilosen Minister. Ministerpräsident war Kurt Eisner (USPD).

Die Regierung stützte sich auf einen provisorischen Nationalrat, in dem die Räte neben den alten Landtagsfraktionen und diversen Berufsorganisationen vertreten waren. Die Novemberrevolution begann hier mit der kaum verhüllten Diktatur des Bürgertums. Die USPD verfolgte auch in München ihre bekannte Linie, die Räte in die zukünftige Verfassung zu inkorporieren und verzögerte deshalb Wahlen zu einem konstituierenden Landtag. Die Anordnung „Organisation und Befugnisse der Arbeiterräte“ vom 17.12.1918 gestand den Räten ausdrücklich keine Vollzugs- oder Kontrollgewalt zu. Im Gegenteil, sie verfügte noch die Trennung der Arbeiter- von den Soldatenräten, unterstellte die Bauernräte dem Innenministerium und wies den Arbeiterräten untergeordnete Amtspflichten als Hilfsorgane der Bürokratie zu. Justiz, Polizei und Beamtenapparat blieben intakt.

Die Mehrheitssozialdemokraten hatten mit Unterstützung aller Gegenrevolutionäre die Landtagswahlen am 12. Januar 1919 durchgesetzt und die zentristische Verzögerungstaktik Eisners durchkreuzt. Die USPD verlor enorm. Die MSPD wurde zweitstärkste Partei. Die KPD beteiligte sich nicht.

Der Vormarsch der Konterrevolution außerhalb Bayerns machte den klassenbewusstesten Elementen klar, dass dieses Parlament trotz aller Bekundungen der beiden sozialdemokratischen Parteien den Räten den Garaus machen sollte. Am 16. Februar fand eine gewaltige Kundgebung für den Erhalt und die Stärkung des Rätesystems statt, auf der auch Max Levien für die KPD sprach. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Der Zusammentritt des Landtags verzögerte sich angesichts der ungeklärten Lage, solange die Machtfrage noch nicht entschieden war. In Bayern war die nicht demobilisierte Soldatenmasse immer noch die bewaffnete Macht. Versuche der Bildung von Bürgerwehren hatten die Arbeiter- und Soldatenräte verhindert. Nur die Republikanische Soldatenwehr in München unter Aschenbrenner hatte sich für die Zwecke der Ordnungsparteien als zuverlässig genug erwiesen - bei Arbeitslosendemonstrationen und der Verhaftung von Kommunisten Mitte Februar.

Die Ermordung Eisners

Kurt Eisner, der populärste Mann Bayerns, wurde am 21.2.1919 erschossen, als der Landtag zusammentreten sollte. Der Attentäter Graf Arco-Valley war Reaktionär und mit Innenminister Auer (MSPD) befreundet. Der Zorn der Massen schlug die Abgeordneten in die Flucht. In mehreren Städten traten die ArbeiterInnen in den Generalstreik. Der durch Vertreter der SPD und Gewerkschaften neu konstituierte Zentralrat (ZR) übernahm die Regierungsgeschäfte. Levien (KPD) u.a. schieden daraufhin aus ihm aus.

Der ZR kam zu einer „Grundlage der Einigung“: Die Räte sollten verfassungsmäßig verankert werden, ein sozialistisches Ministerium entstehen, das bis zur neuen Verfassung gemeinsam mit einem vom „Bauernbund“ zu stellenden Landwirtschaftsminister regieren sollte. Je ein Mitglied der drei Rätesparten sollte beratendes Stimmrecht im Ministerrat genießen, das stehende Heer durch eine republikanische Schutzwehr ersetzt werden. Die „Verankerung der Räte“ - abhängig von der Zustimmung durch die große Mehrheit der Gegenrevolutionäre im Landtag - war der Köder für die Massen. Die Demobilisierung der unzuverlässigen Garnisonen und der Ausbau der Schutzwehr hätten die Machtfrage entschieden!

Der Rätekongress

Er tagte vom 25.2. bis zum 8.3.1919. Neben seinen endlosen Debatten versuchten sich SPD und USPD auf einen Weg aus dem Schwebezustand heraus zu einigen, in dem der Rumpf der alten Regierung neben dem ZR und eigentlich keiner von beiden regierte. Die Lage war aber eher noch schwankender geworden. Der Landtag wählte am 17. März kurz eine neue Regierung unter Hoffmann (SPD).

Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen und Rückendeckung durch die ZR-Mehrheit hing sie aber weiter in der Luft. Die bürgerlichen Parteien duldeten sie als Bollwerk gegen den Bolschewismus. Die SPD wollte zunächst eine offene Koalition mit den Bürgerlichen vermeiden, um die Massen nicht an Unabhängige und Kommunisten zu verlieren. Außer Versprechen über „Vorbereitungen zur Sozialisierung“ hatte Hoffmanns Ministerium aber nichts anzubieten.

Die Riesenstreiks im Ruhrgebiet, in Mannheim, Stuttgart, die drohenden Ausstände in anderen Gebieten, die Ausrufung der ungarischen Räterepublik, die militärischen Erfolge der sowjetischen Roten Armee - all das wirkte sich auch in Bayern aus. Die Sympathie mit den Kommunisten, an deren Spitze der Anfang März nach München entsandte Leviné stand, nahm zu, wenn auch die Partei nicht in gleichem Tempo ausgebaut werden konnte. Es musste etwas geschehen!

Die Scheinräterepublik

Am 3.4. forderte eine Versammlung der SPD (!) in Augsburg die Ausrufung der Räterepublik. Der „linke“ Sozialdemokrat und ZR-Vorsitzende Niekisch fuhr mit dieser Forderung ins Münchner Kriegsministerium. Einige Minister waren sich bereits mit den Führungen der MSPD, USPD und den Anarchisten einig. SPD, USPD und KPD sollten paritätisch die Minister stellen, die Regierung Hoffmann werde sich damit abfinden.

Die Kommunisten schlossen prinzipiell die Zusammenarbeit mit der MSPD in einer Regierung aus, aber auch eine am grünen Tisch künstlich geschaffene Räterepublik ohne Massenaktion. Die Verhältnisse in Deutschland und insbesondere in Bayern seien dafür nicht reif.

Für diese Einschätzung wurden die KPD-Vertreter als Verräter am Proletariat denunziert. Um vorher noch Nordbayern zu gewinnen, sollte die Proklamation der Räteherrschaft auf den 7.4. verschoben werden. Die Regierung Hoffmann verzog sich nach Bamberg und nahm ihr wichtigstes Instrument - die Notenpresse - mit. Ihr Kriegsminister Schneppenhorst, der in Nordbayern für die Räterepublik trommeln wollte, fuhr nach Nürnberg und kam später mit den Nosketruppen zurück.

Der Erklärung der KPD lag folgende Einschätzung zugrunde: Für Anarchisten, Unabhängige und Rechtssozialisten verkörperte die Räterepublik nicht etwas grundsätzlich Neues, eine Revolution der Gesellschaft, sondern sie sahen in ihr einen rein formellen Regierungswechsel. Die Hoffmänner spekulierten auf Machterhaltung. Die Ministerriege würde in einer bürgerlichen Republik, die mit etwas „Räteöl“ in Form der „Mitbestimmung“ durch einzelne Räteminister gesalbt war, wie bisher verfahren können. Anarchisten und USP hofften auf ein „sozialistisches Ministerium“, das nur noch eingeschränkt oder unabhängig vom Landtag würde arbeiten können. Paul Frölich schreibt dazu:

„Dass die Ausschaltung des Landtags bei dem Weiterbestehen des tatsächlichen Machtverhältnisses in der Gesellschaft zu den tollsten Verwickelungen und schärfsten Konflikten führen musste, beachten sie keinen Augenblick. (S. 14)“

Schneppenhorsts Verhalten bewies, dass es sich für ihn bei der Proklamation der Räterepublik um einen Trick handelte, eine Provokation, um alle konterrevolutionären Kräfte aufzurütteln, weiße Garden zu bilden.

Die „Münchner Rote Fahne“ nannte die Scheinrepublik ein „Werk abhängiger und unabhängiger Kompromissler und phantastischer Anarchisten“.  Der alte Beamten-, Polizei- und Justizapparat blieb unbehelligt, „sozialisiert“ wurden Universität und Presse (!), letztere aber nicht einmal zensiert. Die Banken wurden erst gesperrt, als die Frage der Lohnauszahlung drängte. Auch bei der Bewaffnung der Arbeiterschaft wurde gestümpert: 600 Gewehre waren die ganze „bewaffnete Staatsmacht“. Das Bürgertum wurde nicht entmachtet. Die Räteregierung wurde nur in Oberbayern anerkannt, im Norden war das schnell anders. Schon am 10. April zog Schneppenhorst mit dem Freikorps Epp in Ingolstadt ein.

Die KPD enthielt sich allerdings nicht dem Kampf, sondern stellte sich dem hilflosen ZR als Berater zur Verfügung. Die Partei erklärte ihren festen Willen, selbst die Scheinräterepublik gegen die Reaktion zu verteidigen, weil diese das revolutionäre Proletariat niederschlagen wolle. Sie versammelte die revolutionären Obleute in Betrieben und Kasernen hinter sich, war aber nicht stark genug, die Dilettanten im ZR beiseite zu schieben.

Die 2. Räterepublik: eine Diktatur des Proletariats

Am Sonntag, dem 13. April, verhaftete die Republikanische Schutzwehr einige Minister, besetzte öffentliche Gebäude und überfiel eine Sektionsversammlung der KPD. Die KPD rief zu den Waffen. Am Abend war der gegenrevolutionäre Putschversuch gescheitert. Betriebs- und Kasernenräte tagten.

Ein 15köpfiger Aktionsausschuss aus Sozialdemokraten, Unabhängigen und Kommunisten löste den ZR der Scheinräteregierung ab. Die Kommunisten beherrschten den Ausschuss allerdings durch ihre revolutionäre Erfahrung und ihr klares Programm für die Machtübernahme. Nicht, dass sie die Aussichten für die Behauptung der Rätemacht jetzt günstiger einschätzten, war ausschlaggebend für ihren Eintritt in die 2. Räteregierung. Die revolutionären Arbeiter - gerade erst siegreich - würden gegen den anmarschierenden Feind so oder so kämpfen müssen. Wenn die KPD sich an ihre Spitze stellte, dann minimierte das die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage und maximierte den Gewinn an revolutionärer Massenerfahrung.

Vom 14. bis 22. April war Generalstreik. Die bewaffnete Macht ging von der regulären auf die Rote Armee unter Kommando des Matrosen Eglhofer über, die Polizeigewalt übten Rote Garden aus. Die Stadtverwaltung wurde den Betriebsräten übertragen, die Räteregierung durch Wahlen der Arbeiter- und Soldaten-Räte bestätigt. Zur Sicherung der Ernährung wurden Beschlagnahmeaktionen durchgeführt, die Banken gesperrt, jede Abhebung kontrolliert. Während des Generalstreiks erschienen nur die „Mitteilungen des Vollzugsrats“, nachher die Organe der Arbeiterpresse. Die bürgerliche Presse war verboten. Telefon und Telegraph wurden ständig überwacht. Die Betriebe begannen mit der Sozialisierung von unten. Auch militärisch gab es Erfolge zu verzeichnen, Dachau wurde eingenommen, fast 2.000 Soldaten der Konterrevolution wurden zum Aufgeben gebracht.

Der letzte Tag des Generalstreiks erlebte einen gewaltigen, disziplinierten Aufmarsch des Münchner Proletariats, darunter 15.000 Bewaffnete. Doch die inneren Schwierigkeiten der Rätediktatur wuchsen. Toller, Klingelhöfer und Maenner sprachen sich vor den Betriebsräten am 26. April gegen die Kommunisten und für eine Kapitulation vor der Hoffmann-Regierung aus. Die Partei und die Rote Armee verweigerten sich der Kapitulation und kämpften noch bis zum 3. Mai. Danach setzte ein unvorstellbares Gemetzel der „Weißen“ ein.

Bewertung der KPD-Politik

Wesentliche Elemente des Bolschewismus schlugen sich in der Politik der jungen Organisation der jungen Partei nieder - der Spartakusbund war erst am 6. Dezember nach dem Beschluss zu den Landtagswahlen aus der USP ausgetreten! Kritik an reformistischen, anarchistischen, populistischen und zentristischen Konzeptionen paarte sich mit flexibler Einheitsfronttaktik (Verteidigung der 1. „Räterepublik“).

Stets wurde betont, dass sich die KPD nur an einer echten Arbeiterregierung beteiligen würde und worin deren Aufgaben bestünden. Dies alles unter dem Eindruck eines Kampfes, der fast nicht zu gewinnen ist, dem aber wie in den russischen Juli-Tagen Tribut zu zollen ist, um die Masse klassenbewusster ArbeiterInnen nicht im Stich zu lassen. Alle Achtung! Vor dieser politischen Leistung ziehen wir den Hut.

Sicher begünstigte die Wahl der Betriebsräte die Kleinbetriebe und stärkte das kleinbürgerliche Element in den Räten. Aber die Partei erkannte das, forderte nach entscheidenden Klassenkämpfen immer wieder Neuwahlen. Die Reichszentrale unter Levi und Thalheimer soll gänzlich gegen eine Beteiligung am „abenteuerlichen Räteexperiment“ gewesen sein. Wenn das stimmt, so hat die bayrische Organisation mehr Weitblick und Mut, mehr Verantwortungsbewusstsein vor der Revolution bewiesen. Lenin wies in einem Telegramm an die Scheinräterepublik auf die Bedeutung der Agrarfrage hin und war davon überzeugt, dass auch die 2. Räterepublik die Kleinbauernschaft, Pächter und Landproletarier missachtet habe. Die bayrische Diktatur des Proletariats hätte wie in Russland ihren Ausdruck in einer Arbeiter- und Bauernregierung finden müssen. Auf diese Kritik adäquat einzugehen, sprengt allerdings den Rahmen unseres Artikels.

Eines aber ist sicher: Achtung, Respekt und Ehre gebührt dem heldenhaften Münchner und oberbayrischen Proletariat, allen voran den Genossen Eugen Leviné und Rudolf Eglhofer, die der konterrevolutionären Soldateska bzw. der bürgerlichen Klassenjustiz zum Opfer fielen. Ihr Kampf, ihre Politik sollen uns stets Vorbild und Richtschnur sein!

Literatur:

Paul Frölich - Die Bayrische Räterepublik (Frankfurt/M., 1971);

Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution (Ffm., 1970);

70 Jahre Räterevolution (München, 1989);

Erich Wollenberg - Als Rotarmist vor München (Hamburg, 1972)

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Nr. 139, Mai 2009
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