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Nahost

Die syrische Revolution und die Türkei

Reimund Fleck, Neue Internationale 174, November 2012

Die Drohungen der türkischen Regierung gegenüber dem Assad-Regime und die Grenzgefechte an der syrisch-türkischen Grenze haben in den letzten Wochen zu einer politischen Zuspitzung geführt. Eine Reihe linker Gruppen sieht eine drohende Invasion, der Aufstand der syrischen Massen wäre praktisch nur eine „Hilfstruppe“ von NATO, USA, Türkei, Saudi-Arabien oder Katar.

Fakt ist: Seit Wochen detonieren immer wieder syrische Granaten auf türkischem Territorium, wenn sich Kämpfe unmittelbar an der Grenze abspielen. So wurden Gebäude in der türkischen Grenzstadt Akcakale von Artilleriegeschossen getroffen, was von der türkischen Armee mit Gegenschlägen beantwortet wurde. In  Reyhanli wurde ein Gebäude von einem Luftabwehrgeschoss getroffen.

Auch wenn ein absichtlicher Beschuss von Rebellen durch die syrische Armee auf türkischem Gebiet möglich ist, kann man eher von zufälligen Querschlägern ausgehen. Die Freie Syrische Armee verfügt  jedenfalls nicht über entsprechende Waffen wie Panzer oder schwere Geschütze. Würde sie Luftabwehrgeschütze besitzen, würde sie diese kaum für Bodengefechte verwenden. Die  Luftabwehrgeschosse, von denen eines sich über die Grenze nach Reyhanli verirrt hat, werden jedoch von der syrischen Armee in großer Anzahl auch in Bodengefechten gegen Rebellen eingesetzt. So kann man also die  Behauptung, die Angriffe seien (evtl. als Provokation) durch Rebellen erfolgt, getrost als Humbug bezeichnen.

Die hiermit (und mit anderen Behauptungen) begründete These, die Türkei sei in Wirklichkeit der  "Strippenzieher" hinter dem syrischen Bürgerkrieg, ist kompletter Unfug. Wäre die Syrische Revolution ein Instrument für die Interessen der türkischen Regierung, so hätte sie längst durch gezielte Schläge z.B. Assads Luftwaffe ausgeschaltet und der FSA dadurch zum Sieg verholfen.

Obwohl der Bürgerkrieg zentrale Interessen der türkischen Regierung in Bezug auf die Kurdengebiete  tangiert, verhält sie sich relativ passiv - weil sie sich in einer Zwickmühle befindet.

Traditionell war die Türkei ein Verbündeter des Assad-Regimes und schwenkte erst um, als klar war, dass dieses trotz brutaler Repression und der Ermordung tausender Menschen die Aufstandsbewegung nicht niederschlagen kann.

Türkische Interessen

Freilich hat das die Türkei weder zum Drahtzieher der Bewegung gemacht noch zu einer so eindeutigen Position bewogen, wie das manchen Linken hierzulande erscheint. Vielmehr ist die Politik der Türkei von Widersprüchen geprägt.

So fürchtet das expandierende und auf den Export orientierte türkische Kapital eine Ausweitung des Krieges und eine weitere Destabilisierung der gesamten Region. Die Türkei will eine reaktionäre Stabilisierung. In dieser Hinsicht steht es den Interessen der imperialistischen Mächte durchaus nahe. Die türkische Regierung ist eng in die NATO integriert. Auch die USA (und damit die NATO) wollen keine Ausweitung des Krieges und auch keine direkte militärische Intervention, weil sie fürchten, dass ihre bevorzugte Befriedungslösung - Beibehaltung des alten Staatsapparates als „stabilisierender Faktor“ und gleichzeitige Inkorporation der „verlässlichen“ Teile der Führung der Rebellen - unmöglich wird. Ihre Lehre aus dem Irak-Krieg und aus Libyen ist, dass ein Zerbrechen des Repressionsapparates als einer „verlässlichen“ Staatsmacht möglichst vermieden werden muss. Assad soll gehen, wohl auch seine engsten Satrapen - sein Apparat insgesamt soll jedoch intakt bleiben.

Doch so sehr ein Ausbrechen der Türkei aus dem NATO-Rahmen ausgeschlossen ist, so gibt es für das Regime in Ankara doch zwei Sonderziele. Erstens darf Syrien nicht zu einer Bastion oder zu einem Rückzugsgebiet der kurdischen Bewegung werden. Dabei kommt es der türkischen Regierung durchaus gelegen, dass sich wichtige Teile der kurdischen Führung gegenüber Assad neutral verhalten und den Aufstand nicht unterstützen, obwohl auch die kurdische Bevölkerung unter Assad unterdrückt war und wahrscheinlich auch die Mehrheit der KurdInnen mit dem Aufstand sympathisiert.

Zweitens geht es der Türkei - ähnlich wie Saudi-Arabien - darum, ihre Rolle als Regionalmacht im Nahen Osten zu stärken. Mit dem Fall Mubaraks ist auch Ägypten zu einem unzuverlässigeren „Partner“ des Imperialismus geworden, dem trotz zweier Jahrzehnte versuchter „Neuordnung“ langsam die stabilen Vasallen ausgehen.

Die Türkei setzt hier aber nicht in erster Linie auf eine offene militärische Intervention, sondern auf die politische und diplomatische Einbindung der reaktionären Moslembruderschaft, die ihrerseits die Führung der Aufstandsbewegung zu okkupieren versucht und sich als eine zentrale Kraft in einem Syrien nach Assad in Stellung zu bringen versucht. Es ist daher kein Zufall, dass die Türkei an der Grenze keineswegs die syrischen Aufständischen unterstützt.

Auch die Situation in den Flüchtlingslagern in der Türkei ist erbärmlich; von der vielzitierten humanitären Hilfe ist nichts zu spüren. Unterstützung oder gar Waffenlieferungen gibt es nicht für die Rebellen, sondern nur für jene Gruppierungen, die der türkischen Regierung und dem Militär nahe stehen.

Unabhängigkeit der Rebellion

So wichtig es daher ist, dass jede politische Intervention, jede militärische Drohung der Türkei zurückgewiesen werden muss, so darf all das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die syrische Revolution eine wirkliche Revolution der Massen ist, die von der Arbeiterklasse und der städtischen und ländlichen Armut getragen wird. Die Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) sind oft Bataillone von rund 50 jungen Männern. die zur Hälfe aus Deserteuren, zur Hälfte aus der lokalen Bevölkerung kommen. In den meisten der von den Rebellen kontrollierten Städte organisieren lokale Komitees die Versorgung des täglichen Lebens.

Die Bewaffnung der Rebellen ist nach wie vor schlecht. Die meisten Waffen stammen aus der Armee, vom Schwarzmarkt oder kommen über alle möglichen Kanäle v.a. aus dem Irak. Nur jene Einheiten, die unter Kontrolle der Moslembruderschaft oder von Islamisten stehen, die den Golfmonarchien nahe stehen, erhalten bessere Waffen.

Wie in jeder Revolution, wie in jeder Massenbewegung findet auch in Syrien ein Kampf um die Führung der Bewegung statt - ein Kampf, der letztlich politisch entschieden wird. Die entscheidende Frage ist, ob es der Arbeiterklasse und der syrischen Linken gelingt, eine revolutionäre Arbeiterpartei aufzubauen, welche die Massen zum Sieg über Assad und zur Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung führen kann, die sich auf Räte und bewaffnete Milizen stützt.

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Nr. 174, November 2012
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