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Vor 50 Jahren

Arbeiteraufstand in Ungarn

Roland Trauner/Martin Haffner, Neue Internationale 115, November 2006

Vor 50 Jahren, im Oktober und November des Jahres 1956, fand in Ungarn ein Aufstand statt, der in seiner Größe damals einmalig war. Noch nie zuvor hatte sich eine so breite Volksbewegung, noch dazu derart deutlich, gegen die stalinistische Unterdrückung in einem Ostblockland aufgelehnt. Es waren ArbeiterInnen, Bauern und StudentInnen, die diese Bewegung vorwärts trieben und eine verhasste stalinistische Regierung stürzten. Es kam zur Bildung von revolutionären ArbeiterInnen- und Bauernräten, die auch die meisten Fabriken und Landgüter kontrollierten. Leider aber endete diese hoffnungsvolle Massenbewegung in einem Meer von Blut, ohne letztlich viel bewirkt zu haben.

Die Geschehnisse des Herbstes 1956 in Ungarn stellen sicherlich weit mehr dar, als nur die Auflehnung der Bevölkerung gegen eine ungeliebte Regierung. Vielmehr waren sie eine der wenigen Chancen in der Geschichte der Arbeiterschaft in den stalinistischen Staaten Osteuropas die alles beherrschende Bürokratie durch die direkte Herrschaft der ProduzentInnen, der ArbeiterInnen und Bauern, zu ersetzen.

Nach dem Tod Stalins 1953 gab es einen leichten Kurswechsel in Moskau. Die neue “kollektive” Führung (Troika) unter Malenkow, Chrustschow und Mikojan traute sich nicht, die Stalinsche Politik des äußerst harschen Kurses gegen die ArbeiterInnen fortzusetzen. Letztlich braucht auch das stalinistische Terrorregime ein gewisses Ausmaß an Unterstützung oder zumindest Neutralität innerhalb der Massen. Folglich verkündete die neue Kremlführung eine - freilich sehr begrenzte - Lockerung der Repression, die stärkere Förderung der Konsumgüterindustrie gegenüber der Schwerindustrie und Zugeständnisse an jene Bauern, die der Kollektivierung ablehnend gegenüberstanden.

In Osteuropa hielten die Stalinisten seit dem Einmarsch der roten Armee in den letzten Kriegsjahren de facto den Staatsapparat in den Händen. Um ihre Macht nicht zu verlieren, sahen sie sich zu Beginn des Kalten Krieges Ende der 1940er Jahre gezwungen, den Unternehmern die Betriebe wegzunehmen um mittels bürokratischer Wirtschaftspläne das kapitalistische Wertgesetz außer Kraft zu setzen. Doch an dieser sozialen Revolution konnten die ArbeiterInnen selbst nicht aktiv und selbstständig mitwirken - im Gegenteil: die Bürokratie an den Schalthebel der Macht unterdrückte schon seit Kriegsende jede größere, eigenständige Bewegung der Massen. Das war auch der Grund, weshalb die Planwirtschaft an den realen Bedürfnissen und Möglichkeiten der arbeitenden Bevölkerung oft weit  vorbeiging, den utopischen Projekten der Bürokratie (“Sozialismus in einem Land”) und den Privilegien der KP-Nomenklatur diente und daher zu ständigen Engpässen und Wirtschaftskrisen führte, deren Folgen dann erst recht wieder bürokratisch unterdrückt werden mussten.

Der “neue Kurs” Moskaus kam natürlich auch in anderen Ostblockländern zur Anwendung, nur hatte er dort größere Auswirkungen. Weshalb? Weil es in diesen Staaten eine unter Stalins Lebzeiten an den Rand gedrängte Fraktion innerhalb der stalinistischen KP gab, die einen relativ unabhängigen Weg gegenüber Moskau gehen wollte. Ihr Vorbild war Titos Jugoslawien, wo die Staatsmacht ja unabhängig von der roten Armee erobert worden war und daher nicht Wirtschaftsverträge mit der Sowjetunion, die eindeutig Moskau bevorteilten, eingehen musste und keine Reparationszahlungen zu leisten hatten.

Diese “national-stalinistischen” Fraktionen waren natürlich nicht weniger bürokratisch, erfreuten sich aber einer gewissen Popularität unter den Massen, weshalb sie auch in den Augen der Troika besser geeignet schienen, die stalinistische Herrschaft zu stabilisieren.

Ungarn Anfang der 1950er

In Ungarn wiederum war die “national-stalinistische” Fraktion durchaus beliebt und Stalins Statthalter extrem unbeliebt. Das hängt damit zusammen, dass Ungarn bis in die 1940er Jahre vorwiegend ein Agrarland war und daher unglaubliche Arbeitshetze und politische Repression am Arbeitsplatz notwendig waren, um eine monströse Schwerindustrie in nur wenigen Jahren aus dem Boden zu stampfen. Viele Bauern wurden zu unproduktiven Kooperativen gezwungen und trauerten ihrer eigenen Scholle nach. Die Preise von landwirtschaftlichen Produkten wurden gemäß den Akkumulationsinteressen der Schwerindustrie festgelegt.

Es ist daher kein Zufall, dass der unbeliebteste Politiker dieser Zeit, der “kleine Stalin” Rakosi war. Dieser lenkte die Geschicke der KP seit 1948 und führte das Land sozial in den Abgrund. Ihn völlig abzuservieren war der Moskauer Troika aber doch zu riskant, wahrscheinlich wollte man gegenüber einer der bravsten Marionetten auch nicht undankbar sein, auf jeden Fall einigte man sich 1953 darauf, als Zeichen der Erneuerung einen neuen Premier einzusetzen.

Dieser hieß Imre Nagy, war als Person an sich nichts Besonderes. Im Gegenteil: man konnte ihn eher dem rechten Flügel des Stalinismus zuordnen. Nagy wurde aber trotzdem zum Volkshelden. Warum? Noch nicht lange im Amt, wurde er bereits 1955 wieder entlassen. So errang er das Wohlwollen der ArbeiterInnen und StudentInnen, sah man ihn doch als Rivalen des verhassten Rakosi an. Abgesehen davon stand Nagys Unterschrift unter der ersten richtigen Bodenreform Ungarns kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Den Adel und den Großgrundbesitz entmachtet zu haben - eine fortschrittliche bürgerliche Aufgabe, zu der das ungarische Bürgertum politisch immer zu schwach war - das vergaßen ihm die Landbevölkerung aber auch die ehemaligen Bauern in den Fabriken nicht.

Dem Aufstand entgegen

Große Wellen schlug damals auch der Fall “Rajk”. Dieser war unter den ArbeiterInnen beliebt, weil er die ungarische KP in der Illegalität während der deutschen Besatzung geleitet hatte, während Rakosi seine Zeit im Moskauer Exil mit der Denunzierung von Arbeiterführern an den KGB verbrachte. Die Popularität Rajks unter den ungarischen ArbeiterInnen ging der sowjetischen Führung dann doch zu weit - er wurde nach Moskau ins “Exil” geschickt.

1954 wurde dann der „Petöfi-Zirkel“ gegründet, ein offeneres Diskussionsforum, welches der bürokratischen Führung des Landes ein Dorn im Auge war. Also erzwang man - mit einer Welle von Verhaftungen - im Juni 1956 die Schließung des Petöfi-Zirkels, der u.a. Rede- und Pressefreiheit, sowie die Rückkehr Nagys in sein Amt gefordert hatte. Dies erzürnte auch die ArbeiterInnen.

Ermutigt durch die großen Streiks, die zur selben Zeit in Polen stattfanden, streikte man daraufhin auch in Budapest - Moskau musste erneut reagieren. Diesmal brachte man statt Rakosi einen gewissen Gero, der dessen bravster Gefolgsmann war.

Doch die ArbeiterInnen ließen sich nicht täuschen: Am 6. Oktober war es soweit. Über 20.000 Menschen demonstrierten für die Rückkehr Nagys nach Budapest. Rote Fahnen in den Händen der proletarischen Jugend waren zu sehen. Man konnte den Spruch lesen: “Wir werden erst aufgeben, wenn der Stalinismus zerstört ist”.

Dann kam die Demonstration am 23. Oktober. Geführt vom Petöfi-Zirkel, sang man die Internationale und forderte “Nagy an die Macht, Rakosi in die Donau”. Angesichts solcher Ausschreitungen und insbesondere auch vor dem Hintergrund der beginnenden Verbrüderung zwischen ArbeiterInnen und Soldaten, musste die KP handeln. Sie forderte Truppen vom großen Bruder aus Moskau an und sie brachte tatsächlich Nagy erneut ins Amt - in der Hoffnung, er könne die Massen beruhigen.

Aber das war nicht mehr möglich. Als die ungarischen Sicherheitskräfte unbewaffnete DemonstrantInnen aus dem Hinterhalt erschossen, strömte die Menge zu den Kasernen. Es bedurfte nicht langer Erklärungen, um die ungarischen Soldaten zur Herausgabe von Waffen zu bewegen. Der Aufstand war ausgebrochen. Russische Panzer wurden losgeschickt, die auch auf Frauen und Kinder schossen, die sich um Brot anstellten.

Doch die sowjetischen Soldaten waren nicht die blinden Kampfmaschinen, die sich Gero & Co. erhofft hatten. In der Erwartung, aus der Sowjetunion geschickt worden zu sein, um einen faschistischen Aufstand niederzuschlagen, musste die Rote Armee nur zu bald die Erfahrung machen, dass es sich hier um das pure Gegenteil handelte: nämlich um fortschrittliche, kämpfende ArbeiterInnen. Zum größten Eklat kam es am 25. Oktober, als sowjetischen Soldaten eine Gruppe jubelnder DemonstrantInnen zum Parlament geleitete und von den umliegenden Hausdächern durch ungarische Sicherheitskräfte beschossen wurden. Dabei starben 100 ZivilistInnen und russische Soldaten.

Mitunter wechselten selbst KP-Funktionäre die Fronten. Major Maleter, ein alter Spanienkämpfer, schilderte im Radio den Aufstand, den er mit seinen Truppen eigentlich hätte niederschlagen sollen: “Als ich dort hinkam, entdeckte ich, dass die Kämpfer für die Freiheit keineswegs Banditen sind, sondern vielmehr loyale Kinder Ungarns. Darum informierte ich das Verteidigungsministerium, dass ich mich den Aufständischen anschließen werde.” Ein anderes Mal sagte der Major: “Wenn wir die Russen endlich los sind, kehren wir sicher nicht zu den alten Zeiten zurück. Wir wollen nicht den Kapitalismus. In Ungarn wollen wir Sozialismus.”

Dieser Vorfall ist ein Hinweis dafür, dass die Nagy-Leute von der Fraktion des “National-Stalinismus” die Bewegung vorerst nicht kanalisieren und beruhigen konnten, sondern eher Getriebene waren.

Arbeiterräte

Ab 26. Oktober wurde die Arbeit landesweit niedergelegt. Massenstreiks breiteten sich aus, was bald zu Betriebsbesetzungen führte, um der Bürokratie den Weiterbetrieb der Fabriken unmöglich zu machen. Spontan entstanden Koordinationsformen für diese Aufgaben: Räte. Auf dem Land bildeten sich Bauernkomitees. Diese Räte und Komitees, die in kurzer Zeit überall in Ungarn aus dem Boden schossen, waren das Herz der Revolution. Niemand konnte bisher flexiblere und effektivere Instrumente des Aufstandes “erfinden”, als es die Räte sind, in welche die Massen KämpferInnen ihres Vertrauens entsandten.

Politisch gesehen waren die ungarischen Räte 1956 nicht geeint, sie stellten mitunter ziemlich unterschiedliche, auch lokale Forderungen auf. Das ist auch nicht verwunderlich, alles musste schnell gehen, unmittelbare politische Erfahrungen gab es keine; von einer Partei, die den Aufstand angeleitet hätte, ganz zu schweigen. Insgesamt aber gab es innerhalb der Räte kaum Stimmen für eine Wiederherstellung des Kapitalismus oder ein Zurück hinter die Landreform.

Viele Forderungen waren gegen die politische Repression durch den Stalinismus gerichtet (Rede- und Organisationsfreiheit), andere waren eher ein Reflex gegen den bürokratischen Zentralismus in der Wirtschaft (Selbstverwaltung der Betriebe), wieder andere setzten an den Losungen der “Nationalen” StalinistInnen an (Abzug der russischen Truppen, Austritt aus dem Warschauer Pakt). Die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung war neben den Kampf gegen die heimische stalinistische Repression überhaupt eine zentrale Frage.

Die bewaffneten Massen und die politische “Subversion” der Räte und Komitees zwangen die sowjetischen Truppen am 31. Oktober vorerst zum Abzug. Das war ein erster Sieg!

Trotz dieses enormen Potentials hielten die Massen an einer - teilweise kritischen - Unterstützung für Nagys fest. Dass dieser Nagy aber ein überzeugter Stalinist war, und somit dem System angehörte, das sie bekämpfen wollten, konnten die breiten Massen in der kurzen Zeit nicht lernen - jahrelang hatte sich die Nagy-Fraktion innerhalb der KP-Bürokratie als Alternative gebärden können, sie war ja auch nicht an der Macht. Nun aber war sie es. Teils trieb sie vor den Massen her (Nagy erklärt Ungarn für neutral und erkennt die Räte formal an), teils versuchte sie, den Aufstand zu sabotieren (Nagy verkündet das Standrecht).

So benutzte Nagy das Vertrauen, das im von den Aufständischen entgegengebracht wurde. In seiner engen stalinistischen Gedankenwelt sah er nicht die Chance, die erstarrte Bürokratie durch ArbeiterInnenräte zu ersetzen und tat das, was im Stalinismus immer bei solchen Gelegenheiten passierte: Um ja zu verhindern dass es zum Sieg der politischen Revolution der Massen als Vorbedingung für einen „gesunden“ ArbeiterInnenstaat kommen konnte, ging Nagy eine Koalition mit offen bürgerlichen und reaktionären Kräften ein. Am 27. Oktober präsentierte er seine neue Regierung, die z.B. auch SozialdemokratInnen enthielt.

Gut möglich, dass dies als Fenster in Richtung Restauration des Kapitalismus gedacht war. Doch die gesamte, auch internationale, Konstellation ließ in den 1950er Jahren eine soziale Restauration noch nicht zu. Blieb für die ungarische KP (und ironischerweise auch für Nagy selbst!) nur Moskau als Lösung.

Dafür musste innerhalb der KP natürlich ein neuer Mann her: Janos Kadar. Mit Hilfe neuer russischer Truppen “normalisierte” er die Verhältnisse. Unter der Lawine des sowjetischen Militärs erstickte der Aufstand. Das größte Defizit der ungarischen ArbeiterInnen war natürlich das Fehlen einer revolutionären Partei, die das Vertrauen der Massen in die Nagy-Fraktion untergraben, die bewaffneten ArbeiterInnen zu roten Milizen organisiert und eine systematische politische Zersetzungsarbeit in der Sowjetarmee begonnen hätte. Auf den Räten aufbauend hätte sie eine Gegenregierung gestellt und Vorbereitungen für eine wirklich demokratische Planwirtschaft getroffen.

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Nr. 115, November 2006

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