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Arbeitsmarktreformen

Working poor

Richard Kreuzberg, Neue Internationale 90, Mai 2004

Die Annahme, dass man von Arbeit auch leben können muss, erwiest sich aktuell für immer mehr Leute als Farce. Der neoliberale Angriff auf den staatlich regulierten Arbeitsmarkt bedeutet nicht nur weitere Verschlechterung und zunehmende Verschärfung der Bedingungen von Millionen Arbeitslosen und prekär Beschäftigten. Er ist auch ein Angriff auf die Beschäftigungssituation der Lohnabhängigen.

Regierungserklärung

In seiner Regierungserklärung - der Agenda 2010 - kündigte Schröder einschneidende Maßnahmen an. Unter anderem betonte er:

"... wir haben die Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkungen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmer ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel decken können."

Mit der "Aufhebung bürokratischer Beschränkungen" ist die Schleifung der Arbeitsrechte der Lohnabhängigen gemeint. Das wird z.B. an der Aufhebung der Schutzbestimmungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes deutlich. Mit der Deregulierung des Gesetzes können die Lohnabhängigen allen möglichen Formen von Leiharbeit unterworfen werden. Diese Praxis der Entleihung an die eigenen Unternehmen sowie die Überlassung an Fremdfirmen zeigen u.a. die "Beschäftigungsgesellschaften", wie sie bei Telecom, DaimlerChrysler und anderen Konzernen eingeführt worden sind.

Das Ziel von Kapital und Regierung besteht darin, einerseits die Leiharbeit in Deutschland von derzeit 1,2% auf den europäischen Durchschnitt von 5 % auszuweiten, andererseits die Beschäftigungsverhältnisse so zu flexibilisieren, dass sich das lebendige Arbeitsvermögen völlig den Erfordernissen der Kapitalverwertung unterordnen muss. Das heißt Kostensenkung, Lohneinsparung, Entrechtung durch flexible Verfügungsgewalt des Kapitals.

Die Massenarbeitslosigkeit wirkt zudem nicht nur als Hebel, um den Druck auf die Löhne und die Arbeitszeit zu erhöhen. Mit den Hartz-Gesetzen sollen auch entrechtete Formen der Beschäftigung für Erwerbslose durchgesetzt werden. Das lässt sich verdeutlichen am Kernelement der Hartz-Gesetze, den Personalserviceagenturen (PSA).

Durch die am 1. April 2003 eingeführten PSA wurde ein staatlich flankierter Arbeitszwang etabliert - und somit die Entrechtung der Arbeitslosen und Beschäftigten kodifiziert, die Flexibilisierung und Ausweitung der Leiharbeit vertieft und der Niedriglohnsektor deutlich ausgeweitet.

Die PSA sind in der Regel privatwirtschaftliche Leiharbeitsfirmen, in welche die Arbeitslosen durch Agentur für Arbeit hineingezwungen werden. Die nun in Leiharbeiter Verwandelten müssen jedes Arbeitsangebot annehmen - und zwar zu Tarifen von 5 Euro für ungelernte Tätigkeiten und bis zu 12 Euro für akademische. Hierbei sind allein das zur Verfügung stehende Job-Angebot und nicht die Berufsqualifikation das Kriterium für die Arbeitsaufnahme. Es ist nicht selten, dass eine Buchhändlerin für 5 Euro als Reinigungskraft oder eine Facharbeiter für 6,80 Euro im Call-Center arbeiten muss.

Drehtüreffekt

Dass es bei den geschaffenen PSA zu einem Drehtüreffekt kommt, indem Lohnabhängige entlassen werden, um durch "billige" Leiharbeiter ersetzt zu werden, ist durchaus gewollt.

Durch die Hartz-Gesetze wurde und wird ein repressives und ordnungspolitisches Instrumentarium geschaffen, um Arbeitszwang, Entrechtung, Kostenersparnis etc. durchzusetzen.

Die ehemaligen Arbeitsämter wurden zu Agenturen für Arbeit. Sie sollen fortan nach "marktwirtschaftlichen" Gesichtspunkten arbeiten. Es geht nicht mehr um die Vermittlung von Arbeitslosen, sondern um deren Vermarktung. Die neu geschaffenen „Fallmanager“ müssen nach eben diesen Kriterien arbeiten. Schnelle Vermittlung von Arbeitslosen und Kostensenkung sind der Garant für Leistungsprämien.

Die Sperrzeiten von Arbeitslosengeld und -hilfe haben sich dramatisch auf erhöht - 450.000 sind von ihnen betroffen.

Verändert wurde der Nachweis der Bemühung eines Arbeitslosen um Arbeit. Kann er/sie nicht beweisen, warum er/sie keinen Job bekommt, dann kann er/sie durch Leistungsentzug „diszipliniert“ werden.

Damit die Erwerbslosen schnell vermittelt werden können, sind die Zumutbarkeitsregelungen für die Aufnahme von Lohnarbeit geschliffen worden. Zumutbar ist nun im Grunde jede Arbeit. EU-weit können Arbeitslose nun zu Löhnen eingesetzt werden, die 30% unter den ortsüblichen Tarifen liegen.

Wirkungen auf das Tarifsystem

Dass damit die Tarifsysteme unterminiert werden ist eine Sache. Eine Sauerei ist auch, wenn die Gewerkschaften mit PSAs Tarife von 5 Euro brutto abschließen - was die Löhne anderswo noch einmal um 30% absenkt! Für diese Sauerei sind die Gewerkschaftsspitzen verantwortlich, die so Lohndumping per Tarifvertrag sanktionieren - und damit eine mögliche Regelung des "equal pay" (gleiche Entlohnung) verhindert haben.

Das verdeutlicht, welche Rolle die Gewerkschaftsführungen bei der Neuordnung des Arbeitsmarktes tatsächlich spielen - einer Neuordnung, deren Ziel die Schaffung eines Niedriglohnsektors ist. Diesen gibt es zwar schon lange und er umfasst schon jetzt acht Millionen Lohnabhängige.

Für die Unternehmer sind die Niedriglöhne aber noch immer zu hoch. Sie sollen generell auf das Niveau der Sozialhilfe gedrückt werden. Um das zu erreichen, wird das Arbeitslosengeld II eingeführt. Für 345 Euro West und 331 Euro Ost können dann Arbeitslose zur Arbeit gezwungen werden.

Nach den Vorstellungen des Bundeswirtschaftsministeriums soll dieser Niedriglohnsektor aus den jetzigen arbeitsfähigen Sozial- und ArbeitslosenhilfebezieherInnen gebildet werden.

Das Konzept des Ministeriums ist es, so "die notwendigen Arbeitsplätze zu schaffen (...) zu dem der Lohn eines jeden Typus von Arbeit durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage gebildet wird. (...) Das setzt eine substantielle Senkung der Arbeitskosten voraus."

Daher muss, "die Senkung der Lohnuntergrenze im Tarifsystem und eine flankierende Senkung der Eckregelsätze der Sozialversicherungsträger" durchgesetzt werden.

Damit würde - angeblich - die Beschäftigung in Deutschland steigen, von heute 63% auf annähernd 70%, um so die EU-Richtlinien zur Beschäftigungspolitik bis zum Jahr 2010 von 72% erfüllen zu können.

Umwandlung von Jobs

Durch die arbeitsrechtlichen Maßnahmen, wie sie sich in Form von "Ich-AG", Mini- und Midi-Jobs ausdrücken, findet dieser Niedriglohnsektor seine formelle Erweiterung.

Nicht nur im Einzelhandel werden so 100.000 Vollzeitjobs in für die Unternehmer kostengünstige Mini-Jobs umgewandelt. Zudem sind die Mini-Jobs ein notwendiger Zusatzverdienst für viele Beschäftigte im Niedriglohnsektor, damit sie überhaupt leben können.

Durch die "Ich-AG" wird eine proletarischer "Dienstleistungssektor" geschaffen, der für die meisten Ich-AGler bedeutet, formell unabhängig zu sein, aber nur knapp durch extreme Selbstausbeutung überleben zu können. Die Ich-AGs zielen zugleich darauf ab, die Lohnabhängigen zu vereinzeln und ihre Organisationsmöglichkeiten zu unterminieren.

Auch deshalb ist es extrem wichtig, in den Gewerkschaften eine Kampagne für die Organisierung von Mini-Jobbern, Ich -AGlern usw. zu entfachen.

Hartz-Gesetze und Agenda 2010 sind die flankierenden staatlichen Richtlinien für den neo-liberalen Umbau des Arbeitsmarktes und der Beschäftigungsverhältnisse. Das betrifft, wenn auch in unterschiedlichem Maße, gleichermaßen hochqualifizierte, unqualifizierte und prekär Beschäftigte. Peter Glotz schreibt dazu in Die Zeit (20/03):

"Die Wissensgesellschaft erweist sich als eine Gesellschaft des bewussten Ausschlusses Vieler aus der modernen Arbeitswelt. (...) Wir werden auf Dauer mit einer neuartig zusammengesetzten Unterklasse leben müssen. (...)"

Die Schaffung einer neu zusammengesetzten "Unterklasse" und deren repressive Regulation von oben ist aber nur die eine Seite des allgemeinen sozialpolitischen Roll-backs. Die andere Seite des Generalangriffs auf die Arbeiterklasse kehrt sich generell gegen das Tarifsystem und gegen alle damit zusammenhängenden sozialpolitischen Regulationen.

Gegenwehr

Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von sinkenden Nettorealeinkommen, dem Abbau sozialer Sicherungssysteme, der zunehmende Flexibilisierung der Arbeit und von Angriffen auf Tarifsysteme. Inzwischen sind auch zunehmend die Kernbelegschaften der Großkonzerne davon direkt betroffen.

Diese Gleichzeitigkeit des Angriffs auf alle Lohnabhängigen bietet aber auch eine Möglichkeit des gemeinsamen Abwehrkampfes - gegen Agenda 2010, für radikale Arbeitszeitverkürzung, für tariflich gesicherte Vollerwerbsexistenz, gegen Flexibilisierung, Lohndumping und Niedriglohn sowie für die Abschaffung der Leiharbeit.

Dieser Abwehrkampf würde aber auch die Frage nach einer grundsätzlich anderen Klassenperspektive stellen, die den Klassenkampf für emanzipatorische Arbeits- und Produktionsverhältnisse organisiert.

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Nr. 90, Mai 2004

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