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Gegenmacht oder Kampforgane?

Theo Tiger, Neue Internationale 119, April 2007

Seit etwa drei Monaten existiert in der mexikanischen Region Oaxaca die APPO (Rat der Volksversammlung). Sie war Ausdruck und Institution der Massenproteste gegen die Provinzregierung Ruiz´. Fast ein halbes Jahr lang herrschten revolutionäre Zustände in der Region. Dann wurde die Bewegung durch Polizei, Paramilitärs und Armee militärisch geschlagen und Hunderte in Spezialgefängnisse verschleppt.

Bei der europäischen Linken, besonders auch im Netzwerk linke Opposition (NLO) hierzulande, fand diese Bewegung große Solidarität und Unterstützung. Viele sehen in der APPO, die sie oft als Räte identifizieren, ein organisatorisches Vorbild für den antikapitalistischen Widerstand.

Die APPO besteht aus ca. 300 Einzelpersonen und Organisationen der Region Oaxaca. Dieser „Rat“ versteht sich quasi als „Gegenregierung“ zur autoritären Herrschaft der Ruiz-Clique und agierte auch so. Ohne Zweifel zeigten sich in der APPO wichtige Elemente einer Gegenmacht, einer alternativen Ordnung.

Aber sie zeigte auch viele Schwächen. Die Mitglieder waren nicht durchweg von Basisstrukturen gewählt und es herrscht das Konsensprinzip.

Räte als Gegenmacht

Keineswegs zufällig werden gerade die Schwächen der APPO - Konsensprinzip, Fehlen jederzeitiger Kontrolle, Wahl- und Abwählbarkeit sowie politische Unklarheit - von VertreterInnen aus dem libertären, anarchistischen bis links-reformistischen Spektrum zu „Vorzügen“ stilisiert.

In diesen Räten soll die „Zivilgesellschaft“ vertreten sein. So soll in Strukturen wie der APPO quasi eine neue Gesellschaftsordnung entstehen - als „Gegenmacht“ zum bürgerlichen Apparat, aber nicht als politische Form, die an Stelle der bestehenden Staatsgewalt tritt.

Diese Theorie ist maßgeblich im radikalen kleinbürgerlichen Lager vertreten, ähnlich dem anarchistischen Vorbild würden die Räte den „Übergang“ zur neuen Gesellschaft schaffen, sie werden als Mittel und Instrument des Widerstands und gleichzeitig als Ausdruck einer solidarischen, nicht-kapitalistischen Gesellschaft gesehen. Aber sie müssten, um ihr Potential zu realisieren, nicht die bestehende Staatsgewalt zerbrechen und eine neue Staatsgewalt der bisher unterdrückten Mehrheit errichten.

Wie ein solcher „Übergang“ mittels der Räte aussehen soll, war aber schon in der Arbeiterbewegung Grund für die Spaltung zwischen Anarchismus und Marxismus. Während für den Anarchismus die Selbstorganisation der Massen in Räten ausreichend für die Revolution war und ist, hat der revolutionäre Marxismus stets die Notwendigkeit der Schaffung einer politischen Herrschaft durch die Räte - der Diktatur des Proletariats - und den Aufbau einer politischen Kampforganisation, einer Partei der Arbeiterklasse, betont.

Nur so kann die Arbeiterbewegung sich gegen die Organe von Kapital und Staat durchsetzen, nur so kann letztlich das revolutionäre Potential von Räten realisiert werden. Der Anarchismus hatte zudem eine recht verschwommene Vorstellung von den Räten und hat - z.B. im Spanischen Bürgerkrieg - deren Funktion als Kampfstrukturen der Klasse geradezu torpediert, weil er sie nicht zum Kampf gegen die bürgerliche Volksfrontregierung mobilisierte, sondern selbst mitregierte.

Die Kommune von Oaxaca ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass die Arbeiterklasse und die Unterdrückten in den Kämpfen gegen Ausbeutung und Diktatur in der Lage sind, Kampforgane zu schaffen, die alle Schichten der nicht-ausbeutenden Klassen mobilisieren und einbeziehen können, die eine qualitativ andere Form von Demokratie als das beste parlamentarische bürgerliche System darstellen.

Sie sind dabei nicht nur Organe für den Kampf gegen die bestehende Ordnung, sondern auch Organe zur Schaffung einer zukünftigen, anderen Gesellschaftsordnung.

Zugleich lösen die Räte aus sich heraus noch keineswegs die Frage der Zielsetzung, der Strategie und Taktik im Kampf. Die Räte stellen zwar die Machtfrage - aber es hängt davon ab, welche politischen Kräfte sie letztlich prägen, ob sie auch in der Lage sind, den Kampf auszuweiten und letztlich den bürgerlichen repressiven Staatsapparat zu zerschlagen und durch einen neuen Rätestaat und die Herrschaft der Kapitalistenklasse durch jene der Arbeiterklasse zu ersetzen.

Das lässt sich auch am Beispiel vieler Räte- bzw. Befreiungsbewegungen sehen, die meist von einem Konglomerat von reformistischen, antiimperialistischen, links-nationalistischen u.a. Ideologien geprägt wird. Ihre Methoden zielen nicht auf die revolutionäre Eroberung der Macht durch das Proletariat, sondern auf Reformen, die durch den Kampf einer bäuerlichen Guerilla erzwungen werden sollen.

So ist auch die APPO zwar Ergebnis und Ausdruck des Kampfes der Massen, aber sie ohne revolutionäre Führung letztlich nicht in der Lage, diese Dynamik weiter zu treiben, ihr eigenes Potential zu realisieren. Ohne eine solche Führung bleibt sie letztlich ein hoffnungsloses und illusorisches Modell von „Gegenmacht“ im bürgerlichen Regime.

Revolutionärer Widerstand

Als MarxistInnen haben wir ein grundlegend anders Verständnis der Räte und des revolutionären Kampfes als Spontaneisten oder Anarchisten. Wir sehen die Räte natürlich auch als Organe der ausgebeuteten und kämpfenden Massen. Diese sollen mittels Räten die politische Macht ausüben und die Revolution voran bringen. Doch durch die Räte allein wird der soziale Kampf nicht gewonnen.

Für MarxistInnen sind die Räte ein Kampforgan und eine alternative Regierungsform - alternativ zum bürgerlichen Staat und dessen bürokratischem Apparat. Räte - und umso mehr ein ganzes System von Räten - entstehen nur in Momenten zugespitzten Klassenkampfes und sind Ausdruck einer Doppelmacht zwischen den Organen der Massen und dem bürgerlichen Staat. Entweder das Proletariat erobert die Staatsmacht oder aber der bürgerliche Staat schlägt die Revolution nieder und zerschmettert die Räte.

Räte sind Organe der Übergangsperiode, sie verteidigen die sozialistische Revolution - die Enteignung der Produktionsmittel und die Unterwerfung der Bourgeoisie.

Die Räte werden von den Massen direkt gewählt, sind jederzeit abwählbar und haben keinerlei Privilegien. Diese Räte sind Ausdruck eines sozialen Kampfes, sie stellen einen Entwicklungspunkt zur kommunistischen Gesellschaft dar - nicht den gesamten revolutionären Prozess.

Der revolutionäre Prozess, der revolutionäre Kampf kann nicht allein durch „alternative“ Organe geführt, geschweige denn gewonnen werden. Nur eine revolutionäre Organisierung, d.h. die Organisierung der Massen hinter einem revolutionären Programm, in einer Partei der ArbeiterInnen, Bauern und Armen kann den revolutionären Kampf gewinnen.

In den Räten organisiert sich nicht nur die revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse, bestreikt und besetzt die Betriebe, führt Enteignungen durch und übernimmt die Kontrolle über Produktion und Distribution.

Die Räte sind auch ein Organisationsform, in der die parteiförmig organisierte Avantgarde sich tagtäglich als demokratisch legitimierte, verantwortliche Führung der Klasse erweisen kann und muss.

Die Stärke der Räte ist daher nicht nur von ihrer inneren Dynamik abhängig, sondern ganz maßgeblich von der Stärke der politischen Organisation der Arbeiterklasse, ihrer revolutionären Partei in den Räten. So wurden die Sowjets 1917 in Russland zu Trägern der siegreichen Oktoberrevolution. Das war aber nur dadurch möglich, weil die Bolschewiki in den Räten durch ihre konsequente revolutionäre Politik die Mehrheit in ihnen erobert hatten.

Andererseits scheiterten die revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte in Deutschland 1918/19 gerade am Fehlen einer solchen revolutionären Avantgardepartei, deren politisches Gewicht durch den kleinen Spartakusbund 1919 nicht ersetzt werden konnte. So spielten die Räte in Deutschland eben nicht dieselbe revolutionäre Rolle, die sie in Russland hatten.

Eine revolutionäre Situation kann nur von Kampforganen der Arbeiterklasse, der Arbeitslosen und der Jugend gewonnen werden - diese Organe erkämpfen die Enteignung und Zerschlagung der Bourgeoisie - dies tun keine „Räteversammlungen“ mit Konsensprinzip.

Das Konsensprinzip

Das, sehr demokratisch anmutende, Konsensprinzip der APPO behindert tatsächlich die offene Artikulation, Auseinadersetzung und Klärung der verschiedenen ideellen Strömungen der Bewegung und der dahinter liegenden Klasseninteressen. Der Konsens verschleiert sie zugunsten eines Kompromisses, der die informelle Dominanz des Kleinbürgertums und der Mittelschichten über die Bewegung ausdrückt.

Das ist kein Zufall: widerspiegelt dieser Konsens doch die soziale „Mittelstellung“ dieser Schichten und ihr Interesse an einem sozialen Kompromiss und auf einen „friedlichen“ Übergang. Das Kleinbürgertum steht zwischen den politischen Interessen des Großkapitals und des Proletariats, ihr netzwerkartiges pazifistisches Bewusstsein ist Ausdruck dieser Situation.

Das Konsensprinzip steht dem grundsätzlich demokratischen Organisationsprinzip der Räte - also auch der Propagandafreiheit - entgegen und kollidiert auch damit, dass Räte praktisch handelnde Machtorgane sind, die dafür auf Mehrheitsentscheidungen angewiesen sind.

Auch ein anderer wichtiger Aspekt der Räte, dass sie Schulen des Klassenkampfes für das Proletariat sind, wird durch das Konsensprinzip konterkariert, weil es die politischen Differenzen verwischt und damit auch revolutionäre Politik allenfalls zu einer „pikanten“ Beimischung reformistischen Politiksalates macht.

Mit Begriffen wie „basisdemokratisch“ oder „rätedemokratisch“ wird im globalen antikapitalistischen Widerstand heute oft die Vorherrschaft informeller Führungen und Bürokratenklüngel verschleiert.

Oft werden die Entscheidungsgremien des internationalen Widerstands von Reformisten, Bürokraten und Karrieristen bestimmt - abgestimmt hat darüber keiner, abwählbar sind diese auch nicht und politisch schon gar nicht zu gebrauchen. Diese Krise der politischen Führung des Widerstands ist derzeit das entscheidende Hemmnis beim Aufbau revolutionärer Arbeiterparteien weltweit. Mit Demokratie bzw. Basisdemokratie hat dies alles gar nichts zu tun, vielmehr mit einer ungewählten reformistischen Führung.

Diese Führungen verneinen die Notwendigkeit einer Kampfpartei mit klarem Klassenstandpunkt. Sie wollen einen „zivilgesellschaftlichen“ Protest in der bürgerlichen Ordnung - nicht einen revolutionären Kampf gegen diese Ordnung. Der Rätebegriff wird von diesen Bewegungen missbraucht.

Netzwerk, Rat oder Partei?

Dadurch ist auch ein scheinbarer organisations-methodischer Widerspruch zwischen Partei und Räten in der internationalen Bewegung entstanden. Die Partei wird mit Bürokratie und Zentralismus gleichgesetzt, während Räte und Räteversammlungen mit unmittelbarer Demokratie identifiziert werden.

Besonders in der Bewegung der Globalisierungsgegner hat dieses Missverständnis einer reformistischen Führung in die Hände gespielt: in fast allen nationalen, regionalen oder indigenen Widerstandsbewegungen hat diese Ideologie heute Fuß gefasst.

Die ArbeiterInnen, Arbeitslosen und die Jugend brauchen starke revolutionäre Organisationen, nur diese können den Kampf gegen Kapital und Staat aufnehmen und die Massen vom Reformismus brechen. Gegen einen entfesselten Imperialismus können wir keinen „sozialen“ Kapitalismus fordern, oder „alternative“ Regierungsformen im bürgerlichen System aufbauen - wir müssen die soziale Revolution fordern: die Diktatur des Proletariats.

In Deutschland hat sich das NLO die Aufgabe gestellt, die antikapitalistische Bewegung zu bündeln, gegen den Reformismus der „neuen Linken“, gegen Krieg und Sozialabbau.

Dabei müssen wir auch über die Begriffe Räte und Partei diskutieren. Vielen steckt auch noch die Zwangsfusion in bürokratischer Manier in der WASG in den Knochen, einige sträuben sich gegen den Parteibegriff. Doch müssen wir uns über den angestoßenen Prozess im Klaren sein. Wir wollen keine reformistische Regierungsbeteiligung - wir wollen die antikapitalistische Bewegung zusammen führen, wollen Kämpfe auf den Straßen und in den Betrieben nicht nur begleiten, sondern auch führen. Dies sind die Anforderungen, an denen PDS/WASG gescheitert sind: die Grundanforderungen an eine sozialistische Arbeiterpartei.

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Nr. 119, April 2007
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