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Kopftuchverbot

Die große Scheinheiligkeit

Anne Moll, Neue Internationale 125, November/Dezember 2007

In Deutschland gibt es seit 2004 in acht Bundesländern ein Schulgesetz, das Lehrerinnen verbietet, an öffentlichen Schulen mit Kopftuch zu unterrichten. Baden-Württemberg verabschiedete als erstes Bundesland am 1.April 2004 dieses Gesetz und dehnte es im Juli 2006 auf Erzieherinnen aus.

„Zur Sicherung der staatlichen Neutralität“ nennt der Gesetzgeber das Regelwerk mit dem angeblich die Säkularität des Staates geschützt werden soll. So besagt das Gesetz: „Für Lehrerinnen sind politische, religiöse oder sonstige Symbole, die geeignet sind, den Schulfrieden zu stören, im Unterricht verboten.“ Dass damit aber ausschließlich islamische Symbole gemeint sind, zeigt in Hessen z.B. folgender Zusatz im Gesetzestext: „… der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition ist Rechnung zu tragen.“

In jedem Bundesland lautet der Gesetzestext anders. So war es möglich, dass das Verwaltungsgericht in Stuttgart das Schulgesetz mit folgender Begründung kippte: “Frauen werden in ihrem Anspruch auf Gleichberechtigung der Glaubensrichtungen verletzt, da im Land Nonnen in Ordenstracht unterrichten dürfen.“ Das Land legte daraufhin Berufung ein.

Das Verbot ist ausdrücklich gegen den Islam gerichtet. Denn zur staatlichen Neutralität sind Pädagogen und Beamte per Verfassung sowieso verpflichtet. Den Vorwurf der Verletzung dieser Neutralität mussten sich vor allem Menschen anhören, die Kritik am Kapitalismus oder der Politik des Staates hatten. So kam es in den 1970ern zu zahlreichen Berufsverboten wegen der Gefahr politischer Beeinflussung der SchülerInnen durch LehrerInnen, die antikapitalistische Positionen vertraten.

Genauso passt es jetzt ins Bild imperialistischer Interessen, islamische Länder und die Religion als Feindbild darzustellen. Dazu ist ihnen keine Nichtigkeit zu gering. ArbeiterInnen, Arbeitslose, SchülerInnen und Auszubildende werden mit solcher Propaganda gespalten, zugleich fördert sie in gefährlicher Weise Ausländerfeindlichkeit und Rassismus.

Das Lager der „Anti-Islamisten“ ist recht bunt. War Alice Schwarzer in den 70ern und 80ern durchaus kämpferisch und links und unterstützte auch Forderungen der Arbeiterklasse, ist sie mit zunehmender Bekanntheit in den bürgerlichen mainstream abgerutscht und vertritt heute etliche Positionen, die eher reaktionär als progressiv sind und in jedem Fall im Rahmen bürgerlicher Vorstellungen bleiben.

Bürgerliche Hetze

Wenn man Artikel über den Islam, deren reaktionäres Verhalten gegenüber Frauen und über die von dieser Religion ausgehende Gefahr für „unsere“ westliche Welt liest, wird klar: Alice Schwarzer und Co. haben ihr Feindbild gefunden und müssen weniger darüber nachdenken, welche Fehler hier in der Frauenbewegung gemacht wurden, welche Aufgaben noch vor uns liegen und wie diese angegangen werden könnten.

So schreibt sie in EMMA Nr. 5 im Artikel „Deutsche Musliminnen“: „Der von Politik und Medien gerne funktionalisierte Terror ist nur die Spitze des Eisbergs und verdeckt das eigentliche Problem - nämlich die Unterwanderung des Rechtsstaates durch die Scharia mitten in Deutschland: (…) LehrerInnen, die unter dem Kopftuch Flagge zeigen gegen die Gleichheit der Geschlechter:“

Damit wird die rassistische Propaganda des bürgerlichen Staates unterstützt, ja der bürgerliche Staat wird überhaupt zum Garanten von Demokratie und Humanismus stilisiert. Daneben wird suggeriert, dass das Tragen des Kopftuchs per se für Frauenunterdrückung stehe und immer so gemeint sei. Das Kopftuchtragen ist jedoch auch oft ein Symbol dafür, dass MuslimInnen ihre „Identität“ gerade gegen die antiislamische Offensive behaupten wollen; nicht selten steht das Kopftuch auch als Symbol für den Widerstand gegen „den Westen“ und dessen imperialistische Ausplünderungs- und Gewaltpolitik.

Davon abgesehen ist das Christentum nicht weniger frauenfeindlich als der Islam; emanzipationsfeindlich sind letztlich alle Religionen.

Es ist die Aufgabe von MarxistInnen, alle organisierten Religionen zu  bekämpfen und gleichzeitig das Recht des Einzelnen auf Freiheit des Glaubens zu respektieren. Wir kämpfen gegen den Einfluss religiöser Ideologie, indem wir für religionsfreie Sexualerziehung, freie Abtreibung und Verhütung, freie Partnerwahl und für die grundlegende demokratische Forderung nach Trennung von Kirche und Staat eintreten. Alle diese - eigentlich bürgerlich-demokratische und nicht sozialistische - Forderungen sind mehr oder weniger in der Bundesrepublik nicht oder unzureichend umgesetzt.

Auf die Unterschiede der Religionen in den abendländischen Kulturen Christentum und Judentum zu den Religionen aus anderen Kulturen, wie dem Islam bezogen, bedeutet das für uns, den Einfluss jeglicher Religion in der Politik und für das gemeinschaftliche Leben zu bekämpfen.

Im Bildungssystem gibt es dabei viel zu verbessern. Bezogen auf Integration der islamischen Mitschülerinnen müssen sich Verbesserungen immer an der größtmöglichen Unabhängigkeit der Mädchen messen lassen. So sollten Themen wie Verbot der Teilnahme am Schwimmunterricht, an Sexualkundeunterricht und an Schulausflügen thematisiert werden. Alle Religionen sollten auf ihre Unterdrückermechanismen hin untersucht und entlarvt werden.

Doch diese Aufgabe kann nicht einem mehr oder weniger repressiven und rassistischen Staat überlassen werden. Das ist Sache der Diskussion und Klärung innerhalb der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten. Es ist tatsächlich ein Dilemma, dass sich z.B die Gewerkschaften aus solchen - wie aus anderen allgemeinen politischen - Fragen oft heraushalten. Auch die SPD oder die LINKE sind oft meilenweit von einer konsequent antiklerikalen Position, wie sie noch vor Jahrzehnten vertreten wurde, entfernt. Viel eher üben sie Rücksicht gegenüber den Kirchen, weil sie deren Vertreter für ihre Volksfront-Projekte instrumentalisieren wollen. Das ist nicht nur eine völlig falsche Aufwertung der Kirchen, v.a. bedeutet es immer, dass anstatt einer klassenunabhängigen Mobilisierung bürgerliche Positionen und Organisationen auf die Arbeiterbewegung Einfluss haben.

Was heißt Religionsfreiheit?

Religionsfreiheit bedeutet auch, die Religionsausübung des Einzelnen vor Repression durch den bürgerlichen Staat (und die mit ihm oft verbundene „Staatskirche“) zu schützen. Nun wird der Bock zum Gärtner gemacht, indem gerade der Staat bestimmt, welche Religion „akzeptabel“ ist und welche nicht, welcher Glaube „symbolfähig“ ist und welcher nicht.

Es ist daher ein wichtiger erster Schritt, gegen das Kopftuchverbot zu kämpfen, denn islamische Frauen, die an öffentlichen Schulen unterrichten, sind auch Vorbild für islamische Mädchen, einen Weg zur Unabhängigkeit einzuschlagen, indem sie einen anerkannten Beruf ausüben, sich in der Öffentlichkeit bewegen und nicht nur dem heimischen Pascha Heim, Herd und Kinder versorgen.

Das Verbot erreicht nur, dass islamische Frauen zurückgedrängt werden in Abhängigkeit und Unterdrückung.

Die Befreiung der Frauen und die Überwindung religiöser Illusionen und damit verbundener reaktionärer Traditionen können nicht vom bürgerlichen Staat - einem repressiven und reaktionären, von den Massen entfremdeten Apparat - erledigt werden. Außerdem können  religiöse Ideen auch nicht einfach mit anderen Ideen bekämpft werden. Dazu ist letztlich eine Änderung der materiellen Verhältnisse, also der Gesellschaft insgesamt, notwendig, die Religionen als „Gott in einer gottlosen Welt“ (Marx) hervorbringen.

Auch die reaktionären und frauenfeindlichen Aspekte des Islam sind tw. weniger im Islam angelegt oder durch diesen verursacht, sondern entspringen reaktionären archaischen Lebensweisen.

Anstatt muslimische Frauen mit der staatlichen Gesetzeskeule „bekehren“ zu wollen, müssen ihnen die gleichen Rechte der Religionsausübung zugestanden werden.

MarxistInnen müssen dafür eintreten, dass Kirche und Staat (und Schule) konsequent getrennt werden. Deshalb: Kein Religionsunterricht (oder Religionsersatzunterricht wie Ethik) an Schulen! Gibt es diesen aber, dann müssen Muslime auch das gleiche Recht haben wie Christen, einen solchen Unterricht besuchen zu können. Wenn ein Kruzifix in Schulen erlaubt ist, dann bitteschön auch ein Kopftuch.

Weg mit dem Kopftuchverbot!

Kampf in den Schulen für volle Integration aller SchülerInnen und LehrerInnen!

Gegen Religionsunterricht in jeder Form!

Volle Freiheit politischer Bildung und Betätigung in Schulen - mit Ausnahme faschistischer!

Für eine breite Diskussion in der Arbeiterbewegung und der Linken über Religion und Frauenunterdrückung!

Für jede Form von Unterstützung für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind.

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Nr. 125, Nov./Dez. 2007
*  Bahn: Sieg dem GDL-Streik!
*  Börsengang: Was steckt hinter der Privatisierung?
*  IG Metall Gewerkschaftstag: Durchmarsch der Rechten
*  SPD: Beck to the roots?
*  Kopftuchverbot: Die große Scheinheiligkeit
*  Sozialforum: Wie weiter?
*  Heile Welt
*  NLO: Am Scheideweg
*  Linke Zeitung: Antikommunistische Märchenstunden der Minderheit
*  Linksruck: Selbstliquidation als Erfolgsstory
*  Neue Großmacht? Wohin geht China?
*  Pakistan: Nieder mit dem Ausnahmezustand
*  Solidarität mit den KurdInnen!