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Programmdiskussion

Streitfall Arbeitermiliz

Rex Rotmann, Neue Internationale 102, Juli/August 2005

Ein Gespenst lauert in unserer Programmatik: das Gespenst der Arbeitermiliz. Alle Bürgerlichen, alle ReformistInnen scheuen diese Kombination aus Arbeiterklasse und Waffen wie der Teufel das Weihwasser. Kein Wunder, dass es zur Genüge KritikerInnen an der Arbeitermiliz-Losung im Programm der Arbeitermacht gibt. Warum halten wir trotzdem an dieser Losung fest?

Die Staatsfrage ist die Gretchenfrage, deren Beantwortung ein revolutionäres von jedem anderen Programm - sei es refromistisch, zentristisch oder anarchistisch - unterscheidet.

Nach der Pariser Kommune von 1871 präzisierte Marx seine Staatsposition. Die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und dessen Ersetzung durch einen Rätestaat vom Typ der Kommune sah er als Grundvoraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus an. Später wurde die Richtigkeit dieser Konzeption in großen Klassenschlachten wie der Revolution in Russland 1917 offenbar und zum Kern der Programmatik der Kommunistischen Bewegung - bis sie durch den Stalinismus in Theorie und Praxis revidiert wurde.

Staatsfrage

Zur Beseitigung des bürgerlichen Staates gehört v.a. auch die Zerschlagung von Armee und Polizei und deren Ersetzung durch bewaffnete Organe der Arbeiterklasse: die Arbeitermiliz. Diese ist kein "stehendes Heer”, keine von der Gesellschaft abgesonderte, privilegierte und in sich repressive Formation, sondern eng mit den Machtorganen der Klasse, den Räten, verbunden. Sie ist in Funktion und Form völlig anders als der bürgerliche Staatsapparat.

Wenn wir die Forderung nach Arbeitermilizen als unverzichtbaren Teil unserer Programmatik ansehen, dann deshalb, weil sich in ihr gewissermaßen die Frage der bewaffneten Macht, die Frage, ob sich die Revolution bzw. die Klasse in ihren Kämpfen verteidigen kann, zupitzt. Die Frage der bewaffneten Macht offen zu lassen, würde bedeuten, die Klasse und ihre Vorhut über eine zentrale Frage des Klassenkampfes im Unklaren zu lassen, sie im wahrsten Sinne des Wortes zu entwaffnen.

Die Linke - soweit sie sich auf die Übergangsmethode bezieht - offenbart generell ein mehr oder weniger mangelhaftes Verständnis der inneren Logik und Funktion des Übergangsprogramms, wie es in systematischer Form zuerst 1938 von Trotzki als Gründungsprogramm der IV. Internationale erarbeitet wurde.

Übergangsforderungen

Die Übergangsmethode versucht, eine Brücke vom aktuellen (reformistischen) Bewußtsein der Klasse zur Frage der Eroberung der Macht durch das Proletariat zu bauen. Damit überwindet sie die im Reformismus typische programmatische Trennung in Minimal- und Maximalteil des Programms, in Tagesforderungen und damit unverbundene, "separate” sozialistische Forderungen.

Das Übergangsprogramm rückt die Orientierung auf die eigenständige Organisierung der Klasse, auf die Kontrolle ihrer Kämpfe, Organisationen und schließlich der Gesellschaft insgesamt in den Mittelpunkt. Deshalb sind Forderungen nach Arbeiterkontrolle über Produktion, Preise, Löhne, Gewerkschaften usw. zentral.

Das ist notwendig, um die Klasse auf die Machtübernahme vorzubereiten und zu bewirken, dass ihr Bewußtsein, dass ihre Organisisierung durch die praktischen Erfahrungen im Kampf angehoben werden.

Doch das Übergangsprogramm enthält keine "wundertätigen” Einzelforderungen, deren separate Umsetzung allein den Sturz des Kapitalismus bewirken würde. Seine Wirkung entfaltet das Übergangsprogramm nur dadurch, dass es als System, dass es in seiner Gesamtheit umgesetzt wird. Was nützt es z.B., wenn ArbeiterInnen eine Fabrik kontrollieren, wenn sie nicht in der Lage sind, sich gegen Streikbrecher, private "Sicherheitsdienste” oder die Polizei zu verteidigen? Welche Macht hätten Arbeiterräte oder eine Arbeiterregierung, wenn sie sich nicht auf bewaffnete Formationen stützen würden?

Der Militärputsch in Chile 1973 ist ein blutiges Beispiel dafür, wozu es führt, den bürgerlichen Staat und dessen Armee nicht zu zerschlagen und die Massen gegen die Konterrevolution nicht zu bewaffnen.

Die Übergangsmethode enthält noch einen weiteren, oft unbeachteten Aspekt. Sie dient nicht nur dazu, Aktion und Bewußtsein der Klasse bis zum Sturz des Kapitalismus voran zu bringen; sie hat zugleich auch die Funktion, die Vorhut der Klasse für die revolutionäre Partei und deren revolutionäres Programm zu gewinnen.

Das Übergangsprogramm ist insofern an dem zum Sieg im Klassenkampf objektiv Notwendigen orientiert. Unabhängig vom aktuellen Bewußstein der Klasse muss ein revolutionäres Übergangsprogramm sagen, "was ist”, vor welchen objektiven Aufgaben die Klasse steht.

Kritik und Hintergründe

Oft wird argumentiert, dass die Arbeitermiliz-Forderung "utopisch” oder "der gegenwärtigen Situation nicht angepasst wäre”. Doch ist nicht auch jede andere Forderung, die darauf hinausläuft, den Kapitalismus zu überwinden und den Sozialismus aufzubauen, genauso "utopisch”?! Ist die Forderung nach Enteignung selbst nur einiger Teile des Kapitals "realistischer”?! Sogar eine "bescheidene” Forderung nach Senkung der Wochen-Arbeitszeit um 30 Minuten würde massive Klassenkampfaktionen erfordern, die angesichts der gegenwärtigen Gewerkschaftsführung alles andere als realistisch sind.

Wer die Arbeitermiliz als "unrealistische Forderung” streichen will, der müsste nach dieser Logik auch alle anderen Forderungen streichen, die etwas mehr wollen, als etwa die Kassenbeiträge um 0,02% zu senken.

Das Geheimnis der scheinbaren "Utopie” eines revolutionären Programms lüftet sich recht schnell, wenn man bedenkt, dass es in der imperialistischen Epoche keine substanziellen Problemlösungen mit Mitteln des Reformismus und innerhalb der Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft geben kann. Selbst die Umsetzung relativ "bescheidener” Reformen kollidiert mit den Grundlagen des Kapitalismus und weist über ihn hinaus. Und genau auf diese (mögliche) Dynamik des Klassenkampfs zielt das Übergangsprogramm!

Manche KritikerInnen, die behaupten, die Bewaffnung der ArbeiterInnen bzw. der Massen, die Entstehung von Milizen oder milizartigen Strukturen stünde nicht auf der Tagesordnung, haben offenbar wenig Ahnung vom politischen Zeitgeschehen. So gab und gibt es z.B. in Argentinien solche Selbstverteidigungsstrukturen in besetzten Betrieben wie Zanon oder in Gestalt der piccetero-Bewegung. Aktuell konnte man in Bolivien beobachten, wie die Massen zur Verteidigung gegen bewaffnete Banden und Regierungstruppen eigene Milizen bildeten. Hier zeigt sich auch deutlich, dass das Bewusstsein der Massen in bestimmten Momenten "Sprünge" machen kann.

Ein oft geäußerter Vorwurf gegen unsere Forderung nach Arbeitermilizen ist die Feststellung, dass die ArbeiterInnen sie nicht "verstehen” und davon "abgeschreckt” würden.

Das ist allerdings kein Geheimnis - schließlich ist das "normale” Bewußtsein der ArbeiterInnen reformistisch. Doch um (zunächst) deren bewußteste Teile für den Sturz des Kapitalismus zu gewinnen, ist es gerade notwendig, eine marxistische Position zum Staat vorzulegen und sich nicht dem bürgerlichen Bewußtsein anzupassen.

Revolution auf Wunsch?

Auf einem Treffen von Linken in Leipzig zum Thema "Übergangsforderungen” kritisierte Peter Feist (Arbeitskreis Marxistische Theorie und Politik Berlin-Brandenburg) kürzlich unsere Miliz-Forderung im Programmvorschlag der Arbeitermacht für die WASG (siehe dazu Bericht in JW vom 10.6., Zitate daraus).

Feist konstatiert zwar, dass die Losung "sich durchaus im klassischen Übergangsprogramm der IV. Internationale von 1938 findet”, augenblicklich aber "sehr skurril wirkt”. Warum? Weil nach Feist eine Forderung den "Werktätigen umsetzbar und wünschenswert erscheinen” müsse. Als Beleg dafür führt er an, dass Lenin vor der Oktoberrevolution die Losung »Brot, Land, Frieden« ausgegeben hatte, deren "Realisierung in den Kampf um den Sozialismus überging”.

Doch die Losungen "Brot, Land, Frieden” gaben Ziele an, sie waren jedoch keine Übergangsforderungen. Sie waren weder organsierend, noch sagten sie aus, wie deren Umsetzung zu bewerkstelligen sei. Eine "wirkliche” Übergangsforderung war z.B. "Alle Macht den Räten”. Hier vergleicht Feist einfach Äpfel mit Birnen.

Fatal wird es aber, wenn Feist meint, Übergangsforderungen ließen sich nur dann aufstellen, wenn die "Werktätigen” sie als "umsetzbar und wünschenswert” ansehen. Dann dürfte man schlichtweg keine aufstellen, Genosse Feist, denn sicher sind viele Forderungen, darunter alle mit Übergangscharakter (Räte, Milizen, Produktionskontrolle, Zerschlagung des Staates usw.) für 99% der "Werktätigen” momentan weder wünschenswert noch realistisch!

Doch wie soll das sich in dieser "Skepsis” ausdrückende bürgerlich-reformistische Bewußtsein aufgebrochen werden? Wie soll eine revolutionär-marxistische Vohut der Klasse formiert werden, wenn man solche, über das aktuelle Bewußtsein der Klasse hinausweisende Forderungen, nicht aufstellt?

Auch im Januar 1917 erschienen fast 100% der russischen Bevölkerung jede Forderung, die irgendeinen Aspekt des Systems angriff, mindestens utopisch. Was dann in der Oktoberrevolution zum Arbeiterstaat führte, war nicht einfach die "Realisierung” von Losungen. Entscheidend war, dass es die Bolschewiki gab, die nicht nur als Partei konsequent für die "Realisierung” ihrer Losungen kämpfte sondern auch als einzige Partei die zweckentsprechenden taktischen Mittel dazu wußte. Diese Partei gab es aber nur, weil sie sich bereits vor 1917 in ihrer Programmatik und Propaganda einer anderen Methode bediente als jener, die Genosse Feist vorschlägt. Sie hatte ihre Führung, ihre Politik, ihre Mitgliedschaft gerade auch um solche "unrealistischen” Forderungen entwickelt und gestählt.

Was hinter Vorwürfen wie denen Feists auch steckt, ist die Vorstellung, dass Bewußtsein und Aktionsniveau der Klasse sich quasi von selbst, im Zuge der Zuspitzung des Klassenkampfes weiter entwickeln, ja sich auf sozialistische "Höhen” schwingen würden. Dieser Ökonomismus negiert tendenziell die besondere Funktion der revolutionären Partei, revolutionäres Bewußstsein in der Klasse zu verankern. Ohne jedoch diese Aufgabe zu erfüllen, ohne eine organisierte Vorhut der Klasse zu formieren, wird jede sozialistische Revolution scheitern. Skurril ist nicht unsere Forderung, skurril - und unmarxistisch - ist die Argumentation von Peter Feist.

Der Sinn der Übergangsmethode besteht darin, eine Brücke zu bauen, die wirklich zum anderen Ufer führt. Das funktioniert aber nicht, wenn man einige tragende Pfeiler der Brücke wegläßt, weil vielleicht deren Form und Farbe Mißfallen erweckt. Genauso absurd ist es zu glauben, man könne die Brücke zu den Leuten tragen, weil diese nicht vorwärts gehen wollen.

Ob die Massen sich auf unsere programmatische Brücke zu bewegen hängt von zwei Faktoren ab: 1. von der objektiven Situation; 2. davon, ob es eine in der Klasse verankerte revolutionäre Führung - d.h. eine mit einem vollständigen revolutionären Programm und keinem populistischen Wunschkatalog - gibt, welche die Klasse Richtung Übergang führt. Dazu muss das Programm den Massen "vorangetragen” und nicht wie ein Karren voll Billigbier hinter ihnen hergezogen werden.

Losung gleich Losung?

Nicht nur, aber vor allem in Situationen zugespitzten Klassenkampfes, besonders in vorrevolutionären Situationen erlangen Übergangsforderungen direkte Sprengkraft als Agitationslosungen, als konkrete Handlungsaufforderung. Daraus folgt allerdings nicht, wie viele KritikerInnen meinen, dass in "gemäßigten” Situationen solche  Forderungen nicht aufgestellt werden dürften. Sie haben natürlich auch und gerade dann eine propagandistische Funktion für die Vorhut der Klasse.

Es ist ein Märchen,  dass viel mehr Leute ein Übergangsprogramm an sich gut fänden, wenn es nur die "unseelige” und provokante Arbeitermiliz-Losung nicht erwähnen würde. Unsere Erfahrung auch in der WASG ist eher die, dass gerade die reformistischen Spitzen unser Programm insgesamt ablehnen, u.a. weil es die entscheidende Frage der Staatsmacht aufwirft, während ihre eigenen Programme dazu schweigen oder einfach a priori davon ausgehen, dass der bürgerliche Staat bestehen bleibt und für einige antikapitalistische Maßnahmen gebraucht werden könne. Sie verteufeln die Milizen als "nicht vermittelbar” und "utopisch” - zur Rechtfertigung ihrs eigenen, komplett illusorisches Konzepts der Reformierung des Kapitalismus.

 

Trotzki zur Arbeitermiliz

Natürlich können wir die Macht nur dann erobern, wenn wir die Mehrheit der Arbeiterklasse hinter uns haben, aber auch in diesem Fall wäre die Arbeitermiliz nur eine kleine Minderheit. Sogar in der Oktoberrevolution war die Miliz eine kleine Minderheit. Aber die Frage ist die, wie man diese kleine Minderheit kriegen kann, die organisiert und mit der Sympathie der Massen bewaffnet werden muß. Wie können wir das machen? Indem wir das Bewußtsein der Massen durch Propaganda vorbereiten.

(aus: Trotzki: Diskussion über die Arbeiterpartei, 1938)

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Nr. 102, Juli/August 2005


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