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Portugal

Cavaco Silva und die “wahre Demokratie”

Markus Lehner, Neue Internationale 205, Dez. 15/Jan. 16

Die Wahlen vom 4. Oktober 15 in Portugal führten dazu, dass nach Griechenland zu Jahresbeginn eine weitere Regierung in Südeuropa, die eine Austeritätspolitik verfolgte, ihre Mehrheit verlor. Die Koalition aus liberaler PSD und konservativer CDS, die als gemeinsamer Wahlblock „Portugal a Frente“ (PaF) angetreten war, büßte 12% im Vergleich zu den Wahlen von 2011 ein und erhielt nur 102 von 230 Parlamentssitzen.

Reaktionen auf das Wahlergebnis

Im Lichte dessen war es schon erstaunlich, dass die Führer der EU sofort Passos Coelho, den Premier der PSD/CDS-Regierung und Vorsitzenden der PSD zu seinem „außerordentlichen Sieg“ beglückwünschten. Zwar landete die PaF mit 38% an erster Stelle, etwa 6% vor der sozialdemokratischen „Partido Socialista“ (PS) mit ihrem Spitzenkandidaten Antonio Costa, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Kehrseite ist, dass die EU-Führer anscheinend ein Zählsystem zu Grunde legten, wonach die 20% WählerInnenstimmen für die portugiesische KP und den Linksblock außer Betracht blieben. Nach dieser Logik war es selbstverständlich, dass die PS eine Fortsetzung der für die EU-Spitzen vertrauenswürdigen Coelho-Regierung hinnehmen würde.

So war die Rechte dann schockiert, als die Vorsitzende des Bloco da Esquerda (BE, Linksblock), Caterina Martins, am 12. Oktober bekannt gab, dass „die Regierung von Passo Coelho Geschichte“ sei. Nach dem Scheitern der Koalitionsgespräche zwischen der PaF und der PS zur Bildung einer Großen Koalition, wurden die Worte der BE-Vorsitzenden wahr. Durch ein Misstrauensvotum am 10. November wurde die Minderheitsregierung von Coelho durch die linke Opposition aus Linksblock, KP und PS mit 123 von 230 Stimmen abgewählt und sein Rücktritt erwirkt.

Zwei Wochen später knüpfte der Staatspräsident Cavaco die Ernennung des PS-Vorsitzenden Costas zum Premier an Bedingungen, unter welchen er beginnen durfte, eine PS-Minderheitsregierung unter Tolerierung der BE und KP zu bilden. Bei diesen Bedingungen handelt es sich darum, dass Costas eine Regierung für die gesamte Legislaturperiode bilden solle, einen Plan zur Budgetdisziplin sowie den Haushalt vorlegen solle. Zusätzlich soll sich Costa verpflichten, die „nationalen Aufgaben“ Portugals für die NATO abzusichern.

Dies ist eine schöne Lektion über das Wesen der „Demokratie“, wie es in Zusammenhang mit der europäischen Krisenpolitik zu verstehen ist. Wahlen werden zwar abgehalten, aber die Ergebnisse werden für gültig oder ungültig erklärt, je nachdem, ob sie bestimmte Bedingungen erfüllen. D.h., es wäre „völlig verrückt“, nicht die Austeritätspolitik, die NATO-Verpflichtungen u.ä. anzuerkennen. Im Klartext bedeutet dies, dass einige weise alte Männer gemeinsam mit der deutschen Kanzlerin entscheiden, welche Regierungen vertrauenswürdig und welche nicht annehmbar sind.

Nelken-Revolution und aktuelle Sparpolitik

Die durch die demokratische Revolution vor 41 Jahren, welche als Nelken-Revolution bekannt wurde, entstandene Verfassung beinhaltet trotz ihrer bürgerlichen Beschränktheit einige außergewöhnliche Rechte für ArbeiterInnen. So ist die Entlassung nur in besonderen Fällen erlaubt. Das Streikrecht reicht sehr weit und schließt sogar die Sicherheitskräfte mit ein. Öffentliche Angelegenheiten wie der Verkehr werden vom Staat betrieben. Alle Regierungsmaßnahmen müssen sozialen Gleichheitsgrundsätzen unterliegen. Selbst die Kontrolle über die Produktion durch ArbeiterInnenräte ist immer noch als Möglichkeit in der Verfassung verankert, ebenso die Abschaffung von Großgrundbesitz.

In der gegenwärtigen Periode ist diese Verfassung immer mehr zu einem Hindernis für die Sparpolitik geworden. Drei wesentliche Vorhaben der Coelho-Regierung wurden in den beiden letzten Jahren durch das Verfassungsgericht auf Eis gelegt. Beispielsweise wurden die Gehaltskürzungen für öffentlich Bedienstete zurückgewiesen, weil sie dem Artikel über die soziale Gerechtigkeit widersprechen. Gesetze über Rentenkürzungen und die Lockerung von Entlassungsbestimmungen wurden ebenfalls gekippt.

Im Gegensatz zum von der EU-Spitze gezeichneten Bild hat es die Coelho-Regierung mit ihrem „Reformprogramm“ nicht weit gebracht. Während die griechische Regierung seit Ausbruch der Krise 30% ihrer Ausgaben kürzen musste, waren es in Portugal nur 7%. Das reichte aber aus, um die Wirtschaft weiter zu drosseln und die Rezession zu vertiefen, bis im vergangenen Jahr eine leichte Erholung einsetzte. Diese Rezession sorgte zur Hauptsache für gewaltige Lohneinbußen und einen rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, was viel zum großen Aderlass von 120.000 PortugiesInnen beitrug, die jedes Jahr das Land verlassen - bei einer Einwohnerzahl von etwa 10 Millionen!

Schuldenproblem

Die Auswanderung war einer der Gründe, warum die Arbeitslosigkeit dieses Jahr etwas zurückging. Die „Beschäftigungsprogramme“ der Regierung, die v.a. von den Linken im Wahlkampf angegriffen wurden, zeigten nur geringe Wirkung. Die Zwangsarbeitspläne für Arbeitslose, deren Gelder gekürzt wurden, wenn sie keine Arbeitsstelle in einem Betrieb unter prekären Bedingungen auf 420-Euro-Basis annehmen, und die Ausbildungsbeihilfen für junge Leute, zu denen die Unternehmen 50 Euro im Monat beisteuern plus staatliche Zuwendungen, sind Mogelpackungen, wodurch die Arbeitslosenzahlen um 100.000 geschönt wurden. Die wirkliche Arbeitslosenquote beträgt über 25%.

Doch diese Härten haben nicht das Schuldenproblem des Staates lösen können, das sich durch Bankenrettungsoperationen noch verschlimmert hat. Der 78-Milliarden-Kredit der Troika ist immer noch nicht zurückgezahlt, lediglich ein kleinerer Teil, der für den IWF bestimmt ist, wird demnächst abgewickelt. Portugals Schuldenquote in Bezug auf das BIP hat sich 2015 auf fast 130% gesteigert. Portugal rangiert damit an zweiter Stelle hinter Griechenland. Nur die lockere Geldpolitik der EZB gewährt die Rückfinanzierung von Krediten bei niedrigen Zinssätzen.

Ferner kann sich die nun als „vertrauenswürdig“ eingestufte Coelho-Regierung selbst billiges Geld verschaffen, nachdem sie offiziell den europäischen Rettungsschirm nicht mehr benötigt. Es verwundert nicht, dass die EU-Kommission den portugiesischen WählerInnen die Empfehlung mitgegeben hatte, dass die nächste Regierung eine entschiedenere Austeritätspolitik betreiben müsse. Wie im griechischen Beispiel kann der Einsatz der EZB-Refinanzierung als politische Waffe beobachtet werden.

Eine der interessantesten Ergebnisse der portugiesischen Wahlen war die Stärkung des Linksblocks (BE). Er konnte sein Ergebnis mehr als verdoppeln und erhielt 10,2% der Stimmen und 19 Abgeordnetensitze. Damit übertraf er die KP (8,2%) und sogar die CDS. Der BE wurde somit drittstärkste Kraft im Parlament. Das war noch zu Jahresanfang nicht erwartet worden, denn der Linksblock durchlief seit den letzten Wahlen eine tiefe Krise und eine Reihe von Spaltungen. Im Januar erreichte BE mit 3% seinen Umfragetiefpunkt. Viele Linke schrieben bereits Nachrufe auf den BE und begrüßten das Auftauchen neuer Kräfte wie des LIVRE-Netzwerks, das der bekannte Blogger Rui Tavares als dem spanischen Podemos nachempfundene „moderne linke“ Alternative ins Leben gerufen hatte. Diese Strömungen lehnten die Organisation des BE als Partei „alten Stils“ ab, seine Festlegung auf „Parteiprogramme“ und Strukturen, die wie sie glaubten, eine Bürgerbeteiligung und „Aufbau von unten“ verhinderte. Außerdem wäre der Linksblock zu sehr befangen in Fragen, ob er mit der PS koalieren könne oder nicht.

Seit Jahresbeginn gelang es dem Linksblock aber, sich unter der neuen Führung von Caterina Martins, die dem „Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale“ (in Deutschland ISL und RSB)  angehört, und dynamischen jungen Führungspersönlichkeiten wie Mariana Mortagua zu stabilisieren und sich als politische Kraft gegen die Kürzungspolitik in Stellung zu bringen. Im Gegensatz zur KP propagierte der Linksblock nicht den Austritt aus dem Euro als „Lösung“ für die Gesellschafts- und Wirtschaftskrise. Die Stärken des BE lagen in der Offenlegung der Auswirkungen der Coelho-Politik. Im Wahlkampf kehrten sie besonders die Einbindung von Jugend, RentnerInnen und PrekariatsarbeiterInnen bei nachbarschaftlichen Aktionen hervor.

Coelhos Attacken, dass die Politik des BE Portugal in dieselbe Lage bringen würde wie das von SYRIZA geführte Griechenland, begegnete der Linksblock, indem er schwerpunktmäßig den Druck der EU gegen Griechenland aufdeckte. Dieses Vorgehen erwies sich als schlagkräftig. Coelhos sklavische Gefolgschaft hinter Schäuble und Merkel bei der Behandlung von Griechenland wird von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt.

Angesichts der Dynamik des Wahlerfolgs war der Linksblock imstande, Druck auf PS und KP auszuüben und sie zu bewegen, sich der Herausforderung des Kampfes gegen die von der EU aufgezwungenen Austeritätsprogramme zu stellen. Dies entspricht auch den Wünschen der Basis in der Gewerkschaft CGTP, wo der Linksblock beträchtlichen Einfluss hat, aber auch der PS-Basis, die nicht länger gewillt ist, einer Politik nach Art von Coelho und Socrates Folge zu leisten. Hier wird deutlich, wie durch das Mittel der Einheitsfront, Druck auf Führungen reformistischer Organisationen aufgebaut werden kann, um einerseits ihre Basis zu erreichen und andererseits die Führung zu zwingen, sich linker zu positionieren, als ihnen eigentlich lieb ist.

Möglichkeiten

RevolutionärInnen bietet die Situation nach den Wahlen ein gutes Interventionsfeld. Sie müssen Basismobilisierungen ausnutzen sowie selbst initiieren, mit Hilfe derer die PS-Minderheitsregierung vor kommenden Angriffen der herrschenden Klassen in Portugal und der EU-Diktate verteidigt werden kann. Gleichzeitig muss aber vor möglichen Kompromissen zwischen der PS-Regierung und der EU gewarnt werden. Es müssen v.a. Kampforgane aufgebaut werden, die auch für den Fall des Verrats und von Anschlägen der bürgerlichen Reaktion handlungsfähig sind und die Initiative ergreifen können.

Dafür müssen nun RevolutionärInnen innerhalb und außerhalb des Linksblocks den Aufbau von Aktionskomitees in allen Städten, Kommunen, Betrieben, unter den ArbeiterInnen und Bauern vorschlagen und initiieren. Als Beispiel für eine Massenmobilisierung der Basis, an welche mit dem Aufbau von Aktionskomitees angesetzt werden kann, war der Tag des Misstrauensvotums. An diesem Tag demonstrierte der Linksblock zusammen mit den Gewerkschaften vor dem Parlament, um den Abgeordneten der PS, KP und BE bei ihrer Abwahl von Coelho zu unterstützen.

Gleichzeitig müssen RevolutionärInnen vor möglichen parlamentarischen Fallstricken warnen. Das Ziel des Linksblocks darf es nun nicht sein, die Dynamik allein dahingehend zu nutzen, ihre Chance auf Positionen im Parlament und möglichen Kabinetten, oder gar mit Hinblick auf mögliche Neuwahlen, zu erhöhen. Die Dynamik muss genutzt werden, um Basisstrukturen im Kampf gegen die Krise aufzubauen. In solchen Strukturen muss für den Aufbau einer ArbeiterInnenpartei mit einem revolutionären, internationalistischen Programm gekämpft werden. Die Erfahrungen in Griechenland rund um SYRIZA haben gezeigt, wohin sich eine aufsteigende linke Partei mit Massenanhang entwickeln kann, wenn sie nicht klaren revolutionären Prinzipien folgt, sondern ihren parlamentarischen Einfluss höher einschätzt, als die Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen die Krise.

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Nr. 205, Dez. 15/Jan. 16
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