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Das Programm der neuen Regierung

Merkel macht mobil

Rex Rotmann, Neue Internationale 105, November 2005

Die Spekulationen um Koalition und Kanzler sind vorbei: die Große Koalition steht. Ein Kabinett aus Union und FDP wäre zwar die vom Kapital bevorzugte Konstellation gewesen, um den Generalangriff auf die Arbeiterklasse, auf Arbeitslose, Rentner und Jugendliche, auf soziale und tarifliche Standards weiterzuführen und noch zu verschärfen.

Die Bildung einer Großen Koalition ist aber  in der aktuellen Kräftekonstellation für das Kapital notwendig und sicher gegenüber „Experimenten“ wie der Jamaica-Koalition bevorzugt, da am 18. September die plebiszitäre Rückendeckung für den neoliberalen Angriff ausblieb. Sie hat den Zweck, die vom Monopolkapital für seine imperialistischen Ambitionen benötigte Politik des Generalangriffs durchzuziehen. Die Vorteile der Großen Koalition für diese Aufgaben sind offenkundig:

Ruhigstellung und Integration der Gewerkschaften durch die SPD, während die FDP als „marktradikale“ Pressuregroup als „noch schlimmere“ Alternative zur großen Koalition präsentiert wird. In den Gewerkschaften ist außerdem damit zu rechnen, dass der Funktionärskörper wieder auf SPD-Unterstützung oder jedenfalls auf Unterlassen offener Kritik eingeschworen werden soll.

Die grundsätzliche Kontinuität der EU-Politik, die Fortführung eines strategischen Bündnisses mit Frankreich sowie der Russland- und China-Politik werden so gewährleistet. Im Wesentlichen ist eine Fortsetzung der Politik von Schröder und Fischer (wenn auch mit eine paar „freundlicheren Tönen“ gegenüber den USA) zu erwarten. In der Türkei-Politik wird die CDU/CSU langsam auf SPD-Linie umschwenken, dass diese auch vom Großkapital bevorzugt wird.

Große Koalition - kleineres Übel?

Viele „linkere“ Kommentare betonen zu Recht, dass es ein Erfolg war, Schwarz/Gelb zu verhindern. Im Wahlerfolg der Linkspartei drückt sich die Erwartung von Millionen aus, eine politische Gegenkraft zum neoliberalen Mainstream zu etablieren und eine starke, bundesweit verankerte linke Partei aufzubauen.

Der besonders hohe Stimmenanteil für die Linkspartei bei ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und bei Arbeitslosen zeigt, dass es ein reales Potential für den Aufbau einer Arbeiterpartei, einer Partei des Klassenkampfes gibt.

Doch im Taumel des Wahlerfolgs schütten einige Leute gleich das Kind mit dem Bade aus. So meinten Gysi, Lafontaine und etliche Gewerkschaftsbürokraten unisono, dass allein schon der Wahlerfolg der Linken ein „Abrücken“ der SPD und der Union von ihren ärgsten Vorhaben bewirkt hätte. Doch diese Entwarnungen sind völlig fehl man Platz! Warum?

Die Neuwahl fand ja v.a. deshalb statt, um eine schlagkräftigere Regierung für weitere massive Angriffe zu haben, die zudem noch mit neuen „demokratischen Weihen“ versehen ist. Es liegt auf der Hand, dass das Kapital entschlossen ist, seinen Crashkurs weiter zu verfolgen. Dazu ist es auch gezwungen, wenn die EU unter deutscher Führung zur Wirtschaftsmacht Nr. 1 in der Welt werden soll.

Doch bei allen bisherigen Reform-Erfolgen: die stärkste Kraft, die diesem Ziel noch im Wege steht - die organisierte Arbeiterklasse - ist noch nicht geschlagen! Ob Merkel und Stoiber in der Lage sind, wie einst Thatcher und Reagan, die Arbeiterklasse entscheidend zu treffen, ja ihr eine strategische Niederlage zuzufügen, wird sich noch zeigen.

Aus den Beschwichtigungen der reformistischen Spitzen spricht aber nicht nur ein Missverständnis der Klassenkampfsituation - in ihnen äußert sich v.a. auch der Unwille, zu kämpfen. Wenn ihre Einschätzung, dass der Gegner „angeschlagen“ ist, stimmen würde, dann wäre es doch umso notwendiger und umso leichter, ihn energisch zu attackieren!?

Fatale Fehleinschätzung

Wirklich fatal ist es aber, wenn sogar Teile der „radikalen“ Linken glauben, dass die Große Koalition nur ein zahnloser Tiger wäre, wie etwa Angela Klein in der Oktoberausgabe der SoZ meint: „Der forcierte Kurs in den Wildwestkapitalismus ist erst einmal gestoppt: aus der Abschaffung von Kündigungsschutz und Flächentarif, der Kopfpauschale in der Gesundheit, der Mehrwertsteuererhöhung und dem Kirchhofschen Steuermodell wird so schnell nichts werden. Was die Unternehmer als »Reformstillstand« beklagen, ist für Gewerkschaften und soziale Bewegungen eine notwendige Atempause, um sich neu aufzustellen und außerparlamentarisch an Kampfkraft zu gewinnen.“

Welche Fehleinschätzung! Ein Blick auf die riesige Diskrepanz zwischen den imperialistischen Ambitionen der deutschen Kapitalisten und den niedrigen Wachstumsraten, den permanent verletzten Maastricht-Kriterien und dem militärischen Rückstand zu den USA erhellt, wie groß der Handlungsdruck auf das Kapital und deren politischen Agenturen ist. Deutschland als stärkster EU-Macht kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Wenn die SoZ-Autorin vielleicht auch eine Denkpause eingelegt hat, die deutsche Bourgeoisie kann sich eine Reformpause nicht leisten!

Wie wenig das deutsche Kapital an eine „Atempause“ denkt, führt die Großindustrie mit massivem Personalabbau, Lohnsenkungen, Flexibilisierung usw. vor!

Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Merkel-Regierung eine „Anlaufphase“ braucht. Das gegenwärtige leichte Wirtschaftswachstum wird die Bourgeoisie möglicherweise dazu bewegen, den ganz großen Knüppel noch nicht sofort rauszuholen. Doch so lange, wie Rot/Grün bis zur Verkündung ihrer verschärften neoliberalen Offensive in Form der Agenda 2010 gebraucht hat, wird die Merkel-Koalition gewiss nicht warten wollen - und nicht warten können! Dafür machen die Vertreter der Unternehmer-Verbände jeden Tag Druck. Sie verkünden, dass es eine „Reformpause“, ein „Herumdoktern an Symptomen“ usw. nicht geben dürfe. Jetzt soll es ans „Eingemachte“ gehen!

Eine neue Agenda?

Ein wichtiges Element von Merkels Regierungspolitik wird die Weiterführung und Umsetzung zentraler Elemente der Agenda 2010 sein: Sparprogramme, Sozialabbau, Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Rentenreform, aggressivere Militär- und Sicherheitspolitik usw. Darüber gibt es wenig Streit zwischen SPD und Union. Immerhin sind alle zentralen Reformvorhaben von Rot/Grün im Kern schon bisher immer mit Zustimmung der Unionsparteien im Bundestag bzw. im Bundesrat beschlossen worden.

Doch der Schrödersche Reformkurs hat zwei große Haken. Erstens ist man bei der „Sanierung“ der Sozialkassen und beim Abbau der Staatsverschuldung kaum wirklich voran gekommen. Zweitens betrafen die Angriffe auf dem Arbeitsmarkt bisher überwiegend und direkt die „Randschichten“ der Klasse, v.a. die Arbeitslosen, auch wenn eine wichtiger Effekt das drastische Anwachsen von Billigjobs, Leiharbeit, befristeten und anderen prekären Arbeitsverhältnissen in den letzten Jahren war.

Doch wenn der deutsche Imperialismus seinen Zielen ein erhebliches Stück näher kommen will, so muss er nicht nur seine Staatsfinanzen in Ordnung bringen, um den EU-Stabilitätspakt einzuhalten. Er muss erhebliche Mittel freimachen, um zentrale Projekte des europäischen Imperialismus umsetzen zu können, so z.B. den Umbau der Streitkräfte in global handlungsfähige Interventionstruppen, das Aufholen des rüstungstechnischen Rückstands zu den USA oder die Förderung von kapitalrelevanten Bereichen von Bildung und Forschung. Insofern werden rigide Sparprogramme fast alle Bereiche des Haushalts betreffen.

Die rot/grünen Arbeitsmarktreformen haben zwar dafür gesorgt, dass die Leistungen für viele Arbeitslose gesenkt wurden - die Ausgaben des Staates in diesem Bereich, z.B. für das ALG II, sind allerdings sogar gestiegen! Zudem ist der Spareffekt für die Große Koalition, etwa bei einer weiteren Kürzung des ALG II, begrenzt. Wirklich was zu holen gibt es - nicht nur für den Staat, sondern v.a. auch direkt für die Kapitalisten - nur, wenn die dutzenden Millionen Beschäftigten massiv angegriffen werden.

Die Schröder-Regierung hat ein riesiges, flexibel einsetzbares Heer von Lohndrückern geschaffen. In „Kooperation“ mit den Spitzen der Gewerkschaften und den Betriebsratsfürsten wurden die Flächentarife weiter ausgehöhlt und durch eine Vielzahl betrieblicher „Bündnisse zur Standortsicherung“ ausgehebelt. Ein immer größerer Teil der Beschäftigten in ausgegliederten und Randbereichen der großen Unternehmen und umso mehr in kleinen und mittleren Betrieben arbeiten in relativ ungeschützten, flexibilisierten und Teilzeitjobs. Doch auch die Stammbelegschaften großer Konzerne wie Opel oder DaimlerCrysler mussten erhebliche Zugeständnisse bei Arbeitszeiten und Löhnen hinnehmen, nachdem ihre Abwehrkämpfe von Gewerkschafts- und Betriebsratsbürokratie ausverkauft worden sind.

Doch diese „Erfolge“ reichen den Kapitalisten längst nicht aus! Sie wollen und brauchen einen wirklichen Durchbruch in zentralen Fragen: Kündigungsschutz, Arbeitszeit, Lohn. Parallel dazu muss die Abwehrkraft der Gewerkschaften gebrochen oder zumindest minimiert werden.

Eine neue Offensive

Die Konturen des Regierungsprogramms werden immer deutlicher. Angesichts des riesigen Haushaltsdefizits und der mehrfach verfehlten Maastrichtkriterien wird derzeit ein Sparprogramm erarbeitet, das es in sich hat. Bis 2007 sollen ca. 35 Milliarden eingespart werden, um die Staatsverschuldung abzubauen! Geplant sind „Kürzungen in (fast) allen Bereichen“ u.a. die Streichung der „Eigenheimförderung“ und die beitragsfreie Kranken(mit)versicherung für EhepartnerInnen. Weitere Verschlechterungen sind in den Bereichen Gesundheit und Renten zu erwarten. Die nächste Nullrunde für RentnerInnen steht schon fest, für die „Zukunft“ ist eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 geplant.

Die angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer wird zwar noch diskutiert, wird aber früher oder später von der Regierung in Angriff genommen werden, was eine weitere Schröpfung der „kleinen Leute“ bedeuten würde. Daneben ist von einer Anhebung des Solidarzuschlages oder der Einführung einer „Haushaltssanierungsabgabe“ die Rede. Unterm Strich stellen diese Sparprogramme eine Verschärfung dessen dar, was sich diesbezüglich Rot/Grün „getraut“ hat.

Für die deutsche Bourgeoisie geht es freilich v.a. darum, ihre Konkurrenzfähigkeit und ihre Profitraten zu erhöhen. So erfolgreich sie beim Umbau ihrer Unternehmen Richtung shareholder value, Profitcenter, Zukäufen usw. auch waren - die erheblichen „Reste“ der Sozialpartnerschaft (Tarifregelungen, Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Mitbestimmung der Betriebsräte usw.) schränken ihre „unternehmerische Freiheit“ immer noch ein.

Über Jahrzehnte waren die Flächentarife ja durchaus nützlich, um kleinere Kapitale über die ihnen aufgezwungenen relativ hohen Tarif-Löhne zu ruinieren und sie zu Rationalisierungen zu zwingen. Auch die per Mitbestimmung erreichte sehr niedrige Zahl von Streiks war für die Kapitalisten ohne Zweifel sehr angenehm. Doch in den bewegteren und härteren Zeiten der Globalisierung und unter dem Druck von enormen Überkapazitäten und Kapitalkosten (steigender Anteil von Fixkapital, Kredite, cash flow) braucht die Bourgeoisie mehr Bewegungsfreiheit in jeder Hinsicht.

Insofern will und muss die neue Regierung auf diesem Gebiet aktiv werden. So wird auf Vorschlag der Kapitalverbände derzeit diskutiert, ob der bisherige Kündigungsschutz durch eine andere Regelung ersetzt wird. Diese sieht vor, dass Neueingestellte zwischen Kündigungsschutz oder Abfindungszahlung bei Entlassung „wählen“ können. Diese Regelung bedeutet in der Praxis - vor dem Hintergrund von 5 Millionen Arbeitslosen und erhöhtem Zwang, jeden Billig-Job annehmen zu müssen - nicht nur teils erheblichen Einkommensverlust für die Betroffenen. Er individualisiert und spaltet zugleich die Belegschaften und untergräbt deren Abwehrkraft.

Außenpolitisch wird es kaum Überraschungen geben. Die „atmosphärischen Störungen“ zu den USA werden mit Merkels Hilfe entspannt werden. In der Türkeipolitik wird sich die auf schnellere Einbindung der Türkei in die EU gerichtete SPD-Linie durchsetzen.

Wie die militaristischen Inszenierungen der Zapfenstreiche zeigen, wird auch am rot/grünen Kurs des weiteren Umbaus der Bundeswehr zu einer - v.a. im Rahmen von EU-Eingreiftruppen - global einsatzfähigen Truppe festgehalten. Auch an der Etablierung „europäischer“ Rüstungskonzerne, die weltweit konkurrenzfähig sind und den militärtechnischen Rückstand zu den USA aufholen können, wird gearbeitet. Die Entwicklung von EADS/Airbus oder die stolz verkündete technologische Spitzenstellung Deutschlands bei konventionellen U-Booten sind Beispiele dafür.

Dieser „Krieg nach Außen“ wird ergänzt durch einen verschärften Kurs gegen demokratische Rechte (Demonstrations- und Versammlungsrecht, Überwachung) und Repressionen gegen Linke und „Terroristen“, wie zahlreiche Episoden der letzten Monate zeigen.

Alles in allem werden SPD, CDU und CSU ihre bisherigen taktischen Differenzen (z.B. Umwelt- und Atompolitik, Mehrwertsteuer) recht bald lösen und sich den wesentlichen Fragen zuwenden: Sanierung des Haushalts, Weiterführung des neoliberalen Umbaus der Sozialsysteme, weitere Aushöhlung des Tarifsystems und der Mitbestimmung zur Senkung der Lohnkosten.

Im Zentrum der Regierungspolitik und Grundlage all ihrer Vorhaben ist es aber, die Arbeiterklasse in ihrer Kampffähigkeit entscheidend zu schwächen, ihr eine strategische Niederlage zuzufügen, so dass der deutsche Imperialismus im Inneren den Rücken frei hat!

Arbeiterpartei!

Das bedeutet nicht nur Verschlechterung sozialer Rechte, von Arbeitsbedingungen usw., sondern natürlich auch, den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen eine sichtbare, offene Niederlage zuzufügen, um die Gewerkschaften als potentiell mächtige Interessenvertretungen der Lohnabhängigen als ohnmächtig und die sozialen Bewegungen als isoliert und marginalisiert vorzuführen.

Daher heißt das Gebot der Stunde, jetzt den gemeinsamen Abwehrkampf gegen die Offensive vorzubereiten! Die Erfahrung seit Verkündung der Agenda 2010 zeigt, dass wir mehr als Proteste und Bewegungen brauchen, dass wir eine politische Strategie, eine politische Organisation, eine neue Arbeiterpartei brauchen, die sich auf die Basis in den Betrieben, auf die Erwerbslosen, auf die Montagsdemos, auf die sozialen Bewegungen stützt und diesen eine Perspektive weist.

Eine solche Perspektive muss freilich mehr sein als ein Abklatsch der keynesianischen Politik der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie, sie muss mehr sein als ein Zusammenschluss von PDS und WASG. Sie muss eine Partei des Kampfes, der Mobilisierung und nicht nur eine Wahlkampfmaschine sein. Es muss eine neue Arbeiterpartei aufgebaut werden, die gegen den Angriff des Kapitals und für den Sturz des Kapitalismus kämpft.

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Nr. 105, November 2005

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