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Ukraine

Was kommt nach dem Waffenstillstand?

Martin Suchanek, Neue Internationale 193, Oktober 2014

Nach Monaten des Bürgerkriegs in der Ukraine wurde am 7. September mit dem Abkommen von Minsk ein Waffenstillstand zwischen der Kiewer Regierung und den Aufständischen in Donezk und Lugansk vereinbart. Damit ist die offene militärische Konfrontation vorerst beendet - die großen Probleme des Landes sind damit natürlich nicht gelöst.

Das Abkommen von Minsk

Der Waffenstillstand sieht zuerst eine Feuerpause und den Austausch von hunderten Gefangenen auf beiden Seiten vor. Illegale Militäreinheiten, Kämpfer und Söldner hätten das Land zu verlassen, ein Amnestiegesetz soll Aufständische vor Strafverfolgung schützen. Darüber hinaus hält das Abkommen fest, dass Donezk und Lugansk Teil der Ukraine bleiben sollen, jedoch mit weitgehender Autonomie in finanzieller, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Ferner sollen möglichst rasch Kommunalwahlen im Osten des Landes abgehalten werden.

Man muss kein großes politische Genie sein, um zu erkennen, dass diese Vereinbarung fast ebenso viele „Abmachungen“, wie strittige Punkte enthält, die in Zukunft im Kampf entschieden werden und keineswegs als sichere Abmachung gelten können. Wer legt z.B. fest, was eine „illegale Militäreinheit“ ist? Wer sichert wem Straffreiheit auf welchem Gebiet zu?

Vollkommen unklar ist, wer die bewaffneten Kräfte in einer zukünftigen Ostukraine organisieren kann oder darf. Erst gar nicht behandelt ist die Frage, wem die großen Unternehmen im Osten der Ukraine in Zukunft gehören sollen. Die dortigen Oligarchen wurden enteignet. Natürlich wollen sie „ihr“ Eigentum zurückhaben - so wie die Bevölkerung in Lugansk und Donezk diese den Räubern, Plünderern, den ostukrainischen Monopolkapitalisten sicher nicht wieder übergeben will.

Dass das Abkommen zustande kam, lässt sich leicht erklären. Die ukrainische Armee und ihre faschistischen und nationalistischen Hilfstruppen (Nationalgarde, Freiwilligenbataillone) standen kurz vor der militärischen Niederlage. Da war es für Poroschenko und Co. das geringere Übel, sich mit „illegalen“ Separatisten an einen Tisch zu setzen. Monatelang hatte die Kiewer Putschistenregierung, die ohne Unterstützung der westlichen Imperialisten kaum überlebensfähig ist, jede offizielle Beziehung zu den Volksrepubliken im Osten abgelehnt - und damit natürlich jede Verhandlungslösung praktisch unmöglich gemacht. Erst das Steckenbleiben ihrer Offensive und die drohende Einkesselung ihrer Verbände haben zu einem „Gesinnungswandel“ geführt.

Nun saßen die Vertreter des ukrainischen Präsidentschaft und die „Gouverneure“ von Donezk und Lugansk am Minsker Verhandlungstisch. Ausgehandelt wurde das Abkommen von der OSZE unter Einbindung Russlands und natürlich auch der EU.

Zweifellos stellt das Abkommen eine diplomatische Niederlage der ukrainischen Regierung dar. Ein wirklicher Sieg der Aufständischen ist es aber auch nicht.

Kräfte an Kiews Seite

Auf Seiten der Kiewer Regierung waren es v.a. die Präsidentschaft um Poroschenko und sein „politischer Block“, die für das Abkommen eintraten. In der Ukraine repräsentieren sie heute v.a. das Bündnis mit der EU und den führenden europäischen imperialistischen Mächten.

Es ist daher kein Wunder, dass Poroschenko nicht nur von den Faschisten (Swoboda, Rechter Sektor, Lyaschko) massiv wegen „Verrats“ angegriffen wird. Auch die „Vaterlandspartei“ um Julia Timoschenko und der ehemalige Ministerpräsident Jazenjuk, der mit dem Wahlbündnis „Volksfront“ (bestehend aus Teilen der Vaterlandspartei, aber auch Faschisten wie der „Sozial-Nationalen Partei“ um ehemalige „Maidan-Kommandeure“) Ende Oktober zur Parlamentswahl antreten wird, greifen Poroschenko von rechts an.

Darin sehen sie auch den einzigen Weg, eine Wahlniederlage zu verhindern. Ob das gelingt, ist zweifelhaft, weil sie erstens gespalten, zweitens aber selbst in dem Widerspruch gefangen sind, Poroschenko einerseits „Kapitulation“ vorzuwerfen, zum anderen jedoch selbst eingestehen müssen, dass die Ukraine Armee nicht in der Lage war zu siegen.

Das ändert natürlich nichts daran, dass diese Kräfte jede Chance nutzen werden, einen neuen Feldzug gegen den Osten zu fordern, sobald sie die Zeit dafür gekommen sind. Außenpolitisch setzen sie auf die USA und ihrer engeren Verbündeten in der EU. Für sie ist vollkommen klar, dass der Osten des Landes wieder unter die ungebrochene Herrschaft Kiews und des westlichen Imperialismus kommen soll, was nicht zuletzt durch Jazenjuks Lieblingsprojekt illustriert wird, eine Mauer an der Grenze zu Russland zu errichten.

Wie das Beispiel von Jazenjuks „Volksfront“ zeigt, ist auch der Übergang von „demokratischen“ nationalistischen Hetzern, imperialistischen Gefolgsleuten, Oligarchen-Marionetten zu den faschistischen Gruppierungen oft fließend. Im Bürgerkrieg konnten diese sich weiter bewaffnen und bilden heute einen beachtlichen Teil des Repressionsapparates (v.a. die „Nationalgrade“).

Es ist also klar, dass der Waffenstillstand für diese Fraktionen, die allesamt eine Ukraine als Anhängsel des westlichen Imperialismus wollen, die allesamt mehr oder weniger aggressiv nationalistisch sind und die „natürlich“ die Betriebe im Osten ihren „rechtmäßigen Besitzern“, also Oligarchen vom Schlage Achmetows, zurückgeben wollen, nur eine Feuerpause darstellt, ihre Kräfte für den nächsten Schlag gegen die Arbeiterklasse (nicht nur im Osten des Landes) zu sammeln. Dieser muss natürlich nicht zwangsläufig oder in erster Linie militärisch sein - er wird aber unvermeidlich kommen.

Allerdings ist das Kiewer Lager von eigenen inneren Widersprüchen gekennzeichnet, die es in der nächsten Periode zu nutzen gilt.

Erstens gibt es einen realen Gegensatz zwischen Poroschenko und der EU/Deutschland einerseits und zwischen Jazenjuk und den USA andererseits. Das betrifft die Haltung zu einem möglichen Arrangement mit Russland. Deutschland u.a. EU-Staaten haben ein Interesse, einen für sie möglichst profitablen Kompromiss mit Russland zu schließen.

Die USA andererseits wollen, dass es an der Grenze zwischen zwei imperialistischen Rivalen bei einem Dauerkonflikt bleibt, der politische, militärische, diplomatische Ressourcen von beiden bindet. Daher wird auch v.a. von den USA und ihren engeren Verbündeten die NATO-Integration der Ukraine (gemeinsame Manöver) und die Aufrüstung der ukrainischen Armee wie der Frontstaaten zu Russland vorangetrieben.

Aktuell findet das aber seine Grenze in den mangelnden Ressourcen Kiews, dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes inklusive drohenden Staatsbankrott, der eigentlich nur durch imperialistische Hilfe verhindert werden kann sowie in der Kriegsmüdigkeit von Teilen der ukrainischen Bevölkerung.

Poroschenko versucht vor diesem Hintergrund, die Parlamentswahlen zu nutzen, um seiner Herrschaft ein demokratisches Mäntelchen zu geben und das Kräfteverhältnis weiter zu seinen Gunsten zu verschieben.

Von wirklich demokratischen Wahlen kann natürlich nicht gesprochen werden. Nicht nur ist der Osten ausgeschlossen, auch wenn die Kiewer Regierung Pseudowahlen durchziehen will, indem in Lugansk und Donezk gemeldete BürgerInnen Abgeordnete für ihre Bezirke in anderen Landesteilen wählen dürfen. Hinzu kommt, dass ein Wahlkampf aller Parteien, die sich offen gegen die Kiewer Regierung stellen, praktisch nicht möglich ist. Die Kommunistisch Partei ist zwar noch nicht verboten, befindet sich aber in einem Zustand der Halb-Legalität. Öffentliche Versammlungen werden von Faschisten gesprengt, TeilnehmerInnen zusammengeschlagen, in einzelnen Fällen auch ermordet. GenossInnen der KP, aber auch von linken, sozialistischen Organisation wie Borotba werden verfolgt, festgenommen und des „Terrorismus“ angeklagt.

Der Osten

All das zeigt einmal mehr den erzreaktionären Charakter der Kiewer „Demokratie“, einer Allianz aus Oligarchen, Nationalisten und Faschisten. Mag diese auch ihre inneren Gegensätze haben - gegen die Arbeiterklasse und gegen alle Unterdrückten bilden sie einen Block.

Wir dürfen nicht vergessen, dass es diese Regierung war, die den Krieg gegen den Osten der Ukraine, gegen Donezk und Lugansk angezettelt hat. Das „Verbrechen“ der dortigen Aufständischen bestand einfach nur darin, dass sie sich gegen die Putschistenregierung gewehrt haben, um faschistische Massaker wie in Odessa, die nationale Unterdrückung der russisch-sprachigen Bevölkerung und die Zerschlagung der Arbeiterklasse im Osten im Zuge der Zerstörung der Industrie infolge der EU-Konkurrenz zu verhindern.

Die Kiewer Regierung, der westliche Imperialismus, aber auch etliche „Linke“ stellen es gern so hin, dass sie gezwungen war, ihren Feldzug vorerst aufzugeben und den Waffenstillstand zu unterzeichnen - wegen einer wirklichen oder drohenden „russischen Invasion“.

Ohne Zweifel gab es, v.a. seit dem Sommer 2014, mehr Unterstützung aus Russland. Aber erstens umfassten die Selbstverteidigungseinheiten von Donezk und Lugansk insgesamt rund 35-40.000 - und selbst die höchsten Zahlen der westlichen Presse bezüglich der russischen Kämpfer und Söldner gehen nicht über 5.000 hinaus.

Von einer „russischen Invasion“ kann also keine Rede sein. Anderes als das Kiewer Regime jedoch hatten die Volksrepubliken die Bevölkerung auf ihrer Seite. Sie drückten einen realen Willen aus, dass sich die Massen nicht unter das Kiewer Diktat begeben wollten - so widersprüchlich und unklar ihre sonstigen Perspektiven auch sein sollten.

Das zeigt sich selbst in den Interviews, die ARD und ZDF nun aus dem Osten der Ukraine bringen, wo selbst deren ReporterInnen kaum UnterstüzerInnen der Kiewer Regierung zu finden vermögen.

Kein Wunder, waren es doch diese vorgeblichen „Befreier“, die ganze Wohnviertel und die Produktionsanlagen, Bergwerke usw. bombardierten, die faschistische Mörderbanden bewaffneten und die Ostukrainer als „Untermenschen“ betrachten.

Kein Wunder, dass rund eine Million EinwohnerInnen von Donezk und Lugansk (also rund ein Sechstel der Bevölkerung) nicht auf das Gebiet ihrer vorgeblichen „Befreier“, sondern ins „Reich des Bösen“, nach Russland geflohen ist.

Kein Wunder, wenn die ukrainische Regierung erst auf die Idee kam, einen „Hilfskonvoi“ für die Not leidende Bevölkerung zusammenzustellen, nachdem Russland hunderte LKW - sicher auch zu Propagandazwecken - Richtung Lugansk geschickt hatte.

Natürlich verfolgt Russland bei all dem seine eigenen wirtschaftlichen, politischen, geostrategischen imperialistischen Interessen. Zweifellos versucht die Regierung Putin, die Volksrepubliken in diesem Sinn zu nutzen und zu ihrem Instrument zu machen.

Doch das ändert erstens noch nichts am gerechtfertigten Kampf gegen die Kiewer Regierung. Zweitens zeigt auch die reale politische Entwicklung, dass die Interessen Russland und der Volksrepubliken - ganz zu schweigen von ihrer Bevölkerung - keineswegs deckungsgleich sind.

Entgegen allen westlichen und ukrainischen Horrorszenarien will die russische Regierung keine Einverleibung von Donezk und Lugansk. Das läuft nicht nur ihren Wirtschaftsinteressen mit der EU zuwider. Russland müsste auch enorme Summen für den Erhalt und Wiederaufbau der Regionen zahlen - oder massive Unruhen einer stark proletarischen Region mit einer kampferprobten und bewaffneten Bevölkerung in Kauf nehmen. Und schließlich will auch Russland nicht, dass Donezk und Lugansk zu einem Beispiel für die entschädigungslose Enteignung von Oligarchen werden.

Kräftediagramm

In Donezk und Lugansk entwickelt sich zugleich auch unter den „Separatisten“ ein politischer Konflikt grundlegender Art. Erstens ist wie auf Kiewer Seite auch dort der Waffenstillstand umstritten, wird teilweise als „Kapitulation“ bezeichnet. Die entscheidende Konfliktlinie ist jedoch die strategische Zielsetzung der „Volksrepubliken“.

Auf der einen Seite finden sich im Bürgerkrieg gestärkte russisch-nationalistische Kräfte, die die endgültige Lostrennung von der Ukraine wollen. Für sie ist die Schaffung von Novarussia (Neurussland) das eigentliche Ziel. Ein Anschluss an Russland ist für sie eine Option, wenn auch nicht zwingend. In jedem Fall geht es um enge Partnerschaft. Ihnen schwebt natürlich ein kapitalistisches Neurussland vor, ein korporatistischer Staat. Anders als Putin (und natürlich erst recht die ukrainischen Oligarchen) wollen sie die enteigneten Fabriken den Oligarchen nicht zurückgeben.

Ihnen gegenüber stehen die „KommunistInnen“. Dieser Sammelbegriff umfasst die KP von Donzek und Lugansk, die sich praktisch von der Ukrainischen KP selbstständig gemacht hat, AktivistInnen radikalerer sozialistischer und kommunistischer Gruppen  sowie KämpferInnen, die im Bürgerkrieg politisiert wurden. Sie planen die Gründung einer gemeinsamen Partei, der „Kommunistischen Partei des Donbas“.

Sie vertreten die Auffassung, dass der Kampf in Lugansk und Donezk „nur“ der Ausgangspunkt für den Kampf zum Sturz der Kiewer Regierung im ganzen Land wäre. Sie wollen eine „gerechte Gesellschaft“ in der gesamten Ukraine, den Erhalt des ukrainischen Staates, ohne Oligarchen und korrupte Bürokratie.

Ihr Programm ist eine Mischung aus linkem Reformismus und Populismus. Es ist aber sicherlich ein Ausdruck, den Aufstand im Osten zum Sprungbrett grundlegender sozialer Veränderungen zu machen. Die radikalsten Teile sprechen ähnlich wie Borotba von einer sozialistischen Umwälzung.

In all dem drückt sich aus, dass es im Osten der Ukraine nicht nur „Marionetten“ gab und gibt, sondern eine reale Massenbasis des Kampfes und einen politischen Differenzierungsprozess, der durch den Bürgerkrieg vorangetrieben wurde.

Ähnlich wie auf Kiewer Seite kommt es auch in diesen Regionen zu einer Neuformierung der Kräfte in Vorbereitung auf die unvermeidlichen nächsten Kämpfe. Die Wahlen in Donezk und Lugansk, die wahrscheinlich im November stattfinden, werden auch ein erster Test des Kräfteverhältnisses sein.

Als revolutionäre KommunistInnen haben wir von Beginn an die anti-faschistische, sozialistische Linke (insbesondere Borotba) im Kampf gegen die Kiewer Regierung aus Oligarchen, Neo-Liberalen und Faschisten unterstützt - trotz politischer und programmatischer Differenzen. Unsere Solidarität gilt auch heute diesen GenossInnen. Der Kampf gegen das Kiewer Regime, der Kampf für eine unabhängige, sozialistische Ukraine ist mit dem Waffenstillstand nicht beendet - er kommt vielmehr in eine neue Phase, wo die Eigentumsfrage und die Machtfrage klarer für das ganze Land hervortreten werden.

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