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Fiskalpakt

Durchmerkeln in der Krise

Markus Lehner, Neue Internationale 171, Juli/August 2012

In der Krise verändern sich politische Strukturen oft in Monaten, wofür es vorher Jahre brauchte. Wer hätte vor einem Jahrzehnt geahnt, dass sich die EU auf eine "Banken- und Fiskalunion" zubewegt und ein deutscher Finanzminister die Einführung einer gemeinsamen europäischen Staatsschuld für unausweichlich hält?

Wenn Merkel davon spricht, dass es zu "Eurobonds" nur über ihre Leiche käme, klingt dies eher wie eine der üblichen Parolen bei Rückzugsgefechten. Trotz dem für die sonst langsame EU-Politik beachtlichen Tempo - angesichts des Ausmaßes der Krise und der zu erwartenden nächsten Eskalationen bleibt die EU-Politik beträchtlich hinter den Notwendigkeiten zurück und die "Märkte" spielen mit ihr "Hase und Igel". Auch der letzte "historische Gipfel" Ende Juni - gefühlt gab es schon an die hundert derart gehypter Events - wird wieder nur kurz Beruhigung bringen.

Dabei scheinen tatsächlich beträchtliche Veränderungen beschlossen worden zu sein. In der FAZ sehen "führende deutsche Wirtschaftswissenschaftler" aufgrund der Gipfelbeschlüsse wieder einmal die Souveränität der deutschen Finanz- und Wirtschaftspolitik in Gefahr, Merkel sei durch Monti und Co. „in die Knie gezwungen worden“.

Was ist geplant?

Zentrales finanzpolitisches Instrument ist der "Europäische Stabilitätsmechanismus" (ESM), der die provisorischen Stützungsmechanismen für Krisenstaaten, die hauptsächlich über die "Europäische Stabilisierungsfaszilität" (ESFS) abgewickelt wurden, ab dem 1. Juli ablösen soll. Der ESM soll über Kredite und Bürgschaften die Zahlungsfähigkeit der EU-Staaten garantieren, wobei die Hilfen des ESM mit der Unterwerfung der Haushaltspolitik unter die Kontrolle der EU-Institutionen verbunden ist.

Dieser Schritt in Richtung "Haftungsunion" sollte mit einer engeren Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik verbunden werden. Auf dem Gipfel im Dezember 2011 wurde dabei ein Vertrag - der "Fiskalpakt" - zur engeren Koordinierung aufgesetzt.

Dieser Pakt verpflichtet zur Einhaltung von Defizitobergrenzen gegenüber der Wirtschaftsleistung eines EU-Landes und sieht entsprechende Eingriffe bzw. bei Verstößen Strafzahlungen durch die EU vor. Seit Dezember hat sich die politische und ökonomische Krise in Griechenland verschärft, die spanischen Banken mussten durch eine ESFS-Maßnahme gerettet werden, die Situation der italienischen Banken hat sich verschlechtert - und es folgten weitere Zuspitzungen in Zypern, Slowenien und Portugal.

Aufgrund der politischen Probleme und der erneut drohenden europäischen Bankenkrise war klar, dass ESM bzw. der Fiskalpakt nicht ohne wesentliche Veränderungen in Kraft treten können. Selbst in Deutschland musste die Unterzeichnung der Verträge verschoben werden, trotz der Eile mit der die Grundsatzentscheidung durch den Bundestag gepeitscht wurde.

Die auf dem letzten Gipfel beschlossenen Veränderungen betreffen v.a. die Bankschulden. Es liegt auf der Hand, dass sich die Euro-Krise in einem endlosen Kreislauf von Banken- und Staatsschuldenkrise bewegt: Staaten müssen ihre "systemrelevanten" Banken über ihre Staatshaushalte retten - dafür müssen sie bei anderen Banken Schulden aufnehmen - die folgende Krise der Rückzahlungsfähigkeit von Staatsschulden durch "Krisenstaaten" bedroht wiederum die Gläubiger-Banken - wodurch letztere dann wieder durch Staatsmaßnahmen gerettet werden müssen usw. usf.

Inzwischen belaufen sich die  Schulden der Banken in den fünf Krisenstaaten auf das Dreifache der Staatsschulden. Angesichts der geschätzten 9 Billionen Euro Bankenschulden in diesen Staaten wird klar, dass die 700 Milliarden des ESM (die zusätzlichen 500 Milliarden des ESFS sind ja schon so gut wie gebunden) bei weitem nicht ausreichen. Das Ausmaß der Bankenschulden und des gegenüber der Wirtschaftsleistung insgesamt total aufgeblähten Finanzvermögens lastet durch die entsprechenden Zinslasten zusätzlich auf den sowieso schon rezessiven oder stagnierenden Volkswirtschaften der EU. Dazu kommen die mit den Pakten und "Rettungsschirmen" verbundenen Sparhaushalte, die etwa ein Prozent Wirtschaftswachstum kosten. Sinkende Profite und Staatseinnahmen führen zur Verschärfung der Schuldentilgungs-Probleme der Banken und Staaten. So steuert die kombinierte Banken- und Haushaltsdefizitkrise auf einen Billionen-Crash zu.

Deshalb wundert es nicht, dass in den letzten Monaten heftig an der Konstruktion von ESM und Koordinierungspakt herumgezerrt wurde. Wesentliche Änderungen betreffen jetzt v.a. die zusätzlich angestrebte "Bankenunion" und ein mit großem Pomp verkündetes "Wachstumsprogramm" über 120 Mrd. Euro. Zusätzlich ist der ESM jetzt ähnlich wie die EZB in der Lage, selbstständig Staatsanleihen von Krisenstaaten zu kaufen.

Die Schritte Richtung "Bankenunion" umfassen einerseits die direkte Kreditvergabe des ESM an Banken in Krisenstaaten (ohne dass diese Staaten unter den "Rettungsschirm"  müssen). Dies ist allerdings gekoppelt an die Einführung einer europäischen Bankenaufsicht, die nach dem Modell bzw. in Abstimmung mit der EZB eingerichtet werden soll. In jedem Fall bedeutet dies einen beträchtlichen Kontrollverlust der schwächeren EU-Staaten über den Bestand und die Politik ihrer "systemrelevanten" Banken. Ihre Regulierung (z.B. Eigenkapitalvorsorge, Kreditlinien) wird künftig stärker von EZB & Co. bestimmt werden - mit allen Folgen für eine eigenständige Wirtschaftspolitik.

Andererseits soll eine europäische Einlagesicherung vor einem "Bankenrun" retten, wenn Gerüchte über den Austritt aus dem Euro zu Massenabhebungen wie jüngst in Griechenland führen. Diese direkte Bankenabsicherung über die Geldtöpfe aus Brüssel zeigt, wie ernst die Lage des Bankensektors von den EU-Spitzen gesehen wird - es werden wohl Ereignisse erwartet, die schnellere Rettungsaktionen erfordern, als es die üblichen EU-Mechanismen und ihre Abhängigkeit von Beschlüssen in den Einzelstaaten erlauben. Insofern werden hier tatsächlich Billionenbeträge an Steuermitteln jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzogen, zum demokratischen Wohl "unserer" Banken.

Was heißt das in Bezug auf die "Koordinierung der Wirtschaftspolitik"? Die auf den EU-Gipfeln nach dem Merkel-Prinzip "keine Haftungsunion ohne Strukturreformen" beschlossenen Einschnitte in soziale Systeme, Rechte der ArbeiterInnen und Deregulierungen (z.B. Privatisierungen) werden fortgesetzt - angeblich werden sie langfristig für Wachstum sorgen. Angesichts der aktuellen Rezession in weiten Teilen der EU lässt sich darauf aber nicht mehr warten. Daher wurde ein Konjunkturprogramm von 120 Milliarden für die Not leidenden Regionen beschlossen.

Dies stellt sich jedoch bei genauerem Hinsehen als reine Kosmetik dar: der Großteil der Gelder wird einfach aus bestehenden Strukturhilfefonds der EU in "Konjunkturhilfen" umgewidmet. Dann wird es z.B. für Baumaßnahmen in Spanien ausgegeben, was angesichts der dort geplatzten Immobilien- und Baublase völlig an den Problemen vorbei geht. Ebenso können noch so viele Gipfel sich prinzipiell für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer u.a. Maßnahmen gegen Bankenspekulation aussprechen. Angesichts der erst jüngst wieder aufgetretenen Spekulationsskandale bei US- und GB-Banken zeigt sich, dass solche Maßnahmen ohne Einbezug der Banken dieser größten Finanzmärkte auch nur Kosmetik sein werden.

Die Krise verschärft sich weiter

Die beschlossenen Maßnahmen werden daher nichts an der Abwärtsspirale von Banken- und Staatsschuldkrise ändern. Im kapitalistischen Sinn könnte dies nur durch einen radikalen Schnitt bewältigt werden, d.h. durch massive Kapitalvernichtung von überakkumuliertem Kapital, sowohl im Finanzsektor als auch im (z.B. produktiv) angelegten Kapital. So diskutiert man in Finanzkreisen seit einiger Zeit über ein unausweichliches "Lehman II". Das erinnert uns an den Zusammenbruch der Lehman-Bank 2008, als das Weltfinanzsystem wie im Domino-System zusammen zu brechen drohte.

Die Pleite einer "systemrelevanten" EU-Großbank hätte eine Schockwirkung, die von den jetzt beschlossenen Maßnahmen rund um den ESM kaum eingedämmt werden könnten. Von daher wird die EU-Politik dieses Szenario weiter verhindern wollen, um sich mit weiteren Trippelschritten im Umbau von ESM & Co. weiter „durchzumerkeln“. Diese Politik muss früher oder später scheitern und eine Reihe von EU-Staaten mitsamt den Banken in den finanziellen Abgrund reißen.

Wie jede Krise zeigt auch die gegenwärtige EU-Krise die politisch-ökonomischen Dominanzverhältnisse in der Region bzw. gestaltet sie neu. Wenn die Krise nur durch Kapitalvernichtung, soziale Angriffe und verstärkte Ausbeutung lösbar ist, so versucht jedes nationales Kapital, die Auswirkungen durch die Abwälzung der Probleme auf die schwächeren nationalen Kapitale zu mildern. War Deutschland durch das Gewicht seiner Exportindustrie schon vor 2008 ein Profiteur der Ungleichgewichte in der EU, so hat sich dies mit der Krise noch verstärkt. Derzeit profitiert das deutsche Kapital sowohl vom Niedergang europäischer Konkurrenten (Frankreich, Italien, Spanien) auf den Weltmärkten als auch vom rekordverdächtig niedrigen Zinssatz, mit dem es seine Schulden refinanzieren kann.

Das deutsche Kapital ist daher möglichst an der Beibehaltung des gegenwärtigen Zustands interessiert und wehrt sich mit aller Kraft gegen eine „gesamt-europäische“ Finanzpolitik, die eine Zusammenführung der Staatsschulden (ob über Euro-Bonds oder Schuldentilgungsfonds) bedeuten würde. Es benutzt diesen - letztlich unhaltbaren - Zustand, um andere EU-Länder zu einem Strukturwandel in seinem Interesse zu zwingen. Privatisierungen und Deregulierungen dienen der Ausweitung der deutschen Direktinvestitionen, Arbeitsmarktreformen zu einer Ausdehnung des vom deutschen Kapital ausbeutbaren Niedriglohnsektors "vor der eigenen Haustür".

Die abkühlende Weltkonjunktur in fast allen wichtigen Industriestaaten und das drohende Szenario einer neuen Finanzkrise könnten dieser neuen deutschen Stärke allerdings auch schnell einen Strich durch die Rechnung machen. Gerade für ein verschärftes Krisenszenario - was Bankenzusammenbrüche als auch einen Konjunktureinbruch beinhaltet - sind die neu geschaffenen Instrumente der EU aber unzureichend: EU-Kommission, ESM, Bankenaufsicht und EZB mit ihren derzeitigen Kompetenzen werden dann den Euro kaum retten können, was unabsehbare Folgen für die Weltmarktposition des deutschen Kapitals hätte. Die Hoffnung des deutschen Kapitals beruht also weiter darauf, sich durch die Krise zu „merkeln“, ohne viel an den grundlegenden Strukturen der EU zu ändern. Diese Hoffnung ist aber offenbar auf Sand gebaut.

Zugleich ist diese Lage so schwer zu überwinden, weil sich hier ein ungelöster Widerspruch zeigt zwischen den kurzfristigen Interessen der Einzelkapitale und dem  langfristigen strategischen Interesse des deutschen Imperialismus. Die Politik der Bundesregierung ist in dieser Situation auch ein Durchlavieren zwischen diesen Imperativen.

Perspektive

Sowohl die fortgesetzte Kürzungspolitik als auch die Perspektive der drohenden massiven Kapitalvernichtung bedeuten für Millionen von ArbeiterInnen, Jugendlichen und Armen eine massive Bedrohung ihrer Lebensgrundlagen - und dies in einer der reichsten Regionen dieses Planeten!

Den Bankenrettungsaktionen zu Lasten der Staatsfinanzen mitsamt der damit begründeten „Anti-Krisenpolitik“ muss endlich ein radikales Ende gesetzt werden: die europäischen Banken müssen verstaatlicht werden, die Schulden von Banken und Staaten, ihre Verträge, ihre Geschäftspolitik und -geheimnisse offengelegt und - soweit nicht KleinanlegerInnen und Renten betroffen sind - gestrichen werden!

Die frei werdenden Mittel müssen für einen europaweiten Plan eingesetzt werden, der Arbeit für alle und Ausgleich der Strukturunterschiede bedeutet! Es ist klar, dass die Übernahme der Banken und die Ausarbeitung eines solchen Planes nicht den Managern und Politikern des europäischen Finanz- und Konzernkapitals überlassen werden kann, wie die Erfahrungen mit Commerzbank und HRE zeigen! Diese Maßnahmen müssen durch Organe der Arbeiterbewegung und der von der Krise Betroffenen erkämpft und kontrolliert werden!

Kein Land der EU wird sich angesichts der globalen Verflechtungen des entwickelten Kapitalismus als einzelnes mit noch so progressiven Maßnahmen aus der EU-Krise lösen können. Eine Rückkehr zu nationalen Währungen und rein nationaler Wirtschafts- und Finanzpolitik würde der sichere Weg in den Ruin sein. Wir wollen keinen Austritt aus dem Euro, sondern die Umwandlung der vom Finanzkapital kontrollierten EZB in eine europäische Staatsbank unter Arbeiterkontrolle.

Ebenso kämpfen wir nicht für den Austritt aus der EU, sondern im Gegenteil für die "vertiefte" Einheit, d.h. für vereinigte sozialistische Staaten von Europa, in denen die gewaltigen Mittel, die jetzt in ESFS oder ESM verpulvert werden, in einem Plan zum Aufbau eines wirklich „sozialen Europa“ verwendet werden. Es gibt eine Alternative zur Krisenökonomie und -politik - es braucht den gemeinsamen, europaweit organisierten Kampf, um von der bloßen Abwehr zur offensiven Durchsetzung dieser Alternative voran zu kommen.

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Nr. 171, Juli/Aug. 2012
*  Fiskalpakt: Durchmerkeln in der Krise
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*  Verfassungsschutz-Skandal: Pleiten, Pech und Pannen?
*  Energiewende: Windkraft und heiße Luft
*  Berlin: Wir bleiben alle!
*  Politisch-ökonomische Situation: Klassenkampf im Herzen der Bestie
*  Präsidentschaftswahlen in Ägypten: Doppelte Niederlage der Revolution
*  Lage der Frauen in Brasilien: Kleine Erfolge, große Probleme
*  Sommerspiele 2012: Olypmia-Wahnsinn
*  Jugend: Wie weiter im Kampf gegen Bildungsabbau?
*  Griechenland: Perspektiven des Klassenkampfes
*  Strategie: Griechenland und europäische Revolution
*  Solidaritätskomitees mit der griechischen Arbeiterklasse aufbauen!