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Rot-Rot-Grün

Alternative für nächste Bundesregierung?

Jürgen Roth, Neue Internationale 214, November 2016

Dietmar Bartschs Vorschlag eines konstruktiven Misstrauensvotums im Bundestag scheuchte kurz die Medienöffentlichkeit auf. Sein Vorschlag richtete sich an GRÜNE und SPD, denn zusammen mit den Abgeordneten der LINKEN käme rechnerisch eine Parlamentsmehrheit für eine rot-rot-grüne Bundesregierung zustande. Doch er erntete keine Zustimmung. Bisher blieb es nur bei Sondierungsgesprächen unter ParlamentarierInnen und FunktionärInnen der 3 Parteien. DIE LINKE versucht folglich, den Weg über R2G-Landesregierungen zu gehen, damit es bei der nächsten Bundestagswahl besser klappt. Nach den gescheiterten Versuchen 2008 und 2013 in Hessen und der Bildung einer R2G-Landesregierung in Thüringen unter Ministerpräsident Ramelow (DIE LINKE) steht die Regierungsbeteiligung der LINKEN demnächst wohl in Berlin ins Haus.

DIE LINKE will diesmal nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 16. November ihre Parteibasis über den Koalitionsvertrag abstimmen lassen. Ab dem 21. November läuft 2 Wochen lang der Mitgliederentscheid über die Annahme des Verhandlungsergebnisses, der bis zum 6. Dezember abgeschlossen sein soll. Die Mindestbeteiligung liegt bei 25 Prozent, beim Ergebnis zählt die einfache Mehrheit. Die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen sollen auch Thema zweier Basiskonferenzen am 15. und 25. November sein, zu der die Linkspartei auch Initiativen aus der Berliner „Zivilgesellschaft“ einladen will.

Die GRÜNEN als Koalitionsscharnier

Angesichts der Tatsache, dass es zunehmend schwieriger wird, stabile parlamentarische Regierungen zu bilden, auch ein Ausdruck der Systemkrise, wird die Rolle der GRÜNEN als Mehrheitsbeschafferin immer wichtiger, um Zustände wie am Ende der Weimarer Republik zu vermeiden. Rechnerisch reicht es momentan weder für die beiden Lager SPD/GRÜNE noch Union/FDP. Zusätzlich droht selbst für Union und SPD die Regierungsoption verlustig zu gehen. Will das bürgerliche Establishment die AfD raushalten, muss es auf R2G, Union/SPD/GRÜNE, Union/GRÜNE/FDP ausweichen. Eine Zweiparteienkoalition scheint momentan nur zwischen CDU und GRÜNEN möglich (Baden-Württemberg, Hessen).

Die GRÜNEN sind nicht zufällig in allen diesen Varianten vertreten. Längst haben sie ihr Image als radikal-kleinbürgerliche Protestpartei, als Ausläufer der Studentenrevolte von 1968 abgelegt und sind zu einer FDP mutiert, die fürs Dosenpfand und die sog. Energiewende eintritt. Mit der FDP, die im Dreiparteiensystem der Bundesrepublik vor 1980 eine ähnliche Rolle spielte, verbindet die GRÜNEN auch, dass sie sich nicht wie CDU, CSU, SPD und DIE LINKE auf Massenorganisationen des (Klein-) Bürgertums (Union) und der ArbeiterInnenklasse (SPD, DIE LINKE) stützen. Sie sind also keine Volkspartei und das erklärt ihre Manövrierfähigkeit. Sie zählen zwar mehr Mitglieder als DIE LINKE, verfügen aber nicht über deren Masseneinfluss (Gewerkschaften, Betriebsräte, Vertrauensleutekörper, Vorfeldorganisationen wie Mieterverbände, Volkssolidarität usw.).

„Linke“ Regierung oder ArbeiterInnenregierung?

Wenn revolutionäre KommunistInnen zur Eigenkandidatur zu schwach und unbedeutend sind, sollten sie sich dennoch taktisch zu Wahlen verhalten. Das bedeutet auch zur Wahl einer reformistischen, also bürgerlichen ArbeiterInnenpartei aufzurufen, gleichzeitig aber ihre WählerInnenbasis vor dem Verrat selbst an ihren fortschrittlichen Versprechen zu warnen, damit diese sich für den Klassenkampf organisiert.

Anders als „offen“ bürgerliche Parteien sind diese von einem inneren Gegensatz zwischen ihrer bürgerlichen Politik und den Interessen einer proletarischen Massenbasis und historischen Bindungen an die ArbeiterInnenorganisationen (heute vor allem die Gewerkschaften) geprägt. Die Wahltaktik soll helfen, diesen Gegensatz zuzuspitzen.

So fordern KommunistInnen von diesen Parteien, keine Regierungen mit offen bürgerlichen Kräften einzugehen. Dies lässt sich umso leichter praktisch umsetzen, je mehr Stimmen für die ReformistInnen abgegeben werden. Kommt somit mehrheitlich eine „reine“ ArbeiterInnenregierung zustande, handelt es sich immer noch um eine bürgerliche angesichts des Klassencharakters dieser Parteien, des Parlaments und v. a. des Staatsapparats. Sind selbst die Kräfteverhältnisse für eine solche Minderheitsregierung zu ungünstig, rufen wir die bürgerlichen ArbeitervertreterInnen und ihren Massenanhang zur konsequenten Opposition auf.

Die Taktik der ArbeiterInneneinheitsfront endet also nicht an der Wahlurne, sondern erstreckt sich auch auf die Regierungsfrage. Die ArbeiterInnen sollen ihre Forderungen an „ihre“ Regierung richten und sich in der Praxis von der Richtigkeit der kommunistischen Forderungen und Einschätzung überzeugen können, dass die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien sie bremsen, demobilisieren, hintergehen und verraten werden. Diese Taktik funktioniert am besten, wenn offen bürgerliche Parteien wie die GRÜNEN aus der Regierungskoalition herausgehalten werden und somit nicht als Stoppschild, als Ausrede für die reformistischen ArbeiterInnenführungen fungieren können: „Wir können nicht weitergehen, weil wir auf sie Rücksicht nehmen müssen!“

Komintern und KPD gingen, als sie noch revolutionär waren, Anfang der 1920er Jahre so gegenüber SPD und USPD vor. Sie betrachteten die Bildung einer unechten ArbeiterInnenregierung als möglichen Zwischenschritt zu einer echten, zur Diktatur des Proletariats. Die KPD-Abgeordneten ermöglichten ihre Wahl im Parlament, stellten Forderungen an sie, versuchten sie somit über ihre eigenen Absichten hinaus weiterzutreiben. Gleichzeitig stimmten sie für alle Gesetze, insofern sie das unmittelbare Los der proletarischen Massen erleichterten, und gegen alle anderen. (So verhielten sie sich sogar im Fall von Koalitionen zwischen Bürgerlichen und ReformistInnen.) Vor allem aber versuchte die KPD, die Einheitsfront mit den sozialdemokratischen und unabhängigen ArbeiterInnen in den Betrieben, Gewerkschaften, sonstigen ArbeiterInnenmassenorganisationen, auf der Straße und bei den Stempelstellen des Arbeitsamtes zu organisieren, v. a. solche in Richtung Doppelmacht und Machtergreifung zu schaffen. Diese Politik der loyalen Opposition sollte verhindern, dass die unechte ArbeiterInnenregierung von den direkt bürgerlichen Parteien zu Fall gebracht wurde, es sei denn, die Regierung verabschiedete arbeiterInnenfeindliche Dekrete.

Die KommunistInnen waren über diese loyale Opposition hinaus nur bereit, in eine parlamentarisch zustande gekommene Regierung einzutreten, falls diese das Tor zur Diktatur zur Diktatur des Proletariat aufstieß. Diese echte ArbeiterInnenregierung als direktes Vorspiel zur auf der Machtübernahme durch Räte und Milizen beruhenden proletarischen Diktatur, zum ArbeiterInnenstaat, musste sich auf Organe der Doppelmacht stützen (Räte, Fabrikkomitees, Selbstschutzverbände), das Großkapital enteignen sowie Armee und Polizei, aber auch die reaktionären Bürgerwehren entwaffnen und die ArbeiterInnen bewaffnen.

Die Linke in der Linkspartei…

Von der oben beschriebenen Politik der Komintern und ihrer Sektionen sind die SAV, marx 21, isl und die Kommunistische Plattform (KPF) weit entfernt, um nur die wichtigsten Strömungen des linken Flügels in der Linkspartei zu nennen. Außer marx 21 gehören sie zur Antikapitalistischen Linken (AKL). Keine dieser Strömungen thematisiert die Regierungsbeteiligung der offen bürgerlichen GRÜNEN. Wir wollen uns im Weiteren mit der SAV und marx21 auseinandersetzen. Beide berufen sich auf den Trotzkismus. Aber sie sind weit entfernt von Trotzkis Taktik der Arbeit in reformistischen Parteien.

Diese zielte darauf, bei einem Hineinströmen von Massen in sich nach links bewegende reformistische Parteien als revolutionäre Fraktion für ein revolutionäres Programm zu kämpfen. Unserer Meinung nach sind die Bedingungen für einen solche Taktik heute in der Linkspartei nicht gegeben. Doch selbst wenn das so wäre, so sind diese Strömungen meilenweit von einer revolutionären Fraktionsarbeit entfernt.

Dieser opportunistische Integrationsentrismus verurteilt sie zum Versteckspiel. Das revolutionäre Programm wird ersetzt durch zentristische Formeln: „Kampf gegen diese Marktinteressen“, „tatsächliche Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung“, „Regierung und Kapital…in Frage gestellt“, „kapitalistische Wirtschaftsweise überwunden“, „sozialistische Demokratie“ (Thies Gleiss/Inge Höger/Lucy Redler/Sascha Stanicic [Hg.]: Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden. Die Linke und das Regieren, S. 158, 159).

So wird die Politik der LINKEN schöngefärbt, „ihre“ Partei nicht als bürgerliche, reformistische ArbeiterInnenpartei bezeichnet, sondern als quasisozialistisch. Damit hält man sich die Hintertür zur dauerhaften Einheit mit der Parteirechten aufrecht, bis eines fernen Tages die revolutionären Massen die Partei entern und AKL & Co. den Sieg bescheren mögen. Es fragt sich, wozu dann überhaupt revolutionäre Organisationen erforderlich sind.

„…Partei, die zwar ein radikales Programm hat…“ schreibt Thies Gleiss (isl) (ebd., S. 207). Sascha Stanicic (SAV) offeriert einen „Vorschlag für eine Musterargumentation ‚Warum wir nicht mit SPD und Grünen koalieren'“: „DIE LINKE ist die einzige Partei, die die Interessen von Beschäftigten und sozial Benachteiligten vertritt.“ (ebd., S. 157) Und Janine Wissler (marx21) textet: „Gerade als LINKE, die eine grundlegende Kritik am Kapitalismus vertritt,…“ (ebd., S. 222).

Die Schilderung der Politik der Linkspartei in verschiedenen Landesregierungen im gleichen Buch ist eine direkte Widerlegung dieser lügnerischen Wunschträume!

Sowohl die AKL wie marx21 begehen den grundlegenden Fehler, dass sie die Linkspartei als eine Partei hinstellen, die die Interessen der ArbeiterInnenklasse vertritt. In Wirklichkeit steht DIE LINKE jedoch fest auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft, vertritt die Interessen der Bourgeoisie in der ArbeiterInnenklasse - und ist genau darum eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei.

…und die Regierungsfrage

Marx21 kann sich R2G in Berlin vorstellen, wenn „ihre“ Partei konkrete Mindestbedingungen aufstellte: milliardenschweres öffentliches Investitionsprogramm, mindestens 100.000 zusätzliche kommunale Sozialwohnungen, 10.000 neue tariflich entlohnte Arbeitsplätze im öffentlichen Bereich, Rückführung ausgegliederter Tochterfirmen in landeseigene Betriebe, Unterbringung von Flüchtlingen in Wohnungen statt Lagern, kommunales Wahrecht für Nichtdeutsche, keine Erschwerung von Volks- und Bürgerbegehren, Abschiebestopp (Lucia Schnell/Irmgard Wurdack: Besser opponieren als mitregieren: Rot-Rot in Berlin 2001-2011). Der Landesparteitag lehnte am 11.3.2016 diese Forderungen ab.

Sascha Stanicic wendet gegen diese Argumentation ein, solche „roten Haltelinien“, wie sie ähnlich auch der Erfurter Parteitag festgelegt hatte, seien erstens keine Garantie dafür, dass sich die Linkspartei nicht an einer Verwaltung der Missstände auf kommunaler und Landesebene beteilige, zweitens bedeuteten diese rein negativen Mindestbedingungen die Festschreibung des Status quo und damit der Sozialkürzungen mindestens der letzten 20 Jahre. (Gleiss/Höger/Redler/Stanicic, ebda., S. 155)

Er wendet sich gegen einen Beitritt zu einer SPD/Grünen-Regierung und ein Tolerierungsabkommen. Beides bezeichnet er als Blankoscheck. Er spricht sich aber dafür aus, CDU/CSU geführte Regierungen abzuwählen und Rot-Grün so ins Amt zu verhelfen. Er garantiert „außerdem Zustimmung zu jedem Gesetzentwurf, der die Lebensinteressen der abhängig Beschäftigten, Erwerbslosen, sozial Benachteiligten, RentnerInnen oder Jugendlichen verbessert“, befürwortet also eine Politik der Einzelfallentscheidung. Letzterem können wir zustimmen. Doch ersteres bedeutet Bruch mit elementaren Prinzipien proletarischer Klassenpolitik, stellen doch GRÜNE und SPD für die SAV offen bürgerlich-neoliberale Parteien dar.

Die Frage, ob DIE LINKE deren Haushalt zustimmen soll, beantwortet er ebenso wenig klar wie andere in „Nach Goldschätzen graben…“. KommunistInnen können niemals einem Gesamthaushalt zustimmen mit Ausgaben für z. B. die Repressionskräfte (Geheimdienst, Armee, Polizei), sondern nur dann Einzelfallentscheidungen treffen, wenn die Etatposten einzeln abgestimmt werden können. Sonst ist Ablehnung des Etats zwingend. Das Gleiche gilt in der Frage, wie und wem in einer Regierung ins Amt verholfen werden darf. Wird nur über den Regierungsvorsitz bei Rot-Grün abgestimmt, müssen wir dagegen sein oder uns enthalten. Bei Abstimmung über einzelne MinisterInnen würden wir für SPD-Leute, aber gegen die GRÜNEN stimmen.

Die Politik der SAV ist also nur scheinbar linker. Sie sucht lieber den Platz der Linkspartei in der Parlamentsopposition und ihren „KoalitionspartnerInnen“ in Gewerkschaften und „sozialen Bewegungen“, als die neoliberalen Missstände mitzuverwalten. Ohne Druck starker sozialer Bewegungen außerhalb der parlamentarischen Schwatzbuden sieht sie zur Zeit keinen durch Regierungsbeteiligung möglichen Fortschritt. Das ist richtig und doch verwaschen, reichen doch stärkere Gewerkschaften und „soziale Bewegungen“ nicht hin. Es geht auch um deren grundlegend, d.h. qualitativ andere Klassenpolitik, nicht nur Zunahme ihrer Quantität.

Gleichzeitig vermag die hohle Opposition der SAV nichts weiter als Abwarten zu predigen, bis sich die Zeiten bessern, immer wenn DIE LINKE wider ihren Rat Regierungen beitritt. Sie möchte die eh nicht mehr blütenweiße Weste der Partei nicht noch weiter beflecken, aber nicht die Differenzierung zwischen linkem und rechtem Flügel vorantreiben. Dies könnte sie nur bei Mobilisierung inner- wie außerhalb der Partei gegen den zu erwartenden Koalitionsvertrag bzw. dessen wohl überwiegend neoliberale Maßnahmen. Dazu müsste sie den Bruch mit der Parteiführung riskieren und ihrer Gefolgschaft eine revolutionäre Perspektive außerhalb und nach der LINKEN anbieten. Eine solche Wende um 180° würde ihren Integrationsentrismus torpedieren und die gesamte Politik dieser Organisation in Frage stellen.

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Nr. 214, November 2016

*  Antirassismus: Stellt Euch vor, der Rassismus bereitet sich auf und die Linke verdrückt sich ...
*  Interview: Afghanistan ist nicht sicher!
*  Rassistische Abkommen: Abschiebungen haben System
*  Rot-Rot-Grün: Alternative für nächste Bundesregierung?
*  Solidarität mit Antifaschisten: Gefangene unserer Freund und Genossen Pat
*  Houellebeq: Geister Brandstifter für das Bildungsbürgertum
*  Leiharbeit: Missbrauch legal ausgeweitet
*  Kaschmir: Indien und Pakistan mobilisieren
*  CETA: Mutiges Nein in Wallonien?
*  USA: Endspurt im Wahlkampf
*  Corbyns zweiter Wahlsieg: Ergebnisse und Perspektiven
*  Brasilien nach dem Putsch: Regionalwahlen und neue Klassenkämpfe