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Kiew, Charkow, Damaskus ...

Zum Klassencharakter von Bewegungen

Franz Ickstatt, Neue Internationale 188, April 2014

Auf den ersten Blick haben die Massen auf dem Kiewer Maidan einiges gemeinsam mit diejenigen, die heute in den Städten der Ostukraine demonstrieren. Die soziale Lage ist prekär: Löhne halb so hoch wie etwa in Russland und in Europa nur von Kosovo und Moldawien unterboten; in der Krise 2009 ist das Sozialprodukt gefallen und seitdem nicht mehr gestiegen, die Lohnzahlungen im privaten und im öffentlichen Sektor werden zurückgehalten, die Renten sind erbarmungswürdig; nicht nur die Arbeiterklasse verarmt, auf die Mittelschichten und das Kleinbürgertum sind von Deklassierung bedroht. Zugleich mästen sich einige Oligarchen: das Vermögen des reichsten wird auf über 18 Mrd. Euro geschätzt.

Solche sozialen Zustände sind nur mit Repression zu verteidigen und der ukrainische Staat tut da sein Bestes. In den vergangenen Jahren hatten sich noch keine Massenproteste entwickelt, Streiks u.a.  Arbeiterproteste waren klein, was auch an der mangelnden Fähigkeit und dem fehlenden Willen der Gewerkschaften lag, diese zu organisieren. Zurecht aber sorgen auch die undemokratischen und willkürlichen Entscheidungen der Regierungen, ob unter Janukowitsch oder nun unter Jazenjuk, für Widerstand.

Charakter einer Bewegung

Der Klassencharakter einer Bewegung wird nicht nur durch die Zusammensetzung und Motive der beteiligten proletarischen oder kleinbürgerlichen Massen und auch nicht nur durch den Klassencharakter der Führung bestimmt, sondern muss im Gesamtkontext der politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzung verstanden werden.

Die sozialen Wünsche von Kleinbürgern, Lohnabhängigen, RentnerInnen oder Jugendlichen, die sich gegen die Regierung zu versammeln, mögen im November in Kiew jenen in Odessa, Charkow oder Donezk ähnlich gewesen sein. Es ist auch nicht neu, dass politisch unerfahrene Bewegungen sich mit nationalen Fahnen und Identitäten ausdrücken. Unter Umständen ist dies auch mit berechtigtem Widerstand gegen ausländische, imperialistische Aggression oder nationale Unterdrückung verbunden. Das Problem beginnt dort, wo aus dieser Identifikation und Widerstand ein Chauvinismus gegen andere entsteht und aus diesem Chauvinismus konkrete Gewalt erwächst. Das Problem beginnt dann, wenn das objektive Ziel einer Bewegung - im Fall des Maidan das Assoziationsabkommen zur EU - einen von Beginn an reaktionären Charakter hat.

All dies war in Kiew zweifelsfrei der Fall. Der Janukowitsch-Regierung kann vieles vorgeworfen werden, allerdings nicht, un-ukrainisch zu sein. Die nationale Hysterie auf dem Maidan wurde also gezielt geschürt - einerseits von denen, welche die Unterwerfung unter die EU und den IWF vorantreiben wollen, andererseits von den rechtsextremen und faschistischen Kräften, deren ganze politische Programmatik darauf beschränkt ist. Tatsächlich entwickelte sich schnell ein übler Chauvinismus gegen „Moskali“ (Russen), Juden, Asiaten und Ausländer allgemein, sowie gegen den russisch-sprachigen Teil der Bevölkerung. Schon früh bezog sich diese nationalistische Bewegung auf das Vorbild Stjepan Banderas, dessen Organisation OUN die SS bei der Ermordung von Millionen Juden und Polen unterstützte. Aber auch Julija Timoschenko schlägt in die gleiche nationalistische Kerbe wie die Rechten.

Das Schwenken russischer  Fahnen im Osten und Süden des Landes ist eine Reaktion auf diesen Chauvinismus. Dass dies im Fall der Krim vom Russischen Imperialismus sofort genutzt wurde, gibt dem ukrainischen Chauvinismus zwar endlich etwas Legitimation, kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass ohne die üblen Angriffe aus Kiew die Bevölkerung der Krim nicht so rasch und mit solcher Mehrheit für einen Anschluss an Russland gestimmt hätte. Natürlich hatten und haben die BewohnerInnen der Krim das Recht, den ukrainischen Staatsverband zu verlassen. Aber ganz objektiv fehlt dieses Widerstandspotential der Krim heute beim landesweiten Widerstand gegen das Kiewer Regime.

Den qualitativen Unterschied zwischen den Fahnen in Kiew und denen in Charkow machen also nicht die politisch unentwickelten Ideen ihrer TrägerInnen aus, sondern der politische Rahmen, den die jeweiligen politischen Führungen vorgeben, vor allem aber der Gesamtkontext des Konflikts. In einem Fall gibt es keine klare dominierende Führung, im anderen Fall nutzen bürgerliche Parteien die nationalistische Demagogie, um den sozialen und demokratischen Motiven der AktivistInnen einen für das System ungefährlichen, falschen, ja reaktionären Ausdruck zu geben. Dabei instrumentalisieren sie bewusst auch ihre faschistischen Helfer, welche die Wut auf „Russen“, Juden und Ausländer ausrichten.

Kiew und Charkow

Den Unterschied zwischen Kiew und Charkow machen also nicht die Motive der AktivistInnen aus, die sich in diesen Bewegungen mobilisieren. Ein entscheidender Faktor ist vielmehr die politische Kontrolle der Bewegung. Trotz der sozialen und demokratischen Motive etlicher Maidan-AktivistInnen haben von Beginn an die bürgerlichen Parteien und die hinter ihnen stehenden Oligarchen die Kontrolle gehabt. Um sie zu durchsetzen und linke Konkurrenz zu vertreiben, haben sie auf Swoboda, die Schwesterpartei der NPD, und die Fascho-Schläger des „Rechten Sektors“ gesetzt.

Die Bewegung in Kiew war von Beginn an eine Bewegung, die unter der Flagge der Westintegration hinter den Oligarchen der Vaterlandspartei und von UDAR wie ihrer faschistischen Verbündeten marschierte. Das deklarierte Ziel der Bewegung - Assoziationsabkommen mit der EU - hätte die Lage der Massen nur verschlechtert unabhängig von der Hoffnung vieler, so der Misere im eigenen Land zu entfliehen. Das Ziel der Massenbewegung im Osten ist aktuell jedoch ein progressives. Es richtet sich dagegen, dass die reaktionäre Regierung aus Neo-Liberalen, Oligarchen und Faschisten die Kontrolle im Osten und Süden voll erlangen kann.

Selbst wenn sich dort reaktionäre Kräfte in der Bewegung tummeln und der Führung bemächtigen wollen, so gibt es einen Widerspruch zwischen einem fortschrittlichen, gerechtfertigten Kampfziel und der reaktionären Führung, an dem KommunistInnen taktisch ansetzen müssten, indem sie die Bewegung unterstützen, gleichzeitig für eine revolutionären Führung kämpfen. Ein solcher Widerspruch existierte am Maidan nicht. Deshalb endete die Bewegung auch letztlich bruchlos in der Einrichtung einer durch und durch konterrevolutionären, pro-imperialistischen Regierung.

Deshalb können KommunistInnen nicht die Maidan-Bewegung, wohl aber die Massenbewegung im Süden/Osten der Ukraine unterstützen. Auf dem Maidan dennoch Propaganda zu betreiben, wäre sicher sinnvoll gewesen, aber nach allen Berichten äußerst schwierig und gefährlich. Sich anzupassen und auf linke Symbole und Forderungen zu verzichten, wie es viele Linke und AnarchistInnen auf dem Maidan getan haben, um „an der Bewegung dran“ zu bleiben, ist nicht minder gefährlich. Wer das tut, spielt das Spiel der Bourgeoisie und der Imperialisten mit. Er interveniert nicht, sondern versteckt sich.

Linke Positionen

Manche Linke, welche die Maidan-Bewegung zu Recht ablehnen, tun das aber mit falschen bzw. unzureichenden Gründen. Sie verweisen z.B. auf die Millionen von Dollar und Euro, die Imperialisten in die Bewegung investiert hätten. Mit dieser Methode kommt man jedoch nicht weit im Zeitalter des Imperialismus. In einer Ära, in der die Welt aufgeteilt ist in Einflusszonen der imperialistischen Mächte und in der zusätzlich die sich verschärfende Krise des kapitalistischen Systems den Konkurrenzkampf zwischen den Imperialisten anheizt, gibt es keinen Konflikt auf der Welt, in dem diese imperialistischen Interessen keine Rolle spielen würden. Dies kann direkte militärische Intervention, Waffenlieferungen, ökonomischen und politischen Druck, Bestechung oder Entsendung von Agenten bedeuten. Es kann auch bedeuten, dass ein mächtiger Imperialismus wie die USA auf verschiedene, sich bekämpfende Akteure setzt nach dem Motto: „Wir sind immer bei den Gewinnern.“

Mit dieser Methode sind z.B. viele derjenigen, die in der Ukraine auf der richtigen Seite der Barrikade sind, in Syrien auf der falschen. Sie erkennen im Falle Syriens nicht, dass zuerst das Volk rebellierte und eine Revolution begonnen hat, die von allen Imperialisten bekämpft wird. Von Russland und China durch militärische und diplomatische Hilfe für Assad, von den USA und verschiedenen EU-Imperialisten sowie Saudi Arabien durch die Ausrüstung von islamistischen reaktionären Kampfverbänden, die verhindern sollen, dass mit einem Sturz Assads die Lage außer Kontrolle gerät. Solange diese Verbände aber die Bewegung nicht politisch kontrollieren und eindämmen, ist es in Syrien die Revolution, welche die Lage entscheidend bestimmt.

Müssen wir jetzt noch betonen, dass es auf dem Maidan genau umgekehrt war? Dass sich Massen - wenn auch mit richtigen Motiven - einer Bewegung angeschlossen haben, die von Beginn an reaktionär dominiert war? In Kiew war eben nicht die Volksrevolte der Ausgangspunkt, sondern die Interessen und Manöver bestimmter Oligarchen und der EU an einem Assoziierungsabkommen zum Nutzen der EU.

Genauso wenig hilfreich ist die Methode, in Russland (oder China) den vermeintlich besseren Imperialismus zu sehen oder gar eine nicht-imperialistische, womöglich sogar anti-imperialistische Kraft. Damit steht man nicht nur in Syrien auf der falschen Seite. Auch wenn man damit aktuell in der Ukraine auf der richtigen Seite steht, ist man doch völlig unfähig, der Massenbewegung helfen zu können. Sie muss den Ruf „Nein zu den Oligarchen, Nein zum Faschismus!“ zu einem Programm von sozialen und demokratischen Forderungen entwickeln, verbunden mit Kampfschritten, die es der Arbeiterklasse erlauben, die Kontrolle über die privatisierte und ausgeplünderte Wirtschaft zu übernehmen und letztlich die politische Macht zu erobern. Eines solches Programm wäre aber dem entsprechenden für Russland - für die Enteignung der Oligarchen und den Sturz Putins und seines Systems - sehr ähnlich.

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Nr. 188, April 14
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