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Türkei

Der Krieg gegen die KurdInnen und die HDP

Svenja Spunck, Neue Internationale 206, Februar 2016

Im Osten der Türkei herrscht Krieg - und das nicht erst seit zwei Wochen. Bereits seit den Wahlen im Juni tyrannisiert das türkische Militär nicht nur die dort lebende Bevölkerung, sondern bombardiert auch Menschen im Nord-Irak und Syrien. Dabei geht es vor allem um die Zerschlagung der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung, deren größte Organisationen die PKK und die PYD in Nord-Syrien sind. Der Waffenstillstand zwischen der türkischen Regierung und der PKK wurde für beendet erklärt. Es herrscht regelrechter Bürgerkrieg in Städten und Dörfern, weit entfernt vom westlichen Ankara oder Istanbul.

Lage im Osten

Obwohl die Unterstützung für die kurdische Nationalbewegung abgenommen hat, wie man an den Wahlen erkennen konnte, erklärte die PKK Nusaybin, Diyarbakir und Sirnak zu autonomen Regionen. Die gerade frisch gestärkte AKP lässt sich das natürlich nicht gefallen und verhängt täglich Ausgangssperren in diesen Gebieten. Seit August gab es bereits 52 Sperren; 1,5 Millionen Menschen waren betroffen. Wer sich dennoch auf die Straße wagt, und sei es nur, um bereits Verwundete ins Krankenhaus zu bringen, muss mit Erschießung rechnen. Aus dem Stadtviertel Sur in Diyarbakir ist der Großteil der Bevölkerung geflohen. Bisher verloren 140 ZivilistInnen ihr Leben. Kein Tag vergeht, an dem kurdische Nachrichten nicht über tote Jugendliche berichten, kein Tag, an dem die türkischen Medien nicht von kurdischen Terroristen sprechen.

Am 28. November wurde dann der kurdische Anwalt Tahir Elçi auf offener Straße in Diyarbakir erschossen, unmittelbar nachdem er bei einer Pressekonferenz erklärte, dass die PKK für ihn keine Terrororganisation sei und er wegen seiner Meinung viele Todesdrohungen bekomme. Obwohl die Schießerei sogar gefilmt wurde, ist bis jetzt nicht klar, wer Elçi tatsächlich ermordet hat. Doch eins steht fest: Ohne Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung wäre ein solcher Vorfall gar nicht erst zu Stande gekommen. Damit einher gehen Verhaftungen von BürgermeisterInnen aus den kurdischen Gebieten, demokratisch gewählten PolitikerInnen also, die sich nicht an den Regierungskurs aus Ankara halten.

In den letzten Wochen ist die Lage nun weiter eskaliert. Auf eine Ausgangssperre folgt die nächste und Panzer rollen durch die Straßen von Diyarbakir. Besonders beunruhigend war die folgende Nachricht: Der türkische Staat forderte per SMS LehrerInnen und auch Gesundheitspersonal dazu auf, die kurdischen Städte zu verlassen und in ihre türkischen Heimatstädte zu fahren. Diesem Aufruf folgten viele, nur organisierte GewerkschafterInnen und KurdInnen blieben vor Ort. Die Gewerkschaften DISK und KESK hatten in den Regionen zum Streik aufgerufen, der jedoch auf Grund mangelnder Mobilisierung marginal ausfiel. Es ist in der Türkei gängige Praxis, regierungsnähere TürkInnen in kurdische Städte zu schicken, um dort zu lehren. Dadurch soll sicher gestellt werden, dass der Lehrplan eingehalten wird und keine kontroversen Themen diskutiert werden. Seitdem werden Schulen als Stützpunkte der Armee und Waffenlager genutzt. Die Bevölkerung hat berechtigte Angst vor einem Massaker, bei dem es möglichst wenig ZeugInnen geben soll.

Die Erklärung der Regierung, wörtlich Ahmed Davutoglu, lautet, auch er sei nicht begeistert von Ausgangssperren, diese dienten jedoch dem Schutz der Zivilbevölkerung. Wenn es erforderlich sei, so fuhr er fort, würde man jedoch Haus für Haus von Terroristen „säubern“.

Bei genauer Betrachtung der bisherigen Opfer dieses Kampfes ist die Definition eines „Terroristen“ so weitläufig, dass auch der Tod von kleinen Kindern und Greisen als erfolgreicher Kampf gegen die PKK bezeichnet wird. Dies führt natürlich keineswegs zur Schwächung der PKK, im Gegenteil, es radikalisiert die kurdische Bevölkerung, denn jedes potentielle Opfer kümmert sich um potentielle Selbstverteidigung. Die PKK nutzt zivile Wohnhäuser als Stützpunkte, ist jedoch gleichzeitig keine irgendwie demokratisch organisierte Kampfstruktur, die tatsächlich den kurdischen Befreiungskampf zu einem Ziel führen kann.

Politik und Strategie der HDP

Kurdische Jugendliche, die den PKK-Chef als Symbolfigur verehren, riskieren Repressionen vom türkischen Staat, wenn sie Kundgebungen für ihn organisieren. Aber das darf weder gegenüber dem Personenkult um Abdullah Öcalan blind machen noch gegenüber dem Scheitern seiner politischen Strategie.

Die aktuellen Ereignisse zeigen deutlich, dass es nach wie vor eine tiefe Spaltung im Land zwischen Ost und West, zwischen Land und Stadt, zwischen KurdInnen und TürkInnen gibt - auch in der Linken. Die bis vor kurzem noch hoffnungsvoll betrachtete HDP äußerte sich erst kaum zu den Geschehnissen, rief symbolisch zum Frieden auf, ohne die Schuldigen des Krieges zu benennen und praktische Schritte zu unternehmen. Einige ihrer Abgeordneten fuhren in die betroffenen Gebiete und wurden ebenfalls von Sicherheitskräften angegriffen. Was folgt, ist eine empörte Rede im Parlament, die die Mehrheit der AKP-Abgeordneten wohl recht wenig interessiert.

Die HDP beweist nun traurigerweise, was viele Linke und sozialistische Gruppen über sie sagen: sie sei ein Wahlbündnis gewesen und mehr nicht. Auf ihrem zweiten Kongress, der am Wochenende 23./24. Januar in Ankara stattfand, war ein deutlicher Rechtsruck der Partei zu erkennen.

Verfassungsfrage

Das zeigte sich zum Beispiel an der Verfassungsfrage wie überhaupt an der Haltung zur aktuellen Regierung, die einen Krieg gegen das kurdische Volk führt.

Das erklärte Ziel Erdogans und der AKP ist nach wie vor eine Änderung der Verfassung zu Gunsten des Präsidenten. Dafür soll eine Kommission einberufen werden, zu der alle im Parlament vertretenen Parteien eingeladen sind. Zur Verfassungsänderung fehlen der AKP nämlich 14 Stimmen, die sie dabei einwerben will. Nachdem erst nicht klar war, ob sich die linkeren Abgeordneten der HDP durchsetzen konnten, welche diese Kommission boykottieren wollen, verkündete Demirtas nun, dass die HDP teilnehmen und mit der AKP in Dialog treten wolle.

Er betonte zwar, dass beide Parteien unterschiedliche Lösungsansätze der kurdischen Frage hätten, schürte aber die absurde Illusion, auf moralistische Weise tatsächlich Einfluss auf die, wie er es selbst ausdrückte, „faschistoide“ AKP ausüben zu können. Ziel der HDP ist es, die in Ankara konzentrierte Macht auf lokale Verwaltungen zu verteilen und somit auch die kurdischen Regionen im Osten zu stärken. Natürlich ist dies keineswegs im Interesse Erdogans, der ja genau an dieser auf ihn fokussierten Politik seit Jahren arbeitet.

Was die HDP jetzt fordern sollte, ist der sofortige Abzug des gesamten türkischen Militärs aus dem Osten des Landes sowie die Einstellung der Angriffe auf Syrien und den Irak. Eine politische und soziale Alternative muss her: Weder die Guerilla-Taktik noch das hohle Geschwafel über Völkerfreundschaft werden die Spaltung des Landes überwinden.

Stattdessen muss auf die wahren Konflikte hingewiesen werden: Auch in der Türkei ist die Gesellschaft geteilt durch Klassenunterschiede. Zudem ist die Türkei ein künstlich geschaffener Nationalstaat, der auf der Unterdrückung ethnischer Minderheiten basiert. Demokratische Selbstverteidigungsstrukturen der Bevölkerung müssen gebildet werden, die sich gegen die Angriffe des türkischen Militärs und faschistischer sowie islamistischer Kräfte wehren können. Auch die Solidarität aus dem Westen der Türkei spielt eine wichtige Rolle. In den großen Städten hört man zwar, was passiert, doch jede Nachricht vermischt sich oft mit dem Gefühl, dass der Ort des Geschehens irgendwie doch sehr weit entfernt sei. Der Ort des Geschehens vielleicht, doch der Sitz der Verantwortlichen, der ist im Westen.

Was tun?

Die HDP war die Partei der Hoffnung fast aller Linken in der Türkei, doch sie scheint an Kampfeskraft zu verlieren. Aufgabe der SozialistInnen in der HDP ist es, für ein revolutionäres und klassenkämpferisches Programm zu kämpfen, die linken Teile an sich zu binden, wieder in Aktion zu treten.

Dafür eine Mehrheit in der HDP zu gewinnen, ist schwer, ja unwahrscheinlich. Aber es führt kein Weg daran vorbei, die revolutionären, auf einem Klassenstandpunkt stehenden Teile um ein Aktionsprogramm zu sammeln, den Kampf dafür aufzunehmen, dass die HDP zu einer ArbeiterInnenpartei wird, oder die Bildung einer solchen außerhalb der HDP vorzubereiten.

So wichtig die Einheitsfront mit kurdischen NationalistInnen gegen Regierung und Staatsapparat, gegen Kapitalisten und Großgrundbesitzer auch weiter sein wird - die sozialistischen, an der ArbeiterInnenklasse orientierten Kräfte müssen sich politisch formieren und aufhören, sich in der HDP einem kleinbürgerlich-nationalistischen Programm unterzuordnen.

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Nr. 206, Februar 2016
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