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Bildung

Leere statt Lehre

Peter Lenz, Neue Internationale 85, November 2003

Trotz aller Versprechungen und Ankündigungen von Rot/Grün hat sich die Situation bei Bildung und Ausbildung nicht gebessert - im Gegenteil. Eine Reihe von Vorschlägen drohen, die Situation weiter zu verschlechtern. So meint Sachsens CDU-Regierung, dass alle Ausbildungsgänge nur noch zwei Jahre dauern sollten. In NRW werden HauptschülerInnen, die keine "Aussicht auf erfolgreichen Abschluss" hätten, in Sonderklassen zusammengefasst. Sie werden monatelang als PraktikantInnen in Betriebe gesteckt, die dafür noch 3000 Euro Zuschuss erhalten. Doch statt eine solide berufliche Ausbildung zu erhalten, werden diese Jugendlichen oft nur zu Hilfsarbeiten missbraucht. Hessen bietet allen Jugendlichen Praktika in Landes-Dienststellen an, wo sie für ein Taschengeld arbeiten sollen. Bei VW wird laut darüber nachgedacht, nur noch Jugendliche auszubilden, die sog. "Bildungsgutscheine" mitbringen, d.h. für ihre Ausbildung auch noch selbst (!) zahlen. Arbeitslose Jugendliche dürfen keine angebotene Stelle - egal wo und zu welcher Bezahlung - ablehnen, ohne eine Sperre des Arbeitslosengeldes oder anderer Beihilfen zu riskieren. Von freier Berufswahl oder qualitativ guter Ausbildung kann immer weniger gesprochen werden.

Die Misere der Ausbildung ist jedoch kein vorübergehendes Problem - sie spiegelt nur das allgemeine Problem von Bildung im Kapitalismus wider.

Bildung im Kapitalismus

Bildung und Ausbildung der Jugend sind Sache der gesamten Arbeiterbewegung. Diese hat sich in der Geschichte immer wieder gegen die bürgerliche Schulpolitik gewandt, eigene Forderungen aufgestellt und bestimmte Normen und Standards erkämpft.

War Schule in vorkapitalistischen Zeiten ein Privileg herrschender und begüterter Klassen, so hat sich im Kapitalismus die Schule als allgemeine Schule durchgesetzt, um der kapitalistischen Produktion qualifizierten Nachwuchs zu liefern, aber auch, um die Jugend im Sinne des Systems und der Anforderungen der Marktwirtschaft zu "erziehen".

Deshalb beginnt dieses Schulsystem schon früh mit der Selektion, um im Ergebnis Führungspersonal, Facharbeiter, aber entsprechend den Anforderungen des Kapitals auch minder qualifizierte Menschen zu haben. Die Anforderungen der modernen industriellen Produktion erfordern ein bestimmtes Niveau technischer Ausbildung der ausgebeuteten Klasse. Der KPD-Politiker Edwin Hoernle schrieb dazu 1931 völlig zu recht:

"Die Bourgeoisie hat ein starkes Interesse daran, alles was an Intelligenz, Tatkraft, schöpferischen Kräften im Nachwuchs des Proletariats nach oben drängt, rechtzeitig abzufangen und für ihre Zwecke dienstbar zu machen. Daher die wachsende Differenzierung des Schulwesens ... Wo das Proletariat zahlreich, klassenbewusst und stark organisiert ist, wird durch kommunale Freistellen, Schulgeldnachlass oder Staffelung für den 'Aufstieg der Begabten' gesorgt, alles Maßnahmen, durch die die Bourgeoisie für die Verjüngung ihres technischen und verwaltenden Apparats sorgt und gleichzeitig die Illusion demokratisch liberaler Reformfreundlichkeit hervorruft". (E. Hoernle: Grundfragen proletarischer Erziehung. Berlin 1931)

Eine gewisse Durchlässigkeit des Bildungssystems, ein gewisses Maß an Chancengleichheit muss also gegeben sein, was aber nichts an den Klassenstrukturen des bürgerlichen Schulsystems ändert. Ein Blick auf die soziale Struktur der deutschen Gesellschaft offenbart, dass sich die herrschende Klasse wesentlich aus sich selbst rekrutiert. Die Hoffnungen, jeder sei seines Glückes Schmied, Leistung lohne sich usw. erweisen sich für Millionen als Märchen, der soziale Aufstieg als Illusion.

Damit die Qualifikation, die den Angehörigen der arbeitenden Klassen zugeführt wird, nicht umschlägt in Selbst- und Klassenbewusstsein, ist das bürgerliche Schulsystem zugleich immer ein System der Indoktrination. Die bürgerliche Klasse vermittelt ihre Sicht der Geschichte, der Produktionsweise, des Gesellschaftssystems.

Damit das funktioniert, sind die Lehrenden selbst durch bessere Bezahlung, Beamtenstatus usw. sozial privilegiert und somit stärker an das System und den Staat gebunden. Obwohl lohnabhängig, gehören sie den Mittelschichten an. Ein Kontrollsystem durch Direktoren, Schulräte usw. sorgt dafür, alle zu disziplinieren, die gegen die Regeln des Systems verstoßen. Jeder Lehrer, jede Lehrerin, die sich weigert, die Logik des Notenknüppels zu akzeptieren, kommt zwangsläufig in Schwierigkeiten. Wir erinnern uns an die Suspendierungen von LehrerInnen, die nach dem 11. September "abweichende" Meinungen äußerten.

Die Krise und die Misere des Bildungssektors führen allerdings dazu, dass diese Privilegien insgesamt "als zu teuer" abgebaut werden und zugleich die soziale Differenzierung innerhalb der LehrerInnenschaft zwischen hochbezahlten ProfessorInnen und deutlich schlechter gestellten ErziehrerInnen oder GrundschullehrerInnen zunimmt.

Selektion und Indoktrinierung

Die Lüge von der "Chancengleichheit" ist ein ideologisches Kernstück bürgerlicher Bildungspolitik. So sollen diejenigen, die es "geschafft" haben, bei den anderen die "Leistungsbereitschaft" erhöhen. Wer den Anforderungen nicht genügt, dem wird suggeriert, dass er ein Versager sei.

Die sozialdemokratische Variante spricht bei schlechten schulischen Leistungen von mangelnder Bereitschaft, seine Chance zu nutzen, oder von "sozialer Benachteiligung", die es durch Förderung auszugleichen gelte. Bei knappen Kassen ist diese Förderung aber auch den Sozialdemokraten schnuppe.

Die offen reaktionäre Variante arbeitet mit dem Begriff der "Begabung". Damit wird ausgesagt, dass Fähigkeiten per "Klassen-Gen" weitergereicht werden, das Schulsystem lege diese "Begabungen" frei und trenne "gute" von "schlechten" Schülern. Für die "Hochbegabten" stehen dann natürlich besondere Mittel und Lehrkräfte zur Verfügung. Die Mittel dafür werden dem Geldtopf für die Gesamtheit der SchülerInnen entzogen und fehlen dort.

In Hessen hat die Schulpolitik unter Roland Koch (CDU) endgültig den Weg Richtung "Bildungsrassismus" eingeschlagen. Bürgerliche Eltern sprechen offen aus, dass in der Grundschule "leistungsschwache" Kinder ihre Sprösslinge in ihrer Entfaltung und im Lerntempo hindern würden. Deshalb fordern sie ganz offen die "Entfernung" missliebiger Kinder in Richtung Sonderschule und träumen von einem Gymnasialzweig ab der ersten Klasse.

Die Koch-Regierung passt ihre Schulpolitik genau diesen Anforderungen an: verstärkte Selektion von Anfang an, landesweite Prüfungen usw., kombiniert mit Programmen zur "Begabtenförderung" und finanzielle Förderung von Elitegymnasien. Für den Rest weniger LehrerInnen, erhöhte Schülerzahlen in den Klassen, Arbeitszeitverlängerung und erhöhter Leistungsdruck für die LehrerInnen.

Gleichzeitig erfolgt auch eine Verstärkung der reaktionären Ausrichtung: "Benimmunterricht", "Disziplin und Ordnung" sind auf dem Vormarsch. Auf einer Diskussion im Hessischen Rundfunk forderte die Kultusministerin eine verstärkte Vermittlung "christlicher und abendländischer Werte" im Unterricht.
Pisa und die Folgen

PISA und die Folgen

Mit verschärfter Selektion und dem Notensystem wird ein brutaler sozialer "numerus clausus" gegen die Jugend der Arbeiterklasse durchgesetzt. Die Jugendlichen aus Immigrantenfamilien bleiben in diesem System völlig auf der Strecke, sie stellen einen überproportionalen Teil der SonderschülerInnen und arbeitslosen Jugendlichen.

Die PISA-Studie wird von den bürgerlichen BildungspolitikerInnen zum Anlass genommen, Leistungsdifferenzierung und Leistungsdruck (schärfere Benotung, mehr Tests) noch zu erhöhen. Doch gerade ein Blick auf die "besseren" Bildungssysteme z.B. Finnlands und Schwedens zeigt, dass dort diese "deutschen" Tugenden viel schwächer ausgeprägt sind.

Zu den Konzepten bürgerlicher (Schul)politikerInnen gehören dann auch Vorschläge wie der von Stoiber, schon 5jährige einzuschulen - Ade, fröhliche Kinderzeit! - oder jener von Brandenburgs CDU-Chef Schönbohm, renitenten Schulschwänzern elektronische Fußfesseln zu verpassen.

Selbst gut gemeinte Vorschläge wie jener, die Ganztagsbetreuung zu fördern, hat den grundsätzlichen Pferdefuß, dass Kinder täglich noch länger und direkter der staatlichen Indoktrinierung unterworfen sind.

Die Arbeiterbewegung hat ein grundlegendes Interesse daran, das die Jugend einheitlich ausgebildet wird, eine allgemeine und polytechnische, umfassende Grundbildung in Theorie und Praxis der wichtigsten Produktionszweige vermittelt bekommt. Dieses Interesse richtet sich gegen die Selektionsmechanismen des bürgerlichen Ausbildungssystems, gegen die Verteilung von Lebenschancen durch den bürgerlichen Schulbetrieb und die jeweiligen Bedürfnisse der kapitalistischen Produktion. Diesem Interesse muss das Schulsystem gerecht werden, dass wir einfordern und im Sozialismus vollständig und umfassend verwirklichen werden.

Arbeiterklasse und Bildung

Unsere Forderungen können nicht dahingehend sein, eine dreieinhalbjährige Lehre z.B. in einem Handwerks- oder kaufmännischem Beruf für alle zu fordern, wo nur unzureichende oder zu firmenspezifische Kenntnisse vermittelt werden, die später nirgends verwendet werden können.

Um die Interessen der Arbeiterbewegung zu wahren, muss sie Kontrollrechte einfordern und durchsetzen. Sie muss materielle Ressourcen, genügend Lehrpersonal usw. einfordern, finanziert aus progressiver Besteuerung. Programme zum Bau und zur Instandsetzung von Schulgebäuden und Unterrichts- und Ausbildungsmaterialien. Eine ausreichende, tarifliche Bezahlung der Auszubildenden. In der Tendenz gehen diese Forderungen in Richtung einer polytechnischen Einheitsschule, wie sie in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer wieder aufgestellt worden ist.

Dies wird sich nur durchsetzen lassen, wenn diese Forderungen im Rahmens eines Gesamtkonzeptes von Übergangsforderungen erkämpft werden.

Heute zeigt sich, dass derselbe Staat, der v.a. unter Führung der SPD nach 1968 begrenzte Reformen im Bildungsbereich umsetzte, selbst die schärfsten Attacken auf die demokratischen Errungenschaften im Bildungsbereich reitet.

Auch wenn RevolutionärInnen für die Finanzierung der Bildung und gewisse organisatorische Leistungen seitens des Staates eintreten, kämpfen sie zugleich gegen jede Bevormundung und ideelle Einmischung des Staates. Form und Inhalt von Bildung muss so weit wie möglich durch die Arbeiterbewegung, durch Lehrende und Lernende selbst bestimmt werden.

Bei der Verteidigung von Bildungsstandards treten wir deshalb zwar dafür ein, dass der Staat seinen "Bildungsauftrag" wahrnimmt und insbesondere das Kapital zwingt, entsprechende Steuermittel dafür bereits zu stellen, aber wir verteidigen weder seinen ideellen Einfluss noch seine Mechanismen der Unterordnung der Bildung unter die Erfordernisse der Kapitalverwertung (Beamtentum, Privatisierung etc.)

Wilhelm Liebknecht schrieb in diesem Sinne schon 1891 in "Macht ist Wissen - Wissen ist Macht":

"Wer allgemeine Bildung will, muss deshalb gegen jede Herrschaft ankämpfen ( ... ) Die Schule, wie sie ist, und die Schule, wie sie sein soll, verhalten sich zueinander genau gleich dem Staat, wie er ist, und dem Staat, wie er sein soll. Der Staat, wie er ist, d.h. der Klassenstaat, macht die Schule zu einem Mittel der Klassenherrschaft."

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Nr. 85, November 2003

*  Von der Demo zum Massenstreik: Agenda kippen!
*  Nach dem Gewerkschaftstag der IG Metall: Waffenstillstand
*  Bildung: Leere statt Lehre
*  Ausbildungsplatzabgabe: Wer nicht ausbildet, zahlt!
*  Die Union und die Sozialreformen: Pest oder Cholera
*  Klassenkampf in Europa: Das Kapital schlägt zu
*  Europäische Antikapitalistische Linke: Weg aus der Sackgasse?
*  Bolivien: Arbeiter und Bauern an die Macht!
*  Palästina: Solidarität mit der Intifada!
*  Heile Welt
*  Europäisches Sozialforum: Paris, wir kommen!