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Gesundheitsreform

Kopfpauschale droht

Jürgen Roth, Neue Internationale 112, Juli/August 2006

Nach wochenlangem Tauziehen und einer Marathon-Nachtsitzung einigte sich die Große Koalition am Morgen des 3. Juli auf wesentliche Punkte für die Reform des Gesundheitssystems. Beiläufig erwähnt sei, dass gleichzeitig eine Reform der Unternehmenssteuern beschlossen wurde.

Der mühsam gefundene Kompromiss soll durch eine Erhöhung der Krankenkassenbeiträge um 0,5 Prozent ab Januar 2007 finanziert werden. Das zu erwartende Kassendefizit bei gleichzeitig erhöhten Selbstbeteiligungen der Versicherten (Praxisgebühr, gestiegener Eigenanteil an Kosten für Arzneimittel, Medizinprodukte und Behandlungen) resultiert wesentlich aus weiteren Einnahmerückgängen, weil die Gesamtlohnsumme sinkt (Entlassungen, Prekarisierung). Diese ist aber die entscheidende Grundgröße für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), welche alle Krankenkassen (Allgemeine Ortskranken-, Innungskranken-, Betriebskrankenkassen sowie die Ersatzkassen BEK, DAK, HKK, TK u.a.) umfasst. Experten wie der AOK-Vorstandsvorsitzende Ahrens rechnen zudem mit einem höheren Defizit (0,6 - 0,8 Prozent.

Sparprogramm

Zum anderen gelingt es den „Leistungserbringern“ (Pharmaindustrie, Medizingerätetechnik, z.T. auch niedergelassenen Ärzten und öffentlichen Apotheken) immer wieder, die „Sparkomponenten“ - oft eher kosmetisch, aber mit einem gewaltigen bürokratischen Aufwand verbunden - zu unterlaufen.

Leistungskürzungen soll es angeblich nur bei Schönheitsoperationen oder Piercing geben. Dies darf getrost angezweifelt werden, da die erweiterte Kabinettsrunde diesbezügliche Details den niederen Chargen überlässt. Sie hat ja „nur“ Eckpunkte beschlossen.

Mittelfristig soll durch Strukturreformen ein Einsparvolumen von 5 Milliarden Euro erreicht werden. So denkt sich das ein bürgerliches Technokratenhirn. In Wirklichkeit sind die Reglementierungen, die sich das bürgerliche Parlament einfallen lässt und die der Beamtenapparat des Staates und die staatsähnliche Technokratenhierarchie der Krankenkassen umsetzen und überprüfen müssen, mit mehr Aufwand als Einsparungen verbunden. Das kann in einer kapitalistischen Marktwirtschaft auch nur so sein, denn in deren anarchischem Gesundheitswesen arbeiten alle „eigenständigen“ Komponenten in die eigene Tasche und gegeneinander!

Beispiel 1: Morbiditätsrisikostrukturausgleich. Statt die Unzahl der verschiedenen Krankenkassen abzuschaffen, soll ein Fonds eingerichtet werden, der die unterschiedlichen finanziellen Risiken, bedingt durch unterschiedlich kostenträchtige Klientele, ausgleichen soll. Bis jetzt hat man die Morbidität aber noch gar nicht ausgerechnet. Bis 2009 wird es mindestens dauern, bis ganze Expertenstäbe von Wichtigtuern am Schreibtisch ein Resultat produzieren.

Beispiel 2: Arzneimittelverordnungswirtschaftlichkeitsgesetz. Dagegen sind dieses Jahr die Praxisärzte Sturm gelaufen, weil sie mit einem Regress zu rechnen hatten, wenn sie ihr Arzneimittelbudget überschritten. Letzteres muss erstmal errechnet und laufend neu kalkuliert werden. Dass besagte Schreibtischhengste sich mit Rechnen zudem schwer tun, zeigt die Umsetzung dieser Richtlinie im Krankenhaus. Hier führte sie zum genauen Gegenteil, einer deutlichen Preissteigerung für Arzneimittel. Warum? Den Technokraten waren Naturalrabatte und Lieferungen zum Nullpreis ein Dorn im Auge. Sie vermuteten Schlupfwinkel für Bereicherungskriminalität von KrankenhausapothekerInnen. Dabei gehen die Naturalrabatte stets für alle Abnehmer transparent in den gleitenden Durchschnittspreis ein. Einen Schwarzmarkt gibt es im Übrigen auf diesem Sektor gar nicht. Aber wer sich vor Ort nicht auskennt und sich nicht bei Leuten schlau macht, die wissen, von was sie reden, der muss eben irgendeine Annahme in teure Gesetzesrichtlinien verwandeln.

Beispiel 3: Qualitätssicherung im Krankenhaus (QMS, KTQ etc.). Wer sich eine ganze Riege nur damit beschäftigter Sesselfurzer leisten kann - wie große Kliniken - kann allerhand umfangreiche Diensthandbücher erstellen, nach denen standardisiert gearbeitet werden soll. Zumindest kann man das den Prüf- oder Auditkommissionen gegenüber glaubhaft darstellen. Qualität ist dann proportional zum Papiergewicht des Handbuchs. In Wirklichkeit ist es natürlich genau umgekehrt! Die Qualitätssicherer organisieren ja nur, wer wie die Seiten vollschreibt. Machen müssen das dann neben ihrer eigentlichen Arbeit an der „Front“ die Untergeordneten, die sich im Gegensatz zum Qualitätsmanagement noch nicht erfolgreich dem eigentlichen Geschäft einer Klinik entziehen können. Was soll‘s? Wir haben ein 600 Seiten dickes Handbuch, wozu niemand Zeit zum Lesen hat, das QMS hat sein entsprechend honoriertes Erfolgserlebnis, die Prüfer einen guten Eindruck. Die Krankenkassen, auf deren Mist dieser Schwachsinn gedeiht, haben endlich ein scheinbar objektives Kriterium gefunden, um ihre Verträge mit kleineren Häusern bei Bedarf zu kündigen und sie damit in den Ruin zu treiben.

Mogelpackung

Ab 2008 soll ein neuer Gesundheitsfonds entstehen, den die Kassen mit einer monatlichen Kopfpauschale von 150 bis 170 Euro pro Versichertem finanzieren und der voraussichtlich 140 Milliarden enthalten soll. Zusätzlich soll ein jährlich steigender Steuerzuschuss einfließen, aus dem die in der GKV beitragsfreie Mitversicherung der Kinder bezahlt werden, bis diese zu 100% steuerlich abgedeckt ist (z. Zt. 16 Mrd. Euro jährlich). 2008 soll dieses Steueraufkommen aber zunächst nur 1,5 Mrd. Euro betragen.

Die Kanzlerin ließ noch anmerken, dass dafür auch die private Krankenversicherung (PKV) herangezogen werden „könne“. Diese müsste jetzt auch jeden aufnehmen, der über der Versicherungspflichtgrenze liegt (z. Zt. 3937,59 Euro pro Monat). Zudem sollen Privatversicherte zukünftig wieder in die GKV zurückkehren dürfen.

So richtig Letzteres auch ist, insgesamt handelt es sich auch beim Gesundheitsfonds um eine Mogelpackung. Die „Verstaatlichung“ des Gesundheitswesens nimmt ernste Züge an - wo sie nichts bringt, aber viel kostet: neue Institutionen, Dachverbände, Inkassobehörden neben den Einrichtungen der Kassen, neue Bürokratien. In den allgemeinen Fonds wird die PKV ausdrücklich nicht einbezogen. Von daher betreibt Merkel Augenwischerei. Und: die Steuerzuweisung von 1,5 Mrd. Euro ist erheblich weniger, als den Krankenkassen genommen wird. Zum einen sinkt der Bundeszuschuss aus der Tabaksteuer um 2,7 Mrd. Euro. So will es der neue Haushalt von Finanzminister Steinbrück. Gleichzeitig werden die Ausgaben durch die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte gewaltig ansteigen.

Ablehnung des Kompromisses

Kritik aus den Reihen der Regierungsparteien kam naturgemäß nur verhalten. SPD-Vorstandsmitglied Detlev Albers lobt „partielle Strukturverbesserungen,“ betrachtet allerdings den Gesundheitsfonds aufgrund der Nichteinbeziehung der PKV als Gefahr des Einstiegs in eine Kopfprämie durch die Hintertür. CDU-Generalsekretär Pofalla konnte seine Enttäuschung schwer verbergen, dass die Union mit ihrem 11-Milliarden-Paket gescheitert war, Unfälle aller Art aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen.

FDP-Westerwelle setzte Gesundheitsfonds mit Kassensozialismus und Planwirtschaft gleich und beklagte wie „Arbeitgeber“präsident Hundt die Erhöhung der Lohnnebenkosten als wachstums- und beschäftigungsfeindlich. Im Gegensatz zu Dieter Hundt kritisierte er auch die Kombination mit erhöhter Mehrwertsteuer und knapperen Pendlerpauschalen als „familienfeindlichste Politik seit Gründung der BRD“.

Auch die GRÜNEN kritisierten den Griff in die Tasche der „Bürger“, statt endlich Strukturreformen anzupacken. Die Linkspartei beklagt, dass wieder Unternehmen auf Kosten der „Bürger“ entlastet werden. Die Sozialverbände lehnten die Einigung auf Kosten der Versicherten ab. Die Apothekerverbände kündigten Widerstand gegen ein Sparvolumen von 0,5 Mrd. Euro bei Arzneimitteln an. Ver.di reihte sich in den Chor der KrikerInnen ebenso ein wie das Institut der deutschen Wirtschaft und die PKV. Vorsichtige Zustimmung dagegen signalisierte die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Pläne für ein neues Vergütungssystem und ein Ende der Arzneimittelbudgetierung für ihre niedergelassene Klientel begrüßte. Schließlich hatte diese dagegen heftig protestiert.

Unsere Einschätzung

Natürlich handelt es sich hier um einen Kompromiss, der keine Seite so recht zufrieden stellen kann. Trotzdem ist eine klare Tendenz zu erkennen. Unter dem Vorwand, die Einnahmeprobleme der GKV durch Umstellung auf Steuerfinanzierung zu lösen, wird der Marsch aus der solidarischen Komponente der GKV angetreten, sie damit letztlich zur Disposition gestellt. Das verkauft die bürgerliche Politik als neue Solidarität, Einbezug von Selbstständigen, BeamtInnen usw. in die Finanzierung.

Wie passt das zusammen mit der Lohnnebenkostenhysterie und der gleichzeitig beschlossenen erneuten Steuersenkung für Unternehmen?

Nur insofern, als die Versicherten darauf vorbereitet werden sollen, dass die Unternehmen zukünftig ihre „paritätische Beteiligung“ an den Lohnnebenkosten zuerst einfrieren und dann schrittweise reduzieren möchten. Zum scheinbaren Ausgleich nennt sich dann das Kassenwesen der Arbeiter und Angestellten bald nur noch Bürgerversicherung, weil auch einige Nichtlohnabhängige ihren symbolischen Steuergroschen zuschießen.

Das bringt weniger als die auf diesem Weg erbrachte de facto Lohnsenkung. Die GKV muss sparen, beschränkt sich nur noch auf eine Minimalversicherung. Zum Ausgleich müssen Schwerverdiener als Beitragszahler rekrutiert werden. Da man die nicht verprellen darf und wegen des bürgerlichen Rechts muss jeder Versicherte unabhängig von seinem Einkommen eine Kopfpauschale beisteuern.

Jede/r, der/die sich‘s leisten kann, darf sich ja noch privat zusätzlich versichern. Das funktioniert ja heute schon bei Zahnersatz und Krankengeld sogar in der GKV. Das als Fortschritt, erweiterte Bemessungs- und Einkommensgrundlage daher kommende Voranschreiten der Individualisierung und der bürgerlichen Rechts ist nichts weiter als eine Enteignung der ursprünglich von ArbeiterInnen und Angestellten gegründeten, vom bürgerlichen Staat sozialkompromisslerisch gegängelten Solidarkassen, eine Halbierung ihres indirekten Lohnfonds!

Statt ins gleiche Horn wie die Institute des Kapitals zu stoßen, täten die Gewerkschaften gut daran, gegen diese auf Schiene gesetzte Enteignung ihrer Mitgliedschaft zum politischen Massenstreik aufzurufen.

Jeder Ausstieg aus der Scheinparität - in Wirklichkeit sind es ja Löhne, die den Arbeitern gehören - muss bekämpft bzw. rückgängig gemacht werden:

Rücknahme aller Selbstbeteiligungen! Unternehmer und Staat raus aus der Kassenaufsicht! Weg mit Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen! Zwangsmitgliedschaft in der GKV! Für eine Einheitskasse!

Darüber hinaus muss die Lohnarbeiterschaft das Gesundheitswesen kontrollieren und es nach planwirtschaftlichen Kriterien ausrichten:

Keine Privatisierung des Gesundheitswesens! Aufhebung des Dualismus zwischen niedergelassenem und Kliniksektor! Für Polikliniken! Umwandlung von Ärzten und Apothekern in Angestellte bzw. Genossenschafter statt Kleinunternehmer! Erfassung der Sachwerte der Betriebe (Wertschöpfung) zwecks Bemessung ihrer Beitragsfähigkeit fürs Sozialversicherungswesen! Entschädigungslose Enteignung des medizinisch-industriellen Komplexes unter Arbeiterkontrolle! Aufstellung eines Forschungs-, Entwicklungs- und Unterhaltsplans durch die organisierte Arbeiterklasse!

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Nr. 112, Juli/August 2006

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