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DGB Aktuell

Frühling der Bürokratie?

Frederic Haber, Neue Internationale 100, Mai 2005

"Die Krise ist schärfer als allgemein bekannt ... ein reines Sparkonzept kann die Krise des DGB und seiner Gewerkschaften nicht lösen, sondern führt zu weiteren Mitgliederverlusten".

Für eine solche Aussage erntet der oder die normale Delegierte auf einer beliebigen Gewerkschaftskonferenz entrüstetes Aufheulen und wird sofort in die Ecke der Nestbeschmutzer gestellt. Jetzt ist die Nestbeschmutzung als Kernaussage in einer Analyse zu finden mit dem Titel "Weiterentwicklung des DGB", verfasst von einer Planungsgruppe aus hochrangigen FunktionärInnen. Diese durch und durch richtige Aussage sollte aber wie das ganze Papier geheim bleiben.

Geheim

Schade eigentlich. Ein wahres Wort zur Lage der Organisation, offen ausgesprochen, hätte DGB, IGM, ver.di und dem ganzen Rest gut getan. Üblicherweise werden gerade Erfolgsmeldungen verbreitet über Tarifverträge oder "Standortsicherungsabkommen", die Löhne und Gehälter absenken, Arbeitszeiten verlängern und Sonderzahlungen aussetzen, um als Gegenleistung vage "Garantien" für Arbeitsplätze zu erhalten, die meist das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen.

Eine Entwicklung, die genau das untergräbt, was die Führungs-StrategInnen als Zukunftsprogramm immer, aber besonders auf Maifeiern, verkünden: Stärkung der Massenkaufkraft und Senkung der Arbeitslosigkeit. Damit, so die Hoffnung der Bürokratie, gäbe es wieder Verhandlungsspielraum und Druckmittel gegenüber dem Kapital. Seit den Verträgen von Siemens und DaimlerChrysler haben allerdings Gesamtbetriebsräte und Bezirksleiter die Umverteilung von Milliarden an Kaufkraft aus den Taschen der Beschäftigten auf die Konten der Aktionäre unterschrieben. Sie haben die Arbeitszeit stellenweise so ausgeweitet, dass man von einem echten Beitrag zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit sprechen kann.

Die Geheimstudie sagt: "Gegenwärtig gibt es keine Anzeichen, dass sich dieser Trend von selbst zum Guten wendet. Die Hoffnung auf Arbeitskräfteknappheit ab 2010 ist in einer offenen EU Wunschdenken. Weiterer Rückgang der Mitgliederzahlen ist absehbar." Das ist eine offene Bankrotterklärung der Gewerkschaftspolitik der letzten Jahre.

Diese Studie benennt also die Krise des DGB offen. Das ist schon was in einer Organisation, deren FunktionärInnen in vielen Gliederungen die Augen fest vor der Realität geschlossen halten, den Kopf tief in den Sand der wirkungslos gewordenen Routine-Arbeit stecken und bei den Budgetberatungen ausrechnen, ob das Geld noch bis zur eigenen Rente reicht. Eine Stimmung vergleichbar mit der in der SED der späten Achtziger.

So markig die Studie beginnt, so schnell wird deutlich, dass die VerfasserInnen nicht über ihren bürokratischen Schatten springen können. Ihr Ausgangspunkt sind die Mitgliederzahlen und die Finanzen, ihre Perspektiven bleiben unpolitisch. So schweigt die Studie zum Thema Angriffe auf die Beschäftigten und die Erwerbslosen, zu Einbrüchen im Tarifsystem, zu Reallohnverlust und selbst zur Arbeitslosigkeit fallen nur die bereits zitierten Worte. Bei der Bestimmung gesellschaftspolitischer Veränderungen gibt es nur soziologische und ökonomische Erkenntnisse wie "boomende Exporte" und "Verschiebung zum Dienstleistungssektor". Die ganze analytische Erbärmlichkeit steckt in der Aussage: "Prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen stark zu. Beschäftigte im Niedriglohnsektor sind traditionell schwach organisiert."

Kein Wort dazu, dass der Niedriglohnsektor - auch mit ihrer Hilfe - massiv ausgeweitet wurde und wird, dass gerade die dort Beschäftigten eine Organisation brauchen und dass sie aufgrund ihrer Rechtlosigkeit die Solidarität der ganzen Arbeiterbewegung bräuchten, um sich zu organisieren. Sie sind halt traditionell schwach organisiert und die Bürokratie interessiert sich halt traditionell nicht für sie.

Die Krise der Gewerkschaften
ist die Krise ihrer Führung

In den innergewerkschaftlichen Debatten weisen die Verantwortlichen und ihre Vasallen gern darauf hin, dass selbst die heftig kritisierten Abschlüsse bei Siemens, DaimlerChrysler oder im Öffentlichen Dienst nicht zu sofortigen Austrittswellen geführt hätten. Ganz offensichtlich geht die Basis mit ihrer Gewerkschaft sorgsamer um als die Bürokraten. Die Mitgliedschaft ist für sie keine TED-Umfrage.

Aber die Serie von Niederlagen des Jahres 2004 erzeugt in der breiten Masse das Gefühl einer schleichenden Entwertung dieser Mitgliedschaft. Austritte erfolgen dann dort, wo die Bindung weniger eng und lang ist, Neueintritte sinken. Wenn die starke IGM für ihre stärksten Bataillone Einkommenssenkung akzeptiert - wie für unorganisierte Belegschaften in Kleinbetrieben - was sollte sie dann gerade für letztere erreichen?

Die Niederlagenserie ist selbstverschuldet und offensichtlich gewollt. Die Spitze des DGB hat wie von ver.di und der IGM die Agenda 2010 des Kanzlers samt Hartz im Prinzip akzeptiert. Sie akzeptieren die Notwendigkeit der Kostensenkung für den Standort Deutschland und sie setzen dies Tarifvertrag für Tarifvertrag, Betrieb für Betrieb um. Sie haben die Proteste nicht gefördert und ausgeweitet, sondern ins Leere laufen lassen und sie beginnen heute mit der Verfolgung der KritikerInnen.

Diese Leute werden die Krise der Gewerkschaften nicht überwinden, sie sind ihre Quelle. Die Arbeiterschaft muss es ausbaden.

Für eine klassenkämpferische Basisbewegung!

Viele BasisaktivistInnen und etliche linke Organisationen sehen dieses Treiben der Gewerkschaftsführer. Aber wie kann dieser Verrat bekämpft werden? Die MLPD beispielsweise sieht eine gewaltige Arbeiteroffensive am Werke, die nur mit Tricks durch diese Verräter ausgebremst wird. Auch die SAV sieht die progressive Basis einer bürokratischen Führung gegenüber. Wenn die Verhältnisse so klar wären, vor allem im Bewusstsein der Basis, müsste es ein Leichtes sein, die Bürokratie zu beseitigen - trotz Tricks und Machtpolitik.

Das Problem ist, dass die Bürokratie nicht nur deshalb herrscht, weil sie den Apparat in der Hand hat, sondern weil die Politik, die sie mit diesem Apparat macht, Wirkung zeigt. Die Niederlagen, die sie organisiert hat, haben zwar zur Suche nach politischer oder gewerkschaftlicher Orientierung jenseits des Apparats bei den politschen und gewerkschaftlich bewussteren und aktiven Lohnabhängigen, gleichzeitig jedoch auch zu einer Demoralisierung vieler ArbeiterInnen geführt. Die Massen, die seit dem 1. November auf den Strassen waren, sind erst mal wieder zu Hause. Diejenigen, die gegen die Demobilisierung durch den DGB nach dem 3. April auf die Montagsdemos setzten, haben sich im Herbst die Zähne ausgebissen.

Aber es sind Leute übriggeblieben, die sich damit nicht zufrieden geben wollen. Wenn Montagsdemos nicht reichen, was dann? Wir schlagen den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung vor, die alle umfassen soll, die mit den Mitteln des Klassenkampfes, also Streiks, Besetzungen und letztlich des Generalstreiks die Angriffe der Unternehmer und ihrer Regierungen zurückschlagen wollen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse, einschließlich ihrer nichtarbeitenden Teile, verteidigen wollen.

Dazu ist eine eigene Struktur nötig. Es reicht nicht, in den Strukturen der Gewerkschaft für "andere Mehrheiten" zu kämpfen, wie es etwa die DKP propagiert. Diese Strukturen sind undemokratisch, sie schanzen den Betriebsratsfürsten und den Hauptamtlichen alle Machtmittel zu, sie benachteiligen Frauen, MigrantInnen, Jugendliche und prekär Beschäftigte. Eine "Vernetzung" zur Information und Diskussion nach dem Muster der bestehenden Gewerkschaftslinken reicht also keineswegs.

Neue Strukturen

Solche eigenständigen Strukturen sind nötig, um die Bürokratie ernsthaft zu bekämpfen, um in den Kämpfen organisiert eingreifen zu können und um den Verrat der Spitzen zu durchkreuzen bzw., um selbst Kämpfe zu organisieren. Es reicht eben nicht, á la MLPD die Bürokraten nur zu denunzieren und zu beschimpfen - dazu ist Kampf nötig.

Die Tatsache, dass die heutige Führung mit ihrem Verrat die Bewegung des Jahres 2004 stoppen konnte, belegt, dass sie leider noch großen Einfluss hat. Das ist kein positiver Einfluss. Kaum einer jubelt ihr zu deswegen. Viele stimmen ihr zu, dass das Kapital eben so stark sei, dass man eben nachgeben müssen, dass man eben nichts erreiche mit Protesten ...

Um diese Mehrheit der Klasse gilt es zu kämpfen! Wir müssen den Einfluss der Bürokratie brechen, den sie auf diese Mehrheit hat. Das geht nur in den Gewerkschaften und in den Betrieben. Selbst wenn heute eine Minderheit aus den Gewerkschaften ausgeschlossen würde und gezwungen wäre, sich außerhalb zu organisieren, der Kampf um die Leute, die in den alten Gewerkschaften verbleiben, darf man nicht deswegen aufgeben.

Die klassenkämpferische Basisbewegung muss also dafür eintreten, die Gewerkschaften für die Basis zurück zu erobern, sie wieder zu Kampfinstrumenten zu machen, sie demokratisch zu gestalten und den Händen der Bürokraten zu entreißen. Alle Funktionäre müssen jederzeit abwählbar sein. Keiner darf mehr als ein Facharbeitergehalt verdienen. Die Betriebsräte müssen den Vertrauensleuten und Betriebsgruppen untergeordent und direkt verantwortlich sien. Wir brauchen die volle demokratische Diskussion, jedeR hat das Recht, seine Meinung in den Zeitungen und Flugblättern der Gewerkschaft zu verbreiten, nicht nur die Bonzen.

Keine Frage: solche Forderungen werden auf den schärfsten Widerstand der Bürokratie stoßen. Wenn sie von Gewerkschaft reden, meinen sie sich selbst; wenn sie nach ihrem Weg aus der Krise suchen, wie in der erwähnten Studie, dann geht das nur durch sie selbst: "Der Turnaround (die Wende aus der Krise; Anm. d. Red) ist machbar ... Voraussetzung für den Erfolg sind dabei Führbarkeit der Organisation und Führungsstärke der Verantwortlichen."

Widerstand der Bürokratie

Dabei würde ja die Anpassung ihrer Gehälter an einen Facharbeiterlohn gewaltige Mittel freisetzen für offensive und wirkungsvolle Arbeit! (Die Anpassung der Pensionen übrigens noch mehr: zu ihrer Zeit als Hauptamtliche haben sich die heutigen Gewerkschaftsrentner Betriebsrenten verpasst, die ihnen rund 100% ihr letzten Einkommens sichern.)

Die Spitzen der Bürokratie sehen also den Turnaround am Horizont und die Notwendigkeit zum Handeln. Allein ihnen fehlt der Glaube. Am Ende ihrer Beratungen sollten alle Mitglieder der Planungsgruppe zur Rettung des DGB zu allen Vorschlägen Punkte verteilen für das "entscheidenste Vorhaben" und das wichtigste Vorhaben, das real möglich ist. Die meisten Punkte (11) für das entscheidenste Vorhaben erhielt "Führbarkeit und Führungsverhalten". Als real umsetzbar sahen es nur zwei. So weit zum Vertrauen der Bürokratie in ihre Fähigkeit, die große Aufgabe zu meistern und "ihre Gewerkschaft" zu retten.

Wir sollten sie einfach von dieser Aufgabe befreien. Die Arbeiterklasse braucht Gewerkschaften und kämpferische Gewerkschaften - aber ohne Bürokraten!

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Nr. 100, Mai 2005

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