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Parlamentswahlen in der Türkei

Ende der Alleinherrschaft Erdogans – und dann?

Svenja Spunck/Mahir Gezmis, Infomail 824, 9. Juni 2015

Die Parlamentswahlen in der Türkei am 07. Juni 2015 fanden vor einem besonderen  politischen Hintergrund statt. Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) prägt seit ihrer Übernahme der Regierung vor 13 Jahren das Land mit ihrem islamistisch-konservativen Kurs. Erst im Februar 2015 verabschiedete sie im Parlament ein neues „Sicherheits“gesetz, nach dem Demonstrationen ohne gerichtlichen Beschluss verboten werden und Polizisten auf Demonstranten schießen dürfen. Um weitere repressive Gesetze beschließen zu können, plante Recep Tayyip Erdogan, das Präsidialsystem einzuführen. Dafür wäre eine absolute Mehrheit bei den nationalen Wahlen nötig gewesen.

Für viele Jugendliche und andere sozial Unterdrückte, beispielsweise KurdInnen, Frauen, AlewitInnen (1), AtheistInnen und Homosexuelle schien jedoch eine neue Partei der ersehnte Hoffnungsträger zu sein. Die HDP (Demokratische Partei der Völker) ist die einzige Partei mit einer männlichen und weiblichen Doppelspitze und fordert Gleichberechtigung und friedliches Zusammenleben für alle Menschen, die in der Türkei leben. Dieses Jahr trat die HDP das erste Mal zu den Wahlen an und musste die 10-Prozent-Hürde überwinden (zum Vergleich: in Deutschland sind es 5 Prozent), um ins Parlament einzuziehen. Die HDP wurde als die gefährlichste Oppositionspartei dargestellt. Nicht nur in den Medien wurde gegen sie gehetzt, auch gegen ihre Büros, ihre Wahlveranstaltungen und einzelne UnterstützerInnen gab es Anschläge, bei denen Menschen getötet und schwer verletzt wurden.

Bis zuletzt war noch unklar, ob die HDP diese 10-Prozent-Hürde überwinden würde. Deshalb waren die erreichten 13,1 Prozent ein großer Erfolg, der in der Türkei ausgiebig gefeiert wurde. Die erste große Niederlage seit 13 Jahren musste jedoch die regierende AKP einstecken. Auch wenn sie mit 40,9 Prozent wieder klar stärkste Partei geworden ist, müsste sie nun in einer Koalition regieren. An erster Stelle käme dafür die MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) in Frage. Dies ist eine nationalistisch-faschistische Partei, die bekannt ist für ihre militante Verteidigung des „Türkentums“ und ihre Kompromisslosigkeit in der Kurdenfrage. Dass sie über 5 Prozent mehr als bei den letzten Wahlen erhielt (von ca. 11 auf 16,3 Prozent) ist darauf zurückzuführen, dass sie sich als Bollwerk gegen die kurdische Bewegung darstellte, der sie die Spaltung des Landes und Kooperation mit „Terroristen“ vorwirft. Die kemalistische (2) Partei CHP ist nach wie vor zweitstärkste Partei im Parlament und käme auch als Koalitionspartner in Frage. Besonders unwahrscheinlich ist die Bildung einer Regierung ohne die AKP, die dann aus CHP-MHP-HDP bestünde.

Falls sich jedoch in den nächsten 45 Tagen keine Regierung bildet, muss der Präsident zu Neuwahlen aufrufen. Dabei könnte die HDP wichtige Stimmen verlieren, die aktuell verhindern, dass Erdogan das autoritäre Präsidialsystem einführen kann. Trotz ihrer Niederlage ist die AKP nach wie vor mit großem Abstand die stärkste Partei und ihre politische Macht darf auf keinen Fall unterschätzt werden! Jedoch hat sich Präsident Erdogan, der eigentlich bekannt ist für seine überdimensionale Medienpräsenz, bisher noch nicht zum Ausgang der Wahlen geäußert.

Erfolg der HDP

Vor allem im Osten, in den kurdischen Gebieten, ist die HDP stärkste Partei geworden. Obwohl sie auch Teile der türkischen Linken vereint und diese zu ihrer Wahl aufgerufen haben, ist ihr Einfluss im Westen der Türkei nach wie vor gering. Ihre deutliche Unterstützung der KurdInnen sammelt einige fortschrittliche TürkInnen in ihren Reihen und ist ein Ansatz, um die nationale Spaltung in der Türkei zu überwinden.

Jedoch lenkt die Ideologie der HDP auch ab von der tatsächlichen Spaltung, die zu Unterdrückung und Ausbeutung führt: der Spaltung in Klassen. Nicht allein, ob man TürkIn oder KurdIn ist, entscheidet über politische Fortschrittlichkeit. Die Jugendlichen und die Frauen werden durch die patriarchale Familie überall unterdrückt. Die ArbeiterInnen in Ankara werden an ihrem Arbeitsplatz genau so ausgebeutet wie die ArbeiterInnen in Mardin. Und an keinem Ort in der Türkei ist es leicht, sich als homosexuell zu outen.

Obwohl die HDP sich offen gegen Frauenunterdrückung, Ausbeutung und für sexuelle Freiheit ausspricht, geht ihr Programm nicht an die Wurzeln des Problems. Natürlich muss man den Kampf der KurdInnen gegen den türkischen Staat unterstützen, der ihnen seit Jahren viele Rechte verwehrt. Jedoch wäre ein unabhängiger kurdischer Staat oder ein Gebiet unter kurdischer Selbstverwaltung nicht automatisch sozialistisch und frei von all diesen Problemen. Ebenso wenig wird auf einem parlamentarischen Weg die Enteignung und Vergesellschaftung von Produktionsmitteln durchsetzbar sein.

Zur Zeit befinden sich die herrschende Klasse, die AKP und das ganze politische System in einem Zustand, wo unklar ist, wie es weiter gehen wird, welche Regierung gebildet werden kann. Diese Lage gilt es auszunutzen, und nicht Zeit zu vergeuden, indem gewartet wird, welche Regierung sich die AKP zusammen bastelt. Erst recht gefährlich ist es zu glauben, dass sich Erdogan moralisch belehren ließe.

Für die Ziele, die die HDP erreichen will, ist ein politischer Klassenkampf, sind Massenmobilisierungen notwendig. Der momentane Kurs der HDP, der auf eine bloße Reformierung und punktuelle Veränderung des Staates ausgerichtet ist, wird keine wesentlichen Erfolge erringen, sondern statt dessen zu einer großen Enttäuschung der WählerInnen führen. Daher gilt es für die linken, proletarischen, kämpferischen Teile in der HDP aktiv eine Alternative zu dieser Politik zu entwickeln, einen Flügel aufzubauen, der für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei kämpft – und damit auch für einen Bruch mit der aktuellen Ausrichtung der HDP.

Dazu muss von der HDP gefordert werden, die sozialen Kämpfe im ganzen Land voranzubringen und zu organisieren, die sich gegen die neoliberale Wirtschaft richten, gegen die Unterstützung von reaktionären Kräften wie dem Islamischen Staat und natürlich gegen die Unterdrückung sämtlicher Minderheiten in der Türkei. Ein wichtigter Teil der gesellschaftlichen Basis dafür findet sich bereits in der Wählerschaft der HDP. Dieses große Potenzial, das vor allem in der Jugend liegt, muss nun durch ein revolutionäres, sozialistisches Programm gebündelt werden. Wir sagen deutlich:

Keine Beteiligung der HDP an einer Regierung mit Nationalisten, Islamisten und Faschisten!

Für einen säkularen Staat (Trennung von Staat und Religion)! Für das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes!

Aufbau einer landesweiten ArbeiterInnenpartei und Kampf um ein revolutionäres Programm!

Tek yol- Devrim! One solution- Revolution!

Endnoten

(1) Das Alewitentum bezeichnet eine religiöse Gruppe. Es gibt zwar eine historische Verbindung zum schiitischen Islam, jedoch bezeichnen sich auch viele AlewitInnen nicht als Muslime. Etwas 15 Prozent der EinwohnerInnen in der Türkei sind Alewiten, jedoch sind sie dort bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt.

(2) Der Kemalismus war die Staatsideologie der Türkei, die 1923 unter Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde. Ein besonders wichtiger Aspekt ist der Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, aber auch der Nationalismus, welcher sich gegen ein multiethnisches Staatskonzept richtet. Der Kemalismus verankert das „Türkentum“ in der Verfassung, auf dessen Beleidigung Strafen erfolgen. Durch diese Staatsideologie wurde die Unterdrückung vieler Minderheiten in der Türkei verfestigt und gerechtfertigt, zum Beispiel der Kurden oder Armenier.

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