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Fussball-WM in Brasilien

FIFA, Profit, Widerstand

Rico Rodrigues, Neue Internationale 190, Juni 2014

Das Jahr 2014 wird politisch sehr wichtig für Brasilien. Am 12. Juni beginnt die Fußball-WM, im Oktober sind Präsidentschafts-, Gouverneurs- und Parlamentswahlen. Als die Regierung, damals noch unter Lula, die WM nach Brasilien holte, glaubten vermutlich alle, dass das eine sichere Nummer wird. Schließlich ist kein Volk auf der Welt begeisterter für Fußball als die BrasilianerInnen. Erst die WM, dann die sichere Wiederwahl für die PT (Arbeiterpartei). Doch das Land gleicht kurz vor der WM einem sozialen Dampfkessel, niemand weiß, ob und wann er explodieren wird. Damit hatten die Oberen mit Sicherheit nicht gerechnet.

Bereits 2013, während der Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen, rückte die FIFA in den Fokus der Proteste. Damals waren auf dem Höhepunkt über eine Million Menschen auf der Straße. Der Unmut über die WM und die damit zusammenhängende Politik drückte sich in dem Slogan „Bildung und Gesundheit nach FIFA-Standard“ aus, der massenweise auf den Demonstrationen zu sehen war.

Die Botschaft ist klar: Während für die Masse der Bevölkerung die Lage prekär ist und v.a. in den Großstädten immer prekärer wird (Öffentlicher Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnung), werden für die FIFA exklusiv alle politischen Vorkehrungen im Handumdrehen beschlossen und dazu noch ein Haufen Geld in die Hand genommen.

Mit ca.10 Milliarden Euro staatlicher Ausgaben (für Stadien, Infrastruktur und Flughäfen) ist diese WM die teuerste aller Zeiten. Die Kosten - insbesondere für die Stadien - sind vier Mal so hoch wie ursprünglich geplant. Dazu kommen ca. 400 Mill. an Steuererleichterungen für die FIFA und ihre Partner, Ausgaben für den Sicherheitsapparat in unbekannter Höhe und öffentliche Kredite über die Entwicklungsbank BNDES.

Im Zuge der Bauvorhaben im Zusammenhang mit der WM (Stadien und Infrastruktur) wurden insgesamt ca. 250.000 Menschen zwangsumgesiedelt. Allein in Rio waren es 70.000. Die nationale Gesetzgebung wurde oft gebrochen, Entschädigungen wurden oft nicht, zu niedrig oder erst nach jahrelangem juristischem Kampf bezahlt. Die Infrastrukturprojekte kommen natürlich in erster Linie den TouristInnen und den oberen Schichten zu Gute. In Rio wird eine super teure U-Bahn-Linie ins Reichenviertel Barra da Tijuca gebaut, während der Zug in die armen Stadtteile im Norden eher einem Viehtransport gleicht.

Dazu kommt die exklusive Gesetzgebung für die FIFA, die viele Menschen empört. Die brasilianische Arbeiterklasse kämpft seit einem Jahrhundert für ihre Rechte, selbst kleine Reformen werden nur mühselig den Kapitalisten abgerungen. Eine Initiative zur Erhöhungen der Grundsteuer für Reiche wurde in Sao Paulo bereits zweimal von den Gerichten niedergeschmettert. Für die FIFA aber wird mal eben ohne Probleme eine ganze Reihe von Sondergesetzen mit Privilegien verabschiedet: das Gesetz für die WM (Lei Geral da Copa), ein Gesetz, das Kommunen zusätzliche Verschuldung für Ausgaben für die WM erlaubt, ein Gesetz zur kompletten Steuerbefreiung für die FIFA und ihre Partner usw. In Diskussion sind natürlich noch Sondergesetze zur Repression und Einschränkung von Demonstrationen während der WM.

Und so wird wieder einmal v.a. die FIFA vom Fussball-Spektakel profitieren. Der Verband rechnet momentan mit einem Gewinn von 2,7 Milliarden US-Dollar. Um alle Stadien herum sind Sonderzonen eingerichtet, in denen nur offizielle Partner verkaufen dürfen. Alle Straßenhändler werden verbannt, wenn nötig mit Polizeigewalt. 170.000 PolizistInnen sind insgesamt von Präsidentin Dilma eingeplant. Die Extra-Schulung der Cops übernahm Academi (ehemals Blackwater). Dilma hat angekündigt, dass auch die Armee in Bereitschaft ist.

Es brodelt an der Basis

Die FIFA gleicht also einem Mafia-Verband, der von einem Land zum nächsten zieht und es ausnimmt. Aktuell hat das Bekanntwerden der Bestechungen bei der WM-Bewerbung von Katar dieses Bild noch erhärtet. Von daher ist es sehr positiv, dass ausgerechnet im Fußball-Land Brasilien jetzt Demonstrationen, Proteste und Streiks das internationale Medienbild beherrschen.

Nach der Massenbewegung letztes Jahr kann auch dieses Jahr wieder alles passieren. Unmut gibt es genug - schon deshalb, weil keine der geforderten Reformen durchgeführt wurde. Es gibt Proteste an allen Ecken und Enden.

Zum einen gibt es die „Comitês Populares da Copa“, Basiskomitees, die Demonstrationen organisieren und versuchen, die Betroffenen einzubeziehen. Diese Komitees sind von AnarchistInnen und KommunistInnen organisiert und existieren in allen 12 WM-Städten. Am 15. Mai war zu einem nationalen Protesttag aufgerufen worden. Zwar war die Beteiligung mit geschätzten 10 -15.000 eher enttäuschend, aber die Komitees machen weiter.

Am 22. April wurde in der Favela „Pavaozinho“ in Rio, am Rand der Viertel Copacabana und Ipanema, der Tänzer Douglas da Silva Pereira von der Polizei erschossen. Der Täter, der offiziell noch nicht bekannt ist, war nach aller Wahrscheinlichkeit ein Beamter der „Polizei des Friedens“ (Polícia da Pacificacao), die verschiedene Favelas in Rio seit Jahren militärisch besetzt und „befriedet“. Daraufhin protestierten BewohnerInnen mit einer militanten Demonstration durch die Reichenviertel und zündeten Barrikaden an. Und das kurz vor der WM, wo doch in Copacabana die Touristen Strand und Sonne genießen sollen. PolitikerInnen und FIFA sind zu recht nervös.

Eine weitere große Protestwelle hat Sao Paulo erfasst. Im Mai wurde die Stadt von einem Streik der BusfahrerInnen erschüttert. Jetzt mobilisiert die Hausbesetzerbewegung MTST für ihre Forderungen. Am 23. Mai organisierte sie eine Demonstration mit 15.000. Am 28. Mai zogen 2.500 vor das Stadtparlament und forderten die Legalisierung der Besetzung „Copa do Povo“, im Osten der Stadt - mit Erfolg: Die Fraktion der PT hat unter dem Druck zugesagt, die Forderung zu unterstützen und eine Abstimmung darüber noch vor der WM durchzuführen.

Brasilien vor der Wahl

Die OrganisatorInnen der Proteste wissen, dass die WM ein enorm günstiger Moment ist, um soziale Forderungen durchzusetzen. Die Augen der Welt-Medien sind auf Brasilien gerichtet. Guilherme Boulos, einer der Führer des MTST, hat das auf den Punkt gebracht: „Wir alle wissen, dass die Eröffnung der WM im Itaquerao (Stadion in Sao Paulo) stattfindet. Wenn es bis dahin keine Abstimmung über unsere Forderung gibt, werden eine Menge Leute ohne Karten ins Stadion wollen.“

Niemand kann sagen, was während der WM passieren wird. Vielleicht wird die Situation auch nach der WM, vor den wichtigen Wahlen im Oktober, noch angespannter sein. Bei den Protesten letztes Jahr ist Dilma mit dem Vorschlag einer „Exklusiven verfassunggebenden Versammlung“ zur Durchführung einer grundlegenden politischen Reform vorgeprescht. Der Vorschlag verschwand natürlich genauso schnell wieder in der Schublade, aber ein Teil der Basis der PT, des Gewerkschaftsverbandes CUT und der Landlosenbewegung MST haben den Vorschlag jetzt aufgegriffen und führen eine Kampagne dafür durch. Der Kampagne haben sich auch viele soziale und linke Organisationen angeschlossen.

Das Kalkül der PT ist natürlich, daraus eine Wahlkampagne zu machen, und möglicherweise wird sie das auch schaffen. Aber die diskutierten Vorschläge gehen mittlerweile weit über das hinaus, was Dilma ursprünglich vorgeschlagen hat, und es ist nicht gesagt, dass die PT-Führung die Kontrolle über die Initiative behalten kann. Zudem führt das Thema zu Reibungen mit dem wichtigsten bürgerlichen Koalitionspartner PMDB, der das natürlich strikt ablehnt. Sollte die Kampagne an Fahrt gewinnen und Dilma gezwungen sein, nach links zu gehen, könnte das zu einem Bruch der Wahlallianz führen.

Die Situation ist also auch politisch spannend, und die Wiederwahl von Dilma ist keineswegs in trockenen Tüchern. Von alledem versucht natürlich die Rechte zu profitieren, die nach 12 Jahren endlich wieder ans Ruder will. Doch noch liegt Dilma in den Umfragen weit vorn.

Für die Arbeiterklasse kann es natürlich bei all dem Gezänk nur darum gehen, endlich eine eigene politische Kraft aufzubauen, die unabhängig vom bürgerlichen Staat und von der reformistischen PT-Bürokratie für eine sozialistische Perspektive kämpft. Die Proteste von heute sind ein großes Potential, um die Idee der Schaffung einer neuen, revolutionären Partei zu verbreiten.

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Nr. 190, Juni 2014
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