Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Fußfessel, Abschiebungen, Gefährder

Hilft nur der Verfassungsschutz gegen seine „Pannen“?

Tobi Hansen, Infomail 214, 14. Januar 2016

Seit dem mörderischen Anschlag vom 19. Dezember in Berlin wurde viel berichtet und noch mehr gehetzt. Wut und Trauer der Betroffenen werden missbraucht, gegen Flüchtlinge wird Stimmung gemacht, weil sie ja TerroristInnen werden könnten.

Anis Amri starb am 23. Dezember in Mailand. Bei einer Polizeikontrolle wurde er von italienischen Polizisten erschossen. Danach durfte die deutsche Öffentlichkeit einiges erfahren über ihn, seine tunesische Familie, seine Odyssee durch Europa, seinen Abschiebungsbescheid, seine Radikalisierung zur extremen Reaktion, aber auch seine Kontakte zum Verfassungsschutz.

Als Reaktion, im doppelten Sinne des Wortes, hat die Bundesregierung jetzt neue Repressionsmaßnahmen beschlossen. Die sog. „Gefährder“ sollen schneller abgeschoben werden, bis dahin könnte eine Fußfessel ihren Aufenthalt sichern. Die „Abschiebehaft“ kann jetzt auch schneller angeordnet werden, darin sind sich CDU/CSU/SPD einig. Ebenso gibt’s Forderungen nach mehr Polizei, nach einer Zentralisierung der Dienste, der Innenminister will die Landesämter des Verfassungsschutzes auflösen und in eine Behörde zusammenfassen. Auch Grüne und Linkspartei stimmen ein in den Chor der VaterlandsverteidigerInnen.

Noch immer liegen 12 Schwerverletzte in Berliner Krankenhäusern. Deren Schicksal bzw. die Lage ihrer Angehörigen interessiert allenfalls am Rande.

Die Dienste und die Gefährder

Seit dem Anschlag haben wir wieder einiges über den Terrorismus gelernt. Die potentiellen Anwender des Terrors heißen heute Gefährder, früher waren das die Schläfer. Von den islamistischen/dschihadistischen Gefährdern gibt’s lt. Verfassungsschutz aktuell knapp 550 in Deutschland, dazu noch 10 „rechtsextreme“ Gefährder und wohl auch 5 „linke“, nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Anis Amri war seit 2015 als solcher bekannt. Damals hatte er einen Abschiebebescheid bekommen und agierte seither unter verschiedenen Identitäten mit regelmäßigem Kontakt zu dschihadistischen Kreisen.

Wir wissen das aus den bürgerlichen Medien, da ihn der Verfassungsschutz beobachtete. Mindestens zwei der sog. „Schlapphüte“ observierten ihn und standen sogar in Kontakt. So wusste der Verfassungsschutz von seinen Kontaktversuchen zur Hildesheimer Islamistenszene. Von deren Mitgliedern sitzt einer hinter Gittern und die anderen werden zumindest als Anlaufstation für „Neue“ auch von den Diensten „mit“genutzt.

So wusste einer der Kontaktleute von Amri auch, dass dieser einen Anschlag in der Hauptstadt plant. Schließlich fuhren die beiden auf einer gemeinsamen Spritztour von Dortmund nach Berlin, um die „Sehenswürdigkeiten“ der Stadt wie z. B. die Gedächtniskirche näher anzusehen.

An solchen Stellen wäre es einfach, aber auch etwas missverständlich, von Mitwisserschaft der Dienste zu sprechen. Schließlich ist genau das ja ihr Job, zu wissen, was illegal geplant ist – dafür gibt es ja die ganzen Verfassungsschutzämter, LKAs, BKAs, MADs usw. Infiltration, Mitwisserschaft, Provokation ist somit kein Ausrutscher, sondern gehört zum Berufsbild.

Beispiel Nazi-Szene

Am Beispiel der neofaschistischen Szene hatte man sich in den letzten Jahren an einiges gewöhnt. Viele V-Männer schwirrten um den NSU, wiederum andere hatten Kameradschaften radikalisiert und „kampffähig“ gemacht – alles natürlich nur, damit sie dann auch als Straftäter gefasst werden können, schließlich darf die Polizei erst einschreiten, wenn etwas passiert ist. In dem Fall wurde auch einige Male dafür gesorgt, dass etwas passiert ist.

Nun soll die Rechtslage weiter verschärft werden. Ziel ist es letztlich, dass Beschuldigte ohne konkrete Tat festgenommen und auch verurteilt werden können, dass die bloße Absicht reicht. Es fehlt aktuell nicht mehr viel, dann würde wieder eines der düsteren Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte aufgemacht, dann wären wir wieder nahe der „Schutzhaft“, einer  Maßnahme, die das Dritten Reich vor allem gegen missliebige politische Akteure einsetzte.

Die Dienste arbeiten möglichst nahe an den potentiellen Gefährdern, bieten sachlich und virtuell gewissermaßen eine Infrastruktur an, die dann zu überwachen ist. So sind letztlich auch fast alle Gefährder bekannt, sind solcherart im „Kontakt“ mit den Behörden und können daher von diesen überwacht und gegebenenfalls auch festgenommen werden. Es gehört auch zur Arbeit der Dienste, dass diese Gefährder und/oder V-Leute verdeckt agieren können, sie also auch dementsprechend versorgt werden, beispielsweise mit Papieren, Geld etc. Das ist keine Verschwörungstheorie, das ist Praxis dieser Art von Diensten.

Dass dann am Tatort Papiere und Handy gefunden werden, gehört inzwischen zur „Normalität“ des „Kriegs gegen den Terrorismus“. Manche der sog. ExpertInnen meinen, es gehöre zur Strategie des sog. „Islamischen Staates“ (IS), die Namen zu hinterlassen, damit die Angehörigen versorgt werden können. Fragt sich nur, warum eine Organisation wie der IS nicht wissen soll, wer für sie Attentate begeht oder nicht.

Schlussfolgerungen

Was wir wissen ist, wem es nützt. Es nützt den Repressionsorganen des Staates, es nützt den kleinbürgerlichen Extremen der Rechten und es nützt auch den islamistischen Kreisen, welche jetzt auch „ihren“ Anschlag in Deutschland haben. Es nützt vor allem aber auch den Interessen des deutschen Imperialismus, institutionelle und politische Hindernisse bei der äußeren wie inneren Aufrüstung zu überwinden. Dass auch die Regierung jetzt Schwächen des Verfassungsschutzes eingesteht und der Innenminister De Maizière eine grundlegende „Reform“, also die Zentralisierung in einer Bundesbehörde fordert, wie sie in anderen Staaten üblich ist, hat einen leicht durchschaubaren Zweck. Die angebliche Beseitigung der „Schwächen“ der Dienste dient zur Rechtfertigung weiterer Machtkonzentration und Ausweitung ihrer Befugnisse.

Diese Kombination der Nutznießer sollte die „Linke“, sollte die ArbeiterInnenbewegung stutzig machen. Uns helfen keine Forderungen nach mehr Polizei, Videokontrollen oder schnelleren Abschiebungen. Dies ist nur die Oberfläche eines Systems, das Menschen aus ihrer „Heimat“ vertreibt, Kriege und Gewalt schürt, das selbst mit Repression, Ausbeutung, Rassismus, Besatzung und Terror gegen alle vorgeht, die sich den Interessen der herrschenden Klassen und Großmächte in den Weg stellen.

Die Familie von Anis Amri musste nach dem Anschlag der Presse Interviews geben und natürlich waren alle daran interessiert, wann denn Amri zum Islamisten geworden sei. Ein Bruder erklärte unter Tränen: „Wir alle hier wissen doch, warum Anis gegangen ist, nicht weil er Terrorist war, nein, das wurde er in Europa, er wollte Arbeit finden, um damit seine Familie zu unterstützen, das war sein Ziel“.

Wie diese Odyssee endete, ist nun reichlich bekannt. In keinem Land akzeptiert, in den Knästen schikaniert, hat er keine Möglichkeit gefunden, das zu tun, warum er losgezogen ist. Rassismus, Schikanen und Perspektivlosigkeit haben ihn dazu geführt, sich einer reaktionären Ideologie der gesellschaftlichen Verzweiflung, dem dschihadistischen Islamismus, zuzuwenden. Diese Tragödie rechtfertigt die mörderische Tat Amris nicht – sie macht aber ihre gesellschaftlichen Ursachen verständlich, macht verständlich, warum 12 Unschuldige am Breitscheidplatz ermordet wurden.

Die deutschen Medien und die bürgerlichen PolitikerInnen haben kein Interesse an solcher Ursachenforschung. Innere Aufrüstung, Einschränkung demokratischer Rechte und beschleunigte Abschiebungen sollen für „Ordnung“ und „Sicherheit“ sorgen, in Wirklichkeit jedoch die Bevölkerung in einem permanenten Zustand der Angst und der Schocks halten.

Zugleich werden Länder wie Tunesien auch noch chauvinistisch und rassistisch dargestellt und offen erpresst. Der „Job“ Terrorist erscheint dann besonders „angesagt“ in Tunesien. Sollte sich der Staat weigern, Gefährder wieder aufzunehmen, fordern besonders pfiffige Politikerkasper von der CSU, dass die sog. „Entwicklungshilfe“ gestrichen wird. Das hat Tradition zwischen imperialistischen Ländern und Halbkolonien in Afrika. Wer nicht spurt, wird  bestraft.

Die Innenminister der Länder werden nicht müde zu betonen, dass rund 60 Gefährder bereits abgeschoben werden sollten. Da aber keine Dokumente vorliegen, müssten diese auf Dauer in Abschiebehaft.

Wenige sprechen davon, warum und wie sich muslimische Menschen durch den „Krieg gegen den Terrorismus“ in den vergangenen 15 Jahren radikalisierten und die Überzeugung gewannen, sich und andere zu töten. Welche Kriege geführt wurden, wie der gescheiterte „arabische Frühling“ von den imperialistischen Staaten betrieben und genutzt wird, um diese Region strukturell in Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg zu halten. Stattdessen betreiben die Staaten einen Repressionswettlauf. Alle Parteien fordern dafür mehr Anstrengungen.

Aber keine der im Bundestag vertretenen Parteien verteidigt die MuslimInnen, die Geflüchteten gegen den Rassismus; keine ist bereit, mit ihnen gemeinsam gegen die Ursachen ihre Flucht zu kämpfen, für offene Grenzen, für gleiche Rechte für alle, die hier leben.

Doch genau das muss unsere Perspektive sein. Nein zur Verschärfung der inneren Sicherheit, dem „ungehemmten“ Treiben der verschiedenen Repressions- und Überwachungsorgane! Gemeinsam dem Rassismus und dem allgemeinen Rechtsruck in der Gesellschaft entgegentreten!

Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?!

Leserbrief schreiben   zur Startseite

Wöchentliche E-News
der Gruppe Arbeitermacht

:: Archiv ::

Nr. 215, Dez. 16/Jan. 17

*  USA "unter" Trump: Imperialismus reloaded
*  Trump und die Rechten: "White supremacy" macht den Chefberater
*  Rentengipfel: Kürzungen fortgeschrieben
*  Berliner Mietenpolitik: Kleine Brötchen gebacken
*  Wohnungselend der Geflüchteten und Wohnungslosen
*  VW: Kahlschlag, mitbestimmt
*  Lufthansa: Solidarität mit dem Pilotenstreik
*  Zur "revolutionären Realpolitik" der Linkspartei: Revolution oder Transformation
*  2017: Jahr der Abschiebungen?
*  Spanien: Rajoy macht weiter
*  Venezuela: Todeskampf des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts"
*  Pakistan: Frauen und Islam
*  Türkei: Solidarität mit der HDP!