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Bildung im Kapitalismus

Wa(h)re Bildung

Hannes Hohn, Neue Internationale 129, Mai 2008

Die PISA-Debatte sorgt für Schlagzeilen. Bildung wird zum „Standortfaktor“. Bildungspolitik entscheidet Wahlen. Die Parteien übertreffen sich mit Konzepten zu „moderner Bildungpolitik“.

In der Linken sind Losungen wie „Bildung ist keine Ware“, „Mehr Geld für Bildung“ oder „Für gleiche Bildungschancen“ weit verbreitet. Doch ist ein anderes, besseres Bildungsystem im Rahmen des Kapitalismus möglich?

Bildung im Kapitalismus

Ein allgemeines Bildungssystem ist erst mit der Durchsetzung des Kapitalismus entstanden. Die permanente Umwälzung der wissenschaftlich-technischen Grundlage der Produktion machte es notwendig, dem Proletariat grundlegende Bildung zu vermitteln, um sie als LohnarbeiterInnen gebrauchen, d.h. ausbeuten zu können. Die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung in der Wirtschaft - und damit der Bedarf an Fachkräften und Spezialisten - wächst.

Da Bildung und Ausbildung der Arbeitskraft für den Kapitalisten Kosten darstellen, die seinen Profit schmälern, wurde die Vermittlung von Bildung meist dem Staat überantwortet. So entstand - eng verbunden mit bürgerlichen Rechtsvorstellungen - auch die Illusion, Bildung sei ein Menschenrecht und klassenneutral.

Meist sind „Reformen“ und Umstrukturierungen der Bildung im Kapitalismus Veränderungen in der Wirtschaft geschuldet. So war die Ausweitung und größere Durchlässigkeit des deutschen Bildungswesens für Arbeiterkinder in den 1970ern auch dem größeren Bedarf an Fachkräften und der wissenschaftlich-technischen Revolution geschuldet.

Doch diese - auch für das Kapital notwendigen Reformen - erfolgten nicht automatisch, sondern waren auch Resultat von Kämpfen der Arbeiter- und Studentenbewegung.

Bildung hat im Kapitalismus, wie auch die Arbeit, zwei Seiten. Sie ist einerseits nützlich, ja unverzichtbar, damit sich Menschen in der Gesellschaft bewegen und entwickeln können. Sie ist aber zugleich auch damit verbunden, dass sie Bildung im Interesse der herrschenden Klasse ist und der Absicherung ihrer Herrschaft dient.

Untrennbar mit der Vermittlung von Wissen sind in der bürgerlichen Gesellschaft Repression und Disziplinierung verbunden. Sie hat viele Seiten. Eine ist die fast völlige Ausgeschlossenheit der Lernenden, der Lehrenden und der Masse der Gesellschaft von den Entscheidungen darüber, was und wie gelernt wird. Diese Entscheidungen obliegen Bildungsspezialisten, die mehr oder weniger direkt die Interessen des Kapitals verfolgen.

Ein weiterer Aspekt von Repression ist die Benachteiligung von Kindern proletarischer Herkunft (und besonders aus dem MigrantInnenmilieu). Das fängt damit an, dass Bildung oft Geld kostet. Viel dramatischer wirkt aber, dass Arbeiterkinder - zudem aus den proletarischen, „bildungsfernen“ Unterschichten - in der Regel durch das familiäre Umfeld schlechtere Startbedingungen schon beim Eintritt in die Schule haben. Diese grundlegende soziale Ungleichheit kann auch durch das beste Schulsystem nur abgemildert, nie jedoch ausgeglichen werden.

Dazu kommt, dass die Lernmotivation von proletarischen Kindern oft darunter leidet, dass ihre sozialen Perspektiven mit oder ohne gute Bildung oft düster sind.

Eindeutig repressiv ist auch das dreigliedrige Schulsystem, die Zensierung oder der numerus clausus, die bewirken, eine soziale Auslese vorzunehmen und proletarischen Schichten den Zugang zu höherer Bildung zu verwehren.

Nach 1968 erfolgten einige Veränderungen im BRD-Bildungssystem, die das Bildungswesen etwas demokratischer gestalteten und mehr Arbeiterkindern das Abitur oder ein Studium ermöglichten.

Neoliberale Angriffe

Seit Jahren werden nun unter dem Eindruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus (deren ein Aspekt die „Finanznot“ ist) etliche Errungenschaften im Bildungswesen angegriffen und Umstrukturierungen durchgedrückt. Als Begründung dient dabei v.a. die PISA-Debatte, die zwar auch auf reale Defizite des hiesigen Bildungswesens (z.B. soziale Ausgrenzung) verweist, aber vor allem als Steilvorlage dient, die Bildung stärker den Interessen des Kapitals anzupassen. Das bedeutet u.a.:

Kosteneinsparungen (v.a. in der Grundlagenbildung oder durch das 12jährige Abitur), Kürzung der Lehrmittelfreiheit, Studiengebühren, höhere Elternbeiträge; Staat und Kommunen sollen entlastet und weitere Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen ermöglicht werden;

Privatisierung großer Bereiche und Gründung privater Schulen und Unis; diese vertiefen nicht nur die soziale Auslese, sondern entlasten den Staat finanziell auf Kosten der Eltern; schon heute ist die Schüler-Nachhilfe zu einem großen privaten Wirtschaftszweig gewuchert;

Leistungsdruck und Konkurrenz unter Schülern wachsen; Umfragen, Schulstreiks und Elternproteste zeigen, dass diese Entwicklung als Hauptproblem angesehen wird;

in der beruflichen Ausbildung wird der Druck auf die Azubis auf Grundlage permanent fehlender Lehrstellen erhöht; immer längere Fahrwege und damit der Druck, ein Auto zu finanzieren, gelten als „zumutbar“.

Oft zielt die Bildungsdiskussion auch auf die Verstärkung repressiv-autoritärer Methoden. Dabei wird auf das „Versagen der antiautoritären Erziehung der 68er“ verwiesen. Sicher waren die Ideen der 68er - genauer jene, die in staatliche Reformpolitik gegossen wurden - grundsätzlich reformistisch und mit vielen Illusionen verbunden. Doch die Kritik an ihnen ist überwiegend reaktionär und lenkt von den systembedingten Ursachen der Bildungsmisere ab.

Nicht die 68er, sondern soziale Verschlechterungen durch Massenarbeitslosigkeit, Hartz IV oder Reallohnsenkungen, die Verelendung und soziale Degeneration immer größerer Teile des Proletariats und von Teilen der unteren Mittelschicht sind die eine Seite des Problems; die andere sind Unterfinanzierung, zu große Klassen, zu wenig Lehrer.

Zwischen Elitebildung und Schmalspurstudium

Am deutlichsten wird die neoliberale Umstrukturierung im universitären Sektor. Seit Jahren sinkt die Zahl von Studierenden aus dem proletarischen Milieu. Ein Grund dafür sind die Studiengebühren, die neu eingeführt oder erhöht werden.

Die Universitäten werden immer direkter den Interessen des Kapitals angepasst. Einzelne Studiengänge werden direkt von Großunternehmen finanziert. Sie bestimmen Lehrinhalte und Professoren. Viele StudentInnen arbeiten im Rahmen von Praktika als „Werkstudenten“ in Unternehmen. Dabei werden sie in der Regel deutlich schlechter bezahlt als „Normalbeschäftigte“, Tarifregelungen gelten für sie nicht oder nur teilweise und die Konzerne sparen so Lohnkosten ein.

Die Einführung der Bachelor-Studiengänge verweist auf den Trend, das Studium kostengünstig zusammen zu schrumpfen. Die „traditionelle,“ stärker fachübergreifende oder „humanistische“ Bildungsvorstellung wird dabei Richtung „Fachidiotismus“, d.h. zugunsten der bornierten Kapitalinteressen verschoben.

Die Studierenden werden durch verschiedene Methoden (z.B. Maluspunktsystem) gezwungen, ihr Studium möglichst schnell zu absolvieren, die Konkurrenz und damit die Auslese werden gesteigert.

Widersprüche

Diese „Reformen“ ändern natürlich nichts an den Grundstrukturen von Bildung im Kapitalismus. Sie unterminieren aber tendenziell die Bildungschancen für das Proletariat und bürden den Lohnabhängigen immer mehr finanzielle Lasten auf.

Doch auch das Kapital ist über die Details von Reformen gespalten und „leidet“ teils selbst darunter. So sollen einerseits Kosten im Bildungssystem minimiert und Elitebildung gefördert werden. Andererseits beklagt man Mängel im Bildungsniveau von Schulabgängern. In einigen Berufen fehlen Fachkräfte, in anderen gibt es einen Überschuss. Einige „Experten“ konstatieren zu viele Studierende, andere befürchten einen Absolventenmangel.

Diese Widersprüche resultieren jedoch nicht hauptsächlich aus einem schlecht organisierten Bildungswesen, sondern aus der anarchischen Struktur der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die eine sinnvolle Planung von Bildung permanent unterminiert und der Unberechenbarkeit von Krisen, Aufschwüngen und Marktveränderungen unterwirft.

So ist Bildung im Kapitalismus einerseits immer dadurch geprägt, dass Bildungspotential ungenutzt, ja blockiert wird; dass menschliche Kreativität und Produktivität massenhaft ungenutzt bleiben und unterdrückt werden. Andererseits werden Ressourcen vergeudet oder für destruktive Zwecke genutzt. Der arbeitslose Informatiker, der Taxi fährt, ist ein Beispiel dafür, ein Hochbegabter, der in der Sahelzone verhungert, ein anderes.

Alternative

Schon immer waren Fortschritte im Bildungswesen im Klassenkampf von der Arbeiterbewegung und von radikalen Jugendbewegungen erkämpft worden. Der Mai 1968 in Frankreich, als Studierende und ArbeiterInnen gemeinsam kämpften, ist ein historisches Beispiel dafür. Die koordinierten Massenproteste von Gewerkschaften, StudentInnen und SchülerInnen im letzten Jahr in Frankreich sind ein aktueller Beleg dafür.

Immer war es ein Anliegen der Arbeiterklasse, Bildungsschranken einzureißen, für die Trennung von Schule und Kirche und konkrete Verbesserungen einzutreten. In diesem Sinne muss die Bildungsdebatte den Bürgerlichen entrissen und von der Arbeiterbewegung und der Linken geführt werden!

Da Bildung jeden Menschen angeht, ein erheblicher Teil des Lebens mit Lernen verbracht wird und die Reproduktion der ArbeiterInnen sowie die Kosten dafür von zentraler Bedeutung sind, müssen Gewerkschaften, SchülerInnen, Azubis und Studierende und die Linke gemeinsam gegen die neoliberalen Bildungs-Reformen kämpfen.

Dabei helfen Illusionen, wie die nach einer „guten Bildung“ oder „Bildung ist keine Ware,“ wie sie in der Linken üblich sind, wenig. Einerseits richten sie sich gegen Verschlechterungen im Bildungswesen; andererseits sind sie aber auch oft mit falschen Vorstellungen verbunden.

So ist Bildung eben nicht unabhängig von Klasseninteressen und kann es auch gar nicht sein. Bildung ist Teil des gesamten Produktions- und Reproduktionsprozesses im Kapitalismus. Daher dient das Bildungswesen immer auch der Klassenherrschaft der Bourgeoisie.

Bildung hat oft genug selbst direkt Warencharakter und geht in den Wert der Ware Arbeitskraft ein. Selbst wenn die Arbeiterbewegung das Bildungswesen in ihrem Sinne beeinflusst und einige der von Kapital und Staat eingebauten „Schranken“ einreißt, ist Bildung nicht einfach „gut“, sondern immer noch bürgerliche Bildung.

Ein gänzlich anderes Bildungswesen ist erst nach dem Sturz des Kapitalismus möglich. Erst, wenn die alte Arbeitsteilung der bürgerlichen Gesellschaft, erst wenn die soziale Ungleichheit überwunden und ein Rätesystem anstelle des büregrlichen Staates tritt, kann es ein „Bildungswesen“ geben, das allen Gesellschaftsmitgliedern gleiche Chancen bietet, die eigene Individualität voll zu entwickeln. Dann tritt an „die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft (...) eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. (Marx/Engels: Kommunistisches Manifest)

Die revolutionäre Arbeiterbewegung hat von Beginn an die Frage der Kontrolle über das Bildungssystem ins Zentrum gestellt. Nicht Kirche, Kapital oder staatliche Bildungsbürokratie, sondern Lernende, Lehrende und die Arbeiterbewegung müssen um die Kontrolle über das Bildungssystem und dessen Inhalte kämpfen.

Zweitens wurde schon sehr früh die Frage des gesellschaftlichen Charakters von Bildung und Ausbildung in den Mittelpunkt gestellt, also die Forderung nach Überwindung der Trennung von Lernen und Arbeiten, sprich die Forderung nach eine polytechnischen Bildung und Ausbildung betont.

Die Kontrolle durch die Arbeiterbewegung sowie die Forderung nach einer allgemeinen polytechnischen Schule sind letztlich mit dem kapitalistischen System unvereinbar, weil „Bildung“, d.h. die Aneignung für die Reproduktion der Klassen notwendigen Bildungs- und Ausbildungsinhalte, immer privat, als Moment der Reproduktion der Ware Arbeitskraft, organisiert werden muss und daher nie bewusst gesellschaftlich organisiert sein kann.

Es sind daher gerade solche Übergangsforderungen, die mit den unmittelbaren Forderungen gegen Angriffe oder für Verbesserungen des Bildungssystems verbunden werden müssen, um die Kontrolle über den Bildungs- und Ausbildungssektor der herrschenden Klasse zu entreißen.

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Nr. 129, Mai 2008
*  Erster Mai 2008: Gegen kapitalistische Krise, imperialistische Besatzung und Krieg!
*  Nach dem ver.di-Abschluss: Verhinderter Kampf
*  Post: Streik ist nötig!
*  KurdInnen in der BRD: Weg mit dem PKK-Verbot!
*  Bildung im Kapitalismus: Wa(h)re Bildung
*  Weltwirtschaft: Von der Immobilienblase zur Bankenkrise
*  Heile Welt
*  US-Wahlen: Das Obama-Phänomen
*  Frankreich: Die LCR und die neue antikapitalistische Partei
*  Frankreich, Mai 68: Alles war möglich