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Referendum in Britannien

Was steht auf dem Spiel?

Dave Stockton, Neue Internationale 206, April 2016

David Cameron kehrte im Februar vom EU-Gipfel in Brüssel mit einer Abmachung zurück, von der er behauptete, sie sichere den Verbleib Großbritanniens in der EU und beeilte sich, das Datum des Referendums zu verkünden, den 23. Juni 2016. Der Wortlaut des Referendums ist: „Sollte das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben?“

Das Referendum enthält keine Referenzen auf Camerons Bedingungen und in der Tat wussten beide Fraktionen der EU-Frage, beide geführt von Strömungen innerhalb seiner eigenen Partei, bereits sehr genau, auf welcher Seite sie standen. Die „Gewinne“ ändern nichts an der EU oder Großbritanniens Position innerhalb dieser.

Was Cameron mit der Abmachung gewonnen hat, war gänzlich reaktionär, beispielsweise die Begrenzung von Sozialleistungen für Erwerbstätige und der Zahlungen an Familienangehörige von EU-Migranten. Des Weiteren beweist eine ganze Reihe gut informierter Berichte, dass wir nicht an Sozialtourismus leiden oder die Bauarbeiter nicht wegen der polnischen Konkurrenz in der Arbeitslosigkeit verharren, denn Großbritannien braucht dringend Arbeitskräfte: ArbeiterInnen, die den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) aufrechterhalten oder die den dringend benötigten sozialen Wohnungsbau ermöglichen.

Warum das Referendum?

Das Referendum ist der Versuch, Cameron und Osborne vom Druck der Euroskeptiker innerhalb ihrer eigenen Partei und der Bedrohung durch die UKIP zu befreien. Obwohl die Tories die Partei des britischen Finanzkapitals sind, benötigen sie die Unterstützung der sozialkonservativen und reaktionären Mittelschicht und ArbeiterInnen ohne Klassenbewusstsein, um die Wahlen zu gewinnen.

Aber die soziale Basis der Tories ist weit davon entfernt, mit der Politik, die Cameron und Co. über die letzten fünf Jahre betrieben haben, einverstanden zu sein. Unfähig die Wurzel des Problems zu erkennen oder die Verantwortlichen zu bekämpfen - also die Bosse, die sich in der Krise gewaltig bereichert haben - wendet sie sich gegen die Flüchtlinge und MigrantInnen oder die Prekarisierten, die ihre Sozialleistungen nicht „verdienten“, als ob gerade diese für stagnierende Löhne, schwindende Renten und „zu hohe Steuern” verantwortlich wären.

Die Boulevardblätter, die einer kleinen Clique von Milliardären wie Murdoch, Rothermere und Desmond gehören, pumpen die tägliche Dosis Chauvinismus, Rassismus und Euroskeptizismus in die Venen der Bevölkerung, um deren Hass zu schüren. Dank der unzähligen Geschichten über „Horden” von AsylantInnen und Bedrohungen durch muslimische Terroristen wird die Referendumskampagne ein Karneval der Reaktion sein, der auf Lügen und groben Fehlinterpretationen basiert.

Europäischer Superstaat

Was auch immer die Euroskeptiker am rechten Rand behaupten, die EU-Mitgliedsstaaten - oder präziser: Deutschland, Frankreich und Großbritannien - bleiben das Zentrum der Macht. Dies erklärt die ungleiche und undemokratische Natur der EU.

Trotz des Euros und der Europäischen Zentralbank, trotz des gemeinsamen Marktes, trotz der Europäischen Gerichtshöfe für Gerechtigkeit und Menschenrechte sowie einer Reihe von sozialen Initiativen und Regulierungen ist die EU kein Bundesstaat wie die USA. Die Wahl des europäischen Parlaments hat kaum oder überhaupt keine Auswirkungen auf die Politik der Europäischen Kommission (die EU-Bürokratie) und den Rat der Europäischen Union (die nationalen Regierungsspitzen).

Was wollen die britischen Bosse eigentlich? Mit einem Wort: sie wollen ein Europa à la carte. Im Juni 2015, als Cameron die Referendums-Kampagne startete, definierte er die Ziele Großbritanniens folgendermaßen: „Wir werden den gemeinsamen Markt wieder zum Kernstück unserer Mitgliedschaft machen und uns aus der Tretmühle immer engerer Mitgliedschaft befreien, werden die Migration aus dem Rest der EU und Großbritanniens Stellung im gemeinsamen Markt thematisieren.”

Großbritannien besitzt bereits in hohem Maße, was Cameron zynisch als „die beste beider Welten” bezeichnet. Es hat beispielsweise zahlreiche Ausstiegsklauseln aus dem Schengen-Abkommen, aus der europäischen Sozialcharta, insofern diese das britische Arbeitsrecht betrifft.

Zusammen mit der Nicht-Mitgliedschaft im Euro kann Großbritannien dies nutzen, um eine so große oder so kleine Rolle in der EU zu spielen, wie es den Milliardären in Londons Finanzzentrum beliebt. Derzeit sind Deutschland und Frankreich damit noch einverstanden, weil damit beschäftigt, die EU zusammenzuhalten.

Was all das bedeutet, ist recht eindeutig: Ja zu offenen Märkten für britische Finanzdienstleistungen und Investitionen; Nein zur Freizügigkeit von Arbeitskräften (mit Ausnahme der gut ausgebildeten Arbeitskräfte, deren Ausbildung zu finanzieren Englands Bosse nicht willig sind); Nein zur Währungsunion, die eine höhere Steuerlast für die Reichen oder Umverteilung von Ressourcen in die ärmeren Teile Europas bedeuten würde.

Die EU ist also ein Unternehmerverein - aber Großbritannien ist auch ein Firmenclub. Wir können uns von der Dominanz durch die Kapitalisten nicht lösen, indem wir die nationalen Grenzen wieder hochziehen und Zollposten aufstellen oder europäische ArbeiterInnen aus Großbritannien ausschließen. Unser Hauptfeind steht bereits auf unserer Seite des Kanals - unsere Hauptverbündeten auf der anderen, und von denen sollten wir uns nicht abgrenzen!

Aber warum sollte man für einen Verbleib in der EU stimmen? Nicht als eine Billigung der EU, wie sie heutzutage ist! Auch nicht aufgrund irgendeines Glaubens, dass sie graduell und friedlich in ein „Soziales Europa“ hinüberreformiert werden könne, wie die meisten Gewerkschaften und linken Parteien argumentieren.

Die Sozialleistungen in der EU sind marginal. Aber ebenso marginal sind die Barrieren der EU für soziale und demokratische Reformen in Großbritannien. Diese Barrieren existieren bereits im britischen Gesetz und den Regierungsinstitutionen. Austritt oder Mitgliedschaft, in jedem Fall wird die ArbeiterInnenklasse hart für die Verteidigung von Errungenschaften, Rechten und Reformen kämpfen müssen.

Warum mit „Ja” stimmen?

Wir sollten gegen „Brexit” stimmen, weil es ein rückwärtsgewandter Schritt gegen die Entwicklung des modernen Kapitalismus ist, seiner Produktionsmittel und seiner Arbeitskräfte, hin zu einem kleineren, fragmentierten und isolierteren Kapitalismus.

Über vier Jahrzehnte haben sich die Produktivkräfte des Kapitals in einem transeuropäischen Rahmen entwickelt. Diese ökonomischen Verbindungen zu lösen oder einzuschränken würde eine kommende Wirtschaftskrise noch verschlimmern. Vor allem aber würde ein Brexit die ArbeiterInnenklasse fragmentieren.

Die Antwort ist nicht, mit der heutigen EU einverstanden zu sein. Die beste Antwort auf die Europhobie der „Nein”-Kampagnen ist die Programmatik eines transformierten, revolutionierten Europas mit offenen Grenzen: Eines Europas, dessen Banken und Betriebe keine Ausbeutung Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens betreiben, sondern bei deren ökonomischer Entwicklung helfen. Nur so müsste niemand mehr sein Leben auf der Flucht riskieren, weil Krieg, Hunger und chronische Armut dazu zwingen.

Wer auch immer das Referendum gewinnt, die Attacken auf Wohlfahrt, staatliche Dienstleistungen, auf die ArbeiterInnenklasse als ganze werden anhalten. Trotz aller Versprechen von demokratischen Reformen, Transparenz und sozialer Integration werden die Attacken auf demokratische Rechte weitergehen. Um dies zu bekämpfen, benötigen wir nicht nur den vagen „immer engeren Zusammenhalt der europäischen Bevölkerung”, wie er im Vertrag von Rom 1957 („Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft”) bzw. seit 2009 („Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union”) versprochen wurde. Wir brauchen einen engeren Zusammenhalt der europäischen ArbeiterInnenklassen.

Keine nationale Souveränität, nationalen Grenzen oder Währungen schützen vor den Mechanismen des internationalen Kapitalismus. Das schafft einzig die Vereinigung der europäischen ArbeiterInnen. Das Ziel dieser Vereinigung muss es sein, die Europäische Union des Kapitals durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu ersetzen.

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Nr. 208, April 2016

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*  Referendum in Britannien: Was auf dem Spiel steht?
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