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Slowakei

Hungeraufstand der Roma

Pavel Sanda (Socialisticka Organizace Pracujich)
Neue Internationale 88, März 2004

Drastische Kürzungen der Sozialhilfe brachten das Fass zum Überlaufen: die verarmte Bevölkerung setzte sich zur Wehr.

Am 18. Februar griffen 80 Roma einen Billa-Supermarkt (Teil des deutschen REWE-Konzerns) in der ost-slowkischen Stadt Levoca an, um sich Lebensmittel zu besorgen. Die Aktionen weiteten sich rasch auf andere Städte der Region aus, so auf Hucin, Sivenice, Calkov, Trebisov, Trhovice und Kamenany. Neben den Roma beteiligten sich auch verarmte SlowakInnen an diesem "Einkauf ohne Geld".

In Trebisov kam es zum Zusammenstoß von rund 400 Jugendlichen mit der Polizei, welche die "Diebe" einsperren sollte. 126 wurden festgenommen, 55 ins Gefängnis gesteckt. Wie kam es zu dieser sozialen Explosion?

Hintergrund

Seit Jahren führt die Regierung Dzurinda in der Slowakei eine brutale neoliberale Offensive durch, die ihr viel Lob von Seiten der EU und westlicher Konzerne (z.B. von VW, dem größten Investor in der Slowakei) einbrachte. Die Regierung wird nicht müde, die "Verbesserungen" für das internationale Kapital und die slowakische Ober- und Mittelschicht zu loben.

Die Kehrseiten der neoliberalen Attacken sind drastische Verarmung und steigende Massenarbeitslosigkeit. Das trifft die Roma besonders hart. Die massive rassistische Unterdrückung und staatlicher Diskriminierung gehen damit einher, dass diese Minderheit von der sozialen Verelendung besonders betroffen ist. Viele Unternehmer weigern sich, "Zigeuner" einzustellen. Von den rund 400.000 Roma sind 90% erwerbslos.

In der Ost-Slowakei ist die Lage besonders krass. Hunderttausende Arbeitslose und deren Familien (Roma, aber auch viele SlowakInnen) sind gänzlich von staatlicher Sozialhilfe abhängig, die schon bisher alles andere als ausreichend war. Rund 10 % der Bevölkerung müssen schon jetzt mit weniger als 5 Euro auskommen - pro Tag!! Da das Geld oft zum Überleben nicht reicht, haben sich viele Arme, v.a. Roma, bei mafia-ähnlichen Kredithaien zusätzlich verschulden müssen.

Trotz dieser dramatischen Situation kürzte die Regierung die Sozialhilfeleistungen noch einmal drastisch. Bislang erhielten Sozialhilfeempfänger auch für mitversorgende Familienangehörigen (Kinder, Jugendliche, Partner) Geld. Das wurde jetzt gestrichen. Für die Roma bedeutet das im Durchschnitt etwa die Halbierung der bisherigen Sozialhilfe!

Die Hungeraufstände im Osten der Slowakei waren die Antwort auf diese unverschämte Attacke.

Die Reaktion der Regierung

Die Regierung und die bürgerlichen Parteien antworteten mit Zynismus, Repression und Diffamierung.

"Hart", so der slowakische Sozialminister Ludovit Kanik, wären die Kürzungen "für jene Menschen, die nur passiv auf Sozialleistungen warten". Verarmung und Hunger dienten also nur als "Motivationsanreiz" für die "Unwilligen", die es in Regionen mit bis zu 50% Arbeitslosigkeit partout nicht schaffen, einen Job zu finden. Selbst der slowakische Präsident Schuster fand die Politik der Regierung "unsensibel". Geändert hat diese leere Geste freilich nichts.

Der Staat hat 2100 zusätzliche Polizisten und 1000 Soldaten in die Ost- und Mittelslowakei geschickt. Die Roma-Wohngebiete wurden in vielen Fällen abgeriegelt. Vor den Supermärkten sind nun Polizeieinheiten stationiert. Auf der "Suche nach Kriminellen" bricht die Polizei in Wohnungen ein und misshandelt die Bevölkerung.

Rassistische Hetze

Die Repression ist gleichzeitig von einer rassistischen Welle in den Medien und seitens des Parlaments begleitet. Im Fernsehen wird den Arbeitslosen und v.a. den Roma unterstellt, sie hätten in den Supermärkten nur Alkohol und Zigaretten gestohlen. Die Aktionen wären nur von mafiosen Kredithaien inszeniert worden, die fürchteten, dass die Roma ihre Schulden nach der Kürzung der Sozialhilfe nicht mehr zurückzahlen könnten.

Die Tageszeitung SME setzt noch eins drauf: Sie kritisierte den Polizeieinsatz, weil dieser zu spät gekommen und zu "weich" gewesen wäre.

Die rechtspopulistische Opposition im Parlament schlug in dieselbe Kerbe. Die Regierung wäre "inaktiv" gewesen und hätte die "Kriminellen" nicht rechtzeitig bekämpft. So erklärte der notorische Rassist und Chef der rechts-populistischen Partei SMER, Robert Fico, dass es kein Wunder wäre, wenn nunmehr "das Volk das Recht in die eigenen Hände nähme und mit den Roma abrechnen würde".

Damit wird nicht nur die Repression gegen die Roma gerechtfertigt. Vor allem wird der Rassismus genutzt, um die Spaltung zwischen den Roma und den slowakischen Erwerbslosen und ArbeiterInnen zu vertiefen.

Was wollen die Menschen?

Diese rassistische Linie ist kein Zufall. Die "Einkäufe ohne Geld" waren eine erste, Massenaktion der unterdrücktesten Schichten der slowakischen Gesellschaft, der großen Masse proletarischer und verelendeter Roma.

Die Aktion richtete sich gegen die Regierung und gegen die großen Unternehmen (Billa etc.). Bei den Plünderungen in den Supermärkten wurde kein Mensch physisch attackiert. In vielen Fällen beteiligten sich auch verarmte SlowakInnen an den Aktionen.

Die wichtigsten Forderungen waren die nach Rücknahme der Kürzungen und jene nach mehr Jobs. So sagte ein junger Roma in Trhoviste: "Wir haben keine andere Wahl. Unserer Kinder sind am Verhungern. Wir wollen keine Almosen, wir wollen Arbeit."

Für die nächsten Tage sind Proteste der Roma in Humenne und Spisska Nova Ves geplant.

Die Führungen der landesweiten Roma-Organisationen spielen jedoch eine klägliche Rolle. Sie verurteilten die Plünderungen, statt den Aufstand zu verteidigen. Sie sagten einen landesweiten Aktionstag, der am 25. Februar stattfinden sollte, ab.

Der Grund für diese Politik ist auch darin zu sehen, dass die Vorstände und offiziellen VertreterInnen der Roma der kleinen Intellektuellen -und Mittelschicht angehören und von den Lebensbedingungen der großen Masse ihrer Nationalität weit entfernt sind.

Die weiteren Aktionen dürfen nicht einfach von dieser Gruppe abgehobener und mit dem staatlichen Establishment verbundener "Führer" bestimmt werden! Notwendig ist es vielmehr, dass Massenversammlungen der Roma über die weitere Vorgangsweise bestimmen und ihnen verantwortliche und rechenschaftspflichtige Aktionskomitees wählen, die den Kampf gegen Hunger und Repression koordinieren.

Der Kampf muss in die westlichen Regionen der Slowakei ausgedehnt werden. Die ArbeiterInnen und Arbeitslosen anderer Regionen müssen dafür gewonnen werden, die Aufständischen gegen die Repression zu unterstützen und eine gemeinsame Front zum Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Verarmung zu bilden. Schlüsselforderungen sind dabei:

Nein zur Unterdrückung der Roma! Sofortige Freilassung aller Gefangenen, Niederschlagung aller Verfahren! Abzug der Polizei und der Armee!

Sofortige Rücknahme der Kürzungen! Für ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten!

Für einen staatlichen Mindestlohn und ein Mindesteinkommen für alle Erwerbslosen, deren Höhe von den Gewerkschaften und Roma-Komitees festgelegt werden!

Diese Maßnahmen können finanziert werden - indem die Profiteure der Regierung Dzurinda zur Kasse gebeten werden - durch die Besteuerung der Reichen und großen Vermögensbesitzer, die Streichung der Auslandsschulden und die entschädigungslose Enteignung der ausländischen und slowakischen privaten Großkonzerne- und Banken.

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Nr. 88, März 2004

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* Slowakei: Hungeraufstand der Roma
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