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Russland

100 Jahre nach der Revolution

Interview mit  Ljudmila Alexejewa Bulavka-Buzgalin, Neue International 217, März 17

Frage: Ljudmila, welche Bedeutung hat die Russische Revolution für die ArbeiterInnenklasse und die Linke in Russland heute?

Ljudmila Aleksejewa: Als eEstes möchte ich den Begriff „Arbeiterklasse“ präzisieren: Heute umfasst er nicht nur IndustriearbeiterInnen, sondern auch alle anderen Gruppen von lohnabhängigen Beschäftigten, wie LehrerInnen, UniversitätsdozentInnen, wissenschaftliche Angestellte, Beschäftigte im Gesundheitswesen, in der Kultur…. Das Interesse an der Oktoberrevolution 1917 ist in den letzten Jahren gewachsen, zwar langsam, aber stetig. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Der erste Grund ist, dass die Sozial- und Wirtschafts-„Reformen“ dazu geführt haben, dass die Zahl der Armen sehr stark angestiegen ist. Mehr als 20 Millionen Menschen haben ein Monatseinkommen, das weniger als 10.000 Rubel (170 Euro) beträgt. Die Hälfte der Bevölkerung hat ein Einkommen von weniger als 23.000 Rubeln (400 Euro).

Dazu kommt, dass die soziale Differenzierung stark angestiegen ist. Das Einkommen des reichsten Zehntels ist nach offiziellen Angaben 16-mal höher als das des ärmsten Zehntels, in der Realität aber 25-mal höher.

Der zweite Grund ist die zunehmende soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Über die Jahre der Wirtschaftsreformen hat sich in der Gesellschaft eine feste Überzeugung herausgebildet: nämlich, dass der Lebensstandard der Menschen nichts mit ihrer Qualifikation zu tun hat oder damit, ob jemand gut oder schlecht arbeitet. Mit anständiger Arbeit kann niemand im heutigen Russland Geld verdienen. Das ist nicht nur die Alltagserfahrung, sondern das kann mit Zahlen belegt werden. Heutzutage hält Russland den dritten Platz auf der Liste der Länder mit den meisten „Dollar-MillionärInnen“. Jede Woche berichten die Massen-Medien über hochrangige Beamte der verschiedenen regionalen Strukturen, die Geld oder Eigentum in großem Umfang stehlen, aber noch keiner wurde je dafür bestraft.

Der dritte Grund liegt hinter diesen Aspekten. Er liegt darin, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierenden in den letzten 25 Jahren uns dahin gebracht hat, dass der arbeitende Mensch nicht mehr respektiert wird, ja der oder die Werktätige als solcher wird verachtet oder gar gehasst. Anständige Arbeit gilt nichts mehr. Es gibt sogar die Redewendung: „Wenn du so clever bist, warum bist du arm?“. Aber im Bewusstsein der Menschen gibt es noch die starke Überzeugung, dass anständige Arbeit die Basis des Lebens ist.

Alle diese Faktoren beeinflussen die Werktätigen und erzeugen ein Gefühl von Erniedrigung ihrer Würde. Praktisch ständig berichten die Massenmedien über diejenigen, die „Geld machen“ - Bürokraten, Bänker oder Regierungsleute, aber nie über Menschen, die arbeiten. Und dann fangen die arbeitenden Menschen an, sich mit der historischen Erfahrung eines politischen Systems zu befassen, das dem werktätigen Menschen Respekt entgegengebracht hat. Das heißt, dass sie sich mit den sozialen Zuständen der UdSSR befassen und entsprechend auch mit den historischen Ereignissen, die dieses System zur Welt brachten. Ich spreche natürlich von der sozialistischen Oktoberrevolution.

Zum vierten Grund: Im heutigen Russland wachsen die verschiedenen Kräfte der Entfremdung: Großkapital, Staats-Bürokratie, krimineller Markt, „social networks“, Pseudo-Kultur. Das lenkt den Blick der Menschen auf die sozial-kulturelle Praxis, die einen humanistischen Kern in sich trug. Dieser Humanismus wurde in der Oktoberrevolution 1917 geboren, die das Ideal des Neuen Menschen hervorbrachte - nicht den Kleinbürger, nicht den Übermenschen.

Frage: Welche Errungenschaften der Oktoberrevolution spielen heute noch eine Rolle? In der gesellschaftlichen Wirklichkeit und im Bewusstsein der Werktätigen?

Ljudmila Aleksejewa: Wenn die Menschen heute positiv über die Oktoberrevolution reden, dann meinen sie an erster Stelle die wichtigen Ergebnisse in den sozialen Beziehungen, wie sie in der UdSSR bestanden. Der arbeitende Mensch im heutigen Russland versteht mehr und mehr die positive Bedeutung der sozialen Zustände, die die Revolution hervorbrachte, zugleich aber ist es wichtig, dass er oder sie nicht die Formen der Entfremdung vergisst, die es im sowjetischen System gab und die zum Zusammenbruch der UdSSR führten.

Zu den Errungenschaften:

Erstens brachte die Revolution ein sozial-ökonomisches System hervor, in dem der Lohn von Arbeit abhing. Dazu bekamen die Werktätigen soziale Einrichtungen: Kindergärten, Kultureinrichtungen, Urlaubs- und Erholungsplätze.

Zweitens: Bei Konflikten mit dem Management konnten die Arbeitenden sich an die Gewerkschaft, die Partei-Struktur oder an die Betriebszeitung wenden. Trotz allem Bürokratismus der sowjetischen Gewerkschaften und der Parteiorgane konnte die Suche der Werktätigen nach Hilfe gegen jede Form von Ungerechtigkeit auf die eine oder andere Art stattfinden und die Fabrik musste nicht selten positiv darauf reagieren.

Drittens: kostenlose Bildung und kostenloses Gesundheitswesen. In der Sowjet-Gesellschaft wurde das Streben junger Menschen nach beruflicher und höherer Bildung stark gefördert: materiell, gesellschaftlich und ideologisch. Das Erziehungssystem in der UdSSR genau wie die Bildung an Universitäten, Instituten oder Fachschulen war weitestgehend durch den Entwicklungsstand der entsprechenden Person selbst bestimmt, ihr Vorwissen, ihre Fähigkeiten, ihr Engagement. Erst unter Breschnew gab es die Erscheinung, dass Leute auf die Uni kamen mit „der Empfehlung einer Person“.

Für junge Werktätige gab es ein weitverzweigtes System von sekundärer Bildung, die Schulen der arbeitenden Jugend und der beruflichen Bildung: Berufsschulen, technische Schulen, Meisterschulen, Technikum, - so wurden SpezialistInnen für die verschiedensten Bereiche herangebildet.

Auch die sowjetische Kunst brachte viele Bücher, Filme, Bilder und Lieder über die Werktätigen hervor. Das entwickelte im arbeitenden jungen Menschen das Gefühl der Würde und des Stolzes auf seinen Berufsstand. Wir sollten aber nicht vergessen, dass dies schon in der Breschnew-Ära nachließ und das Gefühl der Ignoranz aufkam und sich in der Gesellschaft verbreitete.

Die vierte Errungenschaft: Die Oktoberrevolution machte das Land führend im Kampf für den Fortschritt auf der Welt:

- Politisch-ideologisch: Für soziale Gerechtigkeit , Vorrang für Arbeit und Kreativität, Internationalismus nicht nur in Worten, sondern im praktischen Kampf mit dem Faschismus.

- Wissenschaftlich, z. B. mit Juri Gagarin als erstem Menschen im All.

- Kulturell: die Gemeinschaft der Menschen nicht auf nationaler oder religiöser Identität herzustellen, sondern über das gemeinsame Erschaffen von neuen sozialen Beziehungen, in denen der Mensch zum handelnden Subjekt in Geschichte und Kultur wird.

Frage: Gibt es eine Debatte in der Russischen Linken über die Bedeutung der Revolution und über die Probleme und Fehler, die den Erfolg der Konterrevolution ermöglichten?

Ljudmila Aleksejewa:  Es gibt verschiedene Debatten in der russischen Öffentlichkeit über den Gehalt der Oktoberrevolution, ihre Widersprüche, ihre Fehler und Errungenschaften. Auf der Linken findet dies seinen Ausdruck als scharfe Diskussionen zwischen KommunistInnen, AnarchistInnen, Liberalen und SozialdemokratInnen.

Die Vereinigung „Alternativij“ organisiert zusammen mit anderen linken Organisationen ein breites Programm zum Thema „Roter Oktober 1917“. Es gab z. B. eine Diskussion zusammen mit der „Jugend-Universität für Sozialismus“ zum Thema: „Klassenkampf des Proletariats der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems für die Unabhängigkeit vom Zentrum“.

Ein „Koordinationsrat der Linken“ wurde mit anderen linken Kräften gebildet, um eine Veranstaltungsreihe zum hundertjährigen Jubiläum durchzuführen: http://oct17.info/

Im staatlichen Rundfunk (Govorit Moskva - Moskau spricht) moderiert Alexander Buzgalin von “Alternativij” gerade jeden Samstag ein einstündiges Programm mit Fragen zur Revolution. Viktor Tkatschew stellt alle Dokumente in diesem Zusammenhang auf unserer Webseite (<http://alternativy.ru>) zusammen, die auch Beiträge auf Deutsch enthält. Dieses Projekt steht unter https://vk.com/public118961111

Frage: Mit Blick auf die weltweite Krise des Kapitalismus - gibt es eine Chance für einen neuen Oktober?

Ljudmila Aleksejewa: Solch eine Chance eines neuen weltweiten Roten Oktober kann es nicht als historische Transzendenz, als simple Übertragung, geben. Diese Chance muss heute erarbeitet werden, von allen zusammen, um die Voraussetzungen für die Entstehung von alternativen Beziehungen in der Welt des globalen Kapitalismus zu schaffen.

Dr. Ljudmila Alexejewa Bulavka-Buzgalin ist Professorin für Philosophie an der Universität für Finanzwesen und Recht Moskau, MFJuA, Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Alternativij“. Sie wird am 31. März in Berlin bei den „Internationalismustagen zum Thema „Die Aktualität der russischen Revolution” sprechen.

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Nr. 217, März 17

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