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Sexuelle Unterdrückung

Die heilige Familie

Martin Suchanek, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Kaum eine andere Institution unserer Gesellschaft erfreut sich seit Jahrhunderten solcher Idealisierung wie die Familie. Sie gilt als „Keimzelle der Gesellschaft“. Sie erscheint als Hort des privaten Glücks, der Gemeinschaftlichkeit, der Liebe und „Partnerschaft“ inmitten eines Ozeans aus kapitalistischer Konkurrenz und Eigennutz. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern wird romantisiert, idealisiert, überhöht - im krassen Gegensatz zur Realität der Familie.

In der Tat brachte die bürgerliche Gesellschaftsordnung eine wichtige Veränderung: die Heirat ist freiwillig und basiert auf Liebe und Ehevertrag.

In früheren Klassengesellschaften waren die Ehen zwischen Mann und Frau arrangiert. Die Stellung der Ehefrau war z.B. innerhalb der herrschenden Klasse der athenischen „Demokratie“ auf die der Gebärerin, der Mutter reduziert. Für Sklavinnen und Sklaven gab es als Eigentum ihrer Herrn ohnedies kein Recht auf Ehe. Von einer „Liebesheirat“ konnte keine Rede sein, ja selbst die Vorstellung, dass Eheschließung oder Familiengründung auf gegenseitiger, freiwilliger Zuneigung basieren, war dieser Geschichtsepoche fremd.

Zweifellos war demgegenüber die Vorstellung einer Partnerschaft, die auf gegenseitiger Zuneigung und Freiwilligkeit fußt, ein riesiger Fortschritt. Aber auch in der bürgerlichen Familie ist die „Liebe“ nicht frei profanen Zwecken, die sich aus dem Klassencharakter der Gesellschaft notwendig ergeben. Die Vorstellung der individuellen Geschlechtsliebe war gegen den Feudaladel gerichtet, der sich gegen das „Einheiraten“ der „Bürgerlichen“ abschotten wollte. Mit der „Liebesheirat“ wurde auch der „Ehevertrag“ zum unerlässlichen Beiwerk jeder noch so innigen Beziehung, um die Vererbung des Privateigentums innerhalb der herrschenden Klasse abzusichern.

Die Monogamie der Frau - Kennzeichen der verschiedensten Familienformen in allen Klassengesellschaften - galt und gilt auch für die bürgerliche Familie. Für den Mann hingegen waren der „Seitensprung“ oder der Besuch im Bordell von Beginn an allenfalls eine lässliche Sünde.

Sexueller Missbrauch und Gewalt

In der vor-bürgerlichen Familie galt die Sexualität der Frau nur als Mittel zur Befriedigung des Mannes und der Zeugung des Nachwuchses. Die Frau war Mutter, je nach Klassenzugehörigkeit Arbeitende oder Anleitende im Haushalt und hatte dem Mann zur Verfügung zu stehen. Zur sexuellen Befriedigung des Mannes, zu seinem Vergnügen stand ihm neben der Ehefrau eine ganze Reihe von Institutionen der mehr oder weniger offen sanktionierten Prostitution zur Verfügung.

In der bürgerlichen Gesellschaft drückt sich die systematische Unterdrückung der Frau auch in deren sexueller Unterdrückung in der Familie aus.

Auch hier herrschenden die Bedürfnisse des Mannes vor, wenn auch nicht mehr so offen wie in früheren Gesellschaften. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten galt, dass die Frau ihrem Mann zu Diensten zu sein hatte, die Vergewaltigung der Frau in der Ehe gab es als juristisches Delikt  nicht. Es bedurfte langwieriger politischer Kämpfe, damit Missbrauch, Gewalt gegen die Frau und die Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestände überhaupt anerkannt wurden.

Das ändert jedoch nichts daran, dass bis heute das „Schlafzimmer“- offenkundig ein bevorzugter Ort des Missbrauchs im ehelichen Idyll - von Konservativen und Klerikalen aller Art für tabu erklärt wird. Über sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen liegen seit Jahren sozialwissenschaftliche Untersuchungen vor, die ein erschreckendes Ausmaß dieser brutalsten Form der Unterdrückung belegen - von Beschimpfung und Erniedrigung bis hin zu Vergewaltigung und Zwangsprostitution.

Große, repräsentative Studien wie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ aus dem Jahr 2004 kommen zum Schluss, dass rund 40 Prozent aller Frauen im Alter von 16 bis 85 (mehr als 16 Millionen!) Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt werden.  58 Prozent oder rund 25 Millionen wurden sexuell belästigt. Das größte Risiko sexueller Übergriffe besteht für die Frauen in der Familie und in der Beziehung. Die eigene Wohnung ist in zwei Drittel der Fälle auch der Tatort.

Die zweite große Opfergruppe im familiären Zusammenhang sind die Kinder. Nach Untersuchungen ist jedes 4. Mädchen und jeder 7. Junge Opfer sexuellen Missbrauchs. Die Täter sind zu 90 Prozent Männer, mehr als die Hälfe die Väter der Kinder (gefolgt von anderen „Respektspersonen“ wie Lehrer und Priester)!

Repressive Sexualmoral und Rollenbilder

Sexuelle Gewalt ist zweifellos die brutalste Form von Unterdrückung. Sie zeigt aber auch, welche Verhältnisse in der Institution Familie vorherrschen, wie weit sie davon entfernt ist, einen Schutzraum in einer auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden Welt zu bieten.

Die Familie ist aber nicht nur oft ein Ort offener, sexistischer Unterdrückung und sexueller Gewalt. Eine ihrer gesellschaftlich grundlegenden Funktionen besteht darin, die vorherrschenden Werte und Moralvorstellungen, einschließlich der Geschlechterrollen und einer repressiven, bürgerlichen Sexualmoral (oft in der einen oder anderen religiösen Spielart) an die nächste Generation weiterzugeben. Es geht darum, die Klassenherrschaft als „natürliche Ordnung“ zu reproduzieren und damit auch die Kinder der jeweiligen Klassen je nach sozialem Status zu erziehen. Gerade Kinder aus der ArbeiterInnenklasse müssen früh lernen, ihren untergeordneten Status als natürliche, unveränderliche „Gegebenheit“ zu akzeptieren. In diesem Sinne ist die Familie wahrlich eine „Keimzelle“ der Gesellschaft.

Dazu gehören auch die tradierten Formen der Sexualmoral. Die Sexualität von Kindern und Jugendlichen wird geleugnet (was natürlich den Missbrauch nicht hindert), sexuelle Aufklärung findet nur statt, wenn die Kinder „Glück“ haben.

Gleichzeitig werden die vorherrschenden, hetero-normativen Geschlechterrollen vermittelt. Auch wenn eine Familie gegenüber alternativen Lebensentwürfen, Homosexualität usw. nicht-diskriminierend ist, so setzt die typische, bürgerliche Kleinfamilie schon qua Existenz die Norm. In den meisten Fällen sitzt die Homophobie noch immer so tief, dass es den meisten Familien, Eltern wie Kindern, bis heute als eine „Katastrophe“ erscheint, wenn sich das Kind als lesbisch oder schwul, als transsexuell oder als sonstwie „pervers“ entpuppen sollte.

Überhaupt ist für Jugendliche die Entwicklung ihrer Sexualität eingeschränkt im Korsett von konservativen Traditionen, einengenden Vorschriften und fehlender Aufklärung. Selbst freier Zugang zu Verhütungsmitteln stößt bis heute für viele auf massive Grenzen (nicht nur finanzieller Natur).

“Natürliche” Verhältnisse

Wie überall werden „natürlich“ auch im sexuellen Leben gesellschaftliche Normen, Hierarchien, Geschlechterrollen und selbst Klassenzugehörigkeit reproduziert. Den Eltern, und besonders den Frauen, kommt hier die Rolle der Vermittler der herrschenden Moralvorstellungen zu. Die rückständigsten gesellschaftlichen Ideen, die mitunter sogar im öffentlichen Diskurs nicht mehr offen geäußert werden dürfen/sollen, feiern oft in der Intimität der Familie fröhliche Urständ. Das liegt gerade daran, dass die Familie als privater Ort konstituiert ist, wo Kritik, Verantwortung  und Kontrolle durch „die Öffentlichkeit“ nicht gelten. Dazu kommt, dass der Mann in verschiedener Hinsicht gemäß dem traditionellen Rollenbild das „Oberhaupt“ der Familie ist. Oft nutzt er diesen Status, seine körperliche Überlegenheit und seine Stellung als Hauptverdiener auf Kosten der Frau und der Kinder aus.

Doch selbst ohne diese Bekräftigung der Reaktion konstituiert die „traditionelle“ Familie - einschließlich der an ihr orientieren Formen wie der Ehe von Homosexuellen oder der allein erziehenden Mütter oder Väter - allein durch ihre Bestehen als private, vom öffentlichen gesellschaftlichen Leben abgeschiedene Gemeinschaft das vorherrschende Modell der Beziehung. Wer es nicht schafft, eine derartige Form irgendwann zu etablieren (selbst wenn ein Teil fehlen sollte), hat „etwas falsch gemacht im Leben“.

Wer eine Familie oder Ehe hat, gibt sie nicht so leicht auf, selbst wenn sie die Hölle auf Erden sein mag, ist sie doch immerhin eine gemeinsame Hölle. Das führt neben der ökonomischen Abhängigkeit und dem gesellschaftlichem Druck dazu, dass viele Frauen eine gewalttätige, unterdrückerische Beziehung nicht oder nur schwer beenden können, weil sie durchaus zurecht fürchten, danach total vereinzelt und sozial schlechter gestellt zu sein.

Das heiß aber auch, dass Sexualität immer als eine auf diese Gemeinschaft bezogene reproduziert wird, andere Formen nur als zeitweilige oder „Nebenformen“ gelten (unabhängig von ihrer realen Häufigkeit). Durch diese private Beziehungsform, die Bindung der Sexualität an die Familie oder jedenfalls an die „innige“ Privatbeziehung werden nicht nur die extrem repressiven, unterdrückerischen Seiten begünstigt, v.a. wird die Familie als Modell, als unhinterfragbare „natürliche“ Beziehung etabliert. Das trifft auch, ja gerade auf deren reformierte, partnerschaftlichere Formen zu, wo z.B. Männer und Frauen gleiche Arbeit leisten oder auf die Ehe für Homosexuelle usw. Auch diese „reformierte“ Familie bleibt letztlich eine bürgerliche Institution.

Sexualität und Warengesellschaft

Es wäre jedoch falsch, die Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft nur vom Standpunkt ihrer Unterdrückung und reaktionärer Vorstellungen zu betrachten oder ihr eine quasi-natürliche, „unverfälschte“ Sexualität entgegenzustellen. Auch in einer befreiten, kommunistischen Gesellschaft werden die sexuellen Bedürfnisse nicht quasi-natürlich hervortreten, sondern immer gesellschaftlich vermittelt sein.

Wenn wir die normierte Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft betrachten, so dürfen wir auch die Wirkung der vorherrschenden, über den Warentausch vermittelten Gesellschaftlichkeit auf die sexuellen Bedürfnisse nicht übersehen. Diese werden auch über die Familie, oft aber auch über den Markt vermittelt.

Für die bürgerliche Gesellschaft ist es typisch, dass sich Menschen zueinander als WarenbesitzerInnen verhalten. Auch bei der Sexualität wollen die Menschen „die besten“ sein - und im Gegenzug auch nur den/die/das Beste erhalten oder wenigstens ein gleichwertiges Tauschobjekt. Die Entfremdung der ProduzentInnen vom Produkt ihrer Arbeit prägt in der bürgerlichen Gesellschaft noch die intimsten, persönlichsten Bedürfnisse.

Das erklärt aber auch, warum alle Versuche der sexuellen Befreiung in der bürgerlichen Gesellschaft, alle realen Fortschritte immer zwiespältig bleiben, weil sie eben auf dem Boden einer durch Klassenspaltung, Frauenunterdrückung und Entfremdung geprägten Gesellschaft verbleiben.

Absterben der Familie

Die Familie als Institution ist letztlich untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verbunden und einer ihrer ideologischen und institutionellen Stützen. Sie ist weit davon entfernt, nur ein Hort der Geborgenheit zu sein - in Wirklichkeit ist sie auch ein Hort der Reaktion, der Unterdrückung und des Konservativismus.

Aber sie kann nicht einfach abgeschafft werden, solange ihre materiellen Grundlagen weiter bestehen. Hausarbeit und Kindererziehung, also große Teile der Reproduktion, sind im Kapitalismus wesentlich privat organisiert. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung liegt der systematischen Unterdrückung der Frau in allen Lebensbereichten zugrunde.

Dies heißt keineswegs, dass wir als RevolutionärInnen Reformen auf dem Gebiet der Familie oder der sexuellen Beziehungen gleichgültig gegenüber stehen. Es bedeutet nur, dass wir uns wie auf jedem Gebiet demokratischer oder sozialer Verbesserung der Grenzen dieser bewusst sein müssen und den Kampf dafür in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des längerfristigen Kampfes gegen Kapitalismus und Frauenunterdrückung betrachten.

Die Familie kann nicht „abgeschafft“ werden, wenn nicht eine andere, höhere Form der Organisation der Hausarbeit und Kindererziehung an ihre Stelle tritt. Die individuelle Verantwortlichkeit der Eltern für Hausarbeit und Kindererziehung muss ersetzt werden durch eine reale Vergesellschaft dieser „privaten“ Aufgaben. Allein auf einer solchen Basis kann auch die Sexualität befreit werden vom Makel der Frauenunterdrückung und Klassenausbeutung.

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Frauenzeitung, März 15
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