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"Sozialistische" Kandidatur

Ein Erfolg für die SAV?

Jürgen Roth, Arbeitermacht 62, Mai/Juni 2000

Am 25. März kandidierte im Wahlkreis Stuttgart 1 bei den baden-württembergischen Landtagswahlen Tinette Schnatterer für die Sozialistische Alternative VORAN (SAV) und erhielt mehr als 200 Stimmen. In der Aprilausgabe ihrer Zeitung (VORAN 223) feierte die SAV dieses Ergebnis als großen Erfolg. Wir meinen, dass es besser gewesen wäre, die SPD kritisch zu unterstützen. Die SAV würde dem wahrscheinlich entgegnen, dass dann aber kein sozialistisches Programm und keine sozialistische Partei zur Wahl gestanden hätten!

Aber Genossen, hättet Ihr denn bei einer wirklich kritischen Wahlunterstützung für die SPD nicht auch die Propaganda für Euer Programm in den Mittelpunkt gestellt? Oder könnt Ihr Euch nur eine "kritische" Unterstützung der SPD für deren Programm vorstellen, also in Wahrheit eine unkritische? Bei Licht betrachtet hat doch das "Zur-Wahl-Stellen" Eures Programms und Eurer Organisation keinen Vorteil gegenüber einem Wahlkampf gemäß etwa dem Motto "Wählt SPD, aber organisiert den Kampf! Kein Vertrauensvorschuß, sondern ernsthafter Test ihrer Versprechen! Konfrontiert die SPD mit Euren Forderungen!" usw. usf.!

Im Gegenteil: Euer Vorgehen hat einen entscheidenden Nachteil. Es verhinderte, in einen Dialog mit der sozialdemokratisch beherrschten Arbeiterbewegung einzutreten, einen Schritt gemeinsam mit ihnen zu machen, um Euer Programm und Handeln mit dem der SPD in gemeinsamer Praxis zu vergleichen und den Bruch der Arbeitermassen mit dem sozialdemokratischen Reformismus voranzutreiben. Damit wären die Bedingungen für den Aufbau einer revolutionären Partei wirklich verbessert worden.

Statt dessen habt Ihr einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet und die Chance versäumt, in direkter Auseinandersetzung mit den Wahlerwartungen/-versprechungen der Sozialdemokraten einen Kampf für Eure Auffassungen zu führen. Die Bedingungen für eine revolutionäre Politik in Deutschland wären durch einen Bruch weg von der SPD nach links allemal besser geworden. So aber habt Ihr nur Stimmen derer eingefangen, die sowieso keine Illusionen in die SPD haben. Zudem gründete sich Eure Kandidatur auch nicht auf eine reale Mobilisierung; sie ist nichts weiter als ein Stimmenfang, der zu keiner Umgruppierung oder zu einem wirklichen Konflikt führt. Wenden wir uns nun der Frage zu, um was für ein Programm es sich handelt, das Tinette Schnatterer verficht.

Vier auf einen Streich!

Unter der Überschrift "Kostenlose Bildung für Alle!" beschreibt Genossin Schnatterer die Zustände im Bildungsbereich. Richtig wird auf die Defizite, die Kürzungen etc. in diesem Bereich verwiesen. Dagegen fordert die SAV richtigerweise u.a.: kostenlose Bildung für Alle, kleinere Klassen und Neueinstellung von Lehrern.

Gegen die Castor-Transporte und den rot-grünen Nichtausstieg empfiehlt die SAV einerseits eine Wiederauflage der bekannten Anti-AKW-Bewegung. Andererseits - über diesen "ersten Schritt" hinaus - helfe nur der "Aufbau einer inhaltlichen und personellen Alternative", zunächst einmal mittels ihrer Landtagswahlkandidatur, die "auch hier ein Zeichen setzen" will.

Gegen das Prestigeobjekt Stuttgart 21, die Milliarden teure Unterkellerung des Stuttgarter Hauptbahnhofs - ein durch staatliche Subventionen gefördertes Projekt der Standortkonkurrenz, was den Rückzug des Verkehrsmittels Bahn aus der Fläche zugunsten der Umwandlung in einen Flughafenzubringer für Unternehmer und Manager begünstigt - fordert die Landtagskandidatin den Ausbau des kostenlosen Nahverkehrs sowie von Kindertagesstätten, Schulen und Krankenhäusern.

Betont wird die Gefahr von rechts: die Republikaner saßen mit 9 Prozent im Landtag, kandidierten flächendeckend, die NPD in immerhin 33 Wahlkreisen. Dagegen will sich VORAN - auch im Wahlkampf - den Nazis in den Weg stellen, die Verbreitung ihrer Propaganda verhindern und sich dagegen wehren, dass ihnen öffentliche Plätze oder Räume überlassen werden.

Beschränkung

Ohne ins Detail zu gehen und trotz richtiger Enzelforderungen, läßt sich mit Fug und Recht behaupten: dieses Landtagswahlprogramm ist kein sozialistisches, sondern eine linke Variante von Reformismus! Warum?

Zunächst fällt die Beschränkung auf vier Themen auf. Hat die deutsche Arbeiterbewegung nicht noch andere Probleme wie: welche Gewerkschaften, Betriebsorganisationen, kurz Organisationsformen, braucht sie, um ihre Interessen durchzusetzen? Etwa das Parlament; die DGB-Einzelgewerkschaften mit ihrer privilegierten und verräterischen, undemokratischen Mauschelbürokratie; die an Friedenspflicht geknebelten Betriebsräte? Was ist eigentlich mit der PDS? Wird die hier vielleicht nicht erwähnt, weil ihre Vorstellungen sich von denen der SAV nur in Nuancen unterscheiden? Und wenn ja, warum ist die PDS nicht die sozialistische "Alternative", die es aufzubauen gilt, sich aber doch zumindest mit mehr Recht Partei nennen darf als die SAV?

Bei aller Berechtigung der Wahlkampfforderungen tragen sie doch einen Makel: sie sind beschränkt! Beschränkt in dem Sinne, dass sie nicht - ausgehend von dem Kampf um sie - eine Dynamik des Klassenkampfs in Richtung Machteroberung einleiten. Sie verknüpfen sich nicht mit der Frage der unabhängigen Organisierung der Arbeiterklasse vom bürgerlichen Staat. Sie gehen der Frage des Kampfes gegen dessen politische Agentur in den eigenen Reihen - der Arbeiterbürokratie -, der Kontrolle über Produktion und Verteilung aus dem Wege. Die SAV-Forderungen schlagen eben genau nicht die Brücke vom Kampf um aktuelle Tagesinteressen hin zur Ergreifung der Staatsmacht, zur Arbeiterkontrolle in Form von Räten, Betriebskomitees, zum Sozialismus und einer Planwirtschaft - zur Diktatur des Proletariats.

Heißt "Kostenlose Bildung für Alle!" nur Kampf gegen Elitebildung und Sparappelle? Sollen nicht die Unternehmer progressiv besteuert werden? Wer soll ihren Reichtum erfassen? Ist nur eine Rückkehr zur SPD-Bildungspolitik nach 1966 bis... angesagt (Arbeiterkinder auf die Unis)? Soll der bürgerliche Staat über Finanzierung und inhaltliche Ausrichtung der Bildung entscheiden? Wie kann der Einfluß "der Wirtschaft" auf die Bildungspolitik aufgehoben werden, ohne das kapitalistische Privateigentum an den großen Produktionsmitteln gewaltsam zu enteignen?

Methode

Die SAV behauptet: "Wir zeigen sehr wohl den Weg zum Sozialismus auf und unterscheiden uns von der Politik aller etablierten Parteien, die im Auftrag der Vorstandsetagen von Deutscher Bank und Daimler alles zugunsten der Profite unternehmen, wobei die Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt nichts zählen. Um der Profitlogik ein Ende zu setzen, müssen Banken, Konzerne und Versicherungen in Gemeineigentum überführt und unter demokratische Leitung und Kontrolle gestellt werden. Alle VertreterInnen, die unsere Interessen wahren sollen, dürfen nicht mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn erhalten und müssen jederzeit rechenschaftspflichtig und abwählbar sein…Entscheidend ist, selbst etwas zu tun und der SAV als sozialistischer Partei beizutreten". (VORAN Nr. 222)

Diese Passage verrät uns aber leider nicht, wie denn das Großkapital in Gemeineigentum überführt werden muß - auf friedlichem parlamentarischem Wege etwa? Oder was darunter zu verstehen ist - vielleicht eine Übernahme durch den bürgerlichen Staat? Dies sind nur die auffälligsten Doppeldeutigkeiten; wir könnten noch andere Unklarheiten kritisieren.

Objektivismus als Grundzug

"Die SAV unterstützt jeden Ansatz zum Aufbau einer breiteren Arbeiterpartei, ohne dass sie ein sozialistisches Programm zur Bedingung macht. Ohne eine Partei mit einem klaren revolutionär-sozialistischem Programm wird es jedoch nicht gelingen, das kapitalistische System zu überwinden. Die SAV hat sich zum Ziel gesetzt, eine revolutionäre Partei aufzubauen." (Grundsatzprogramm der SAV)

Genossinnen und Genossen, Ihr müßt Euch entscheiden, ob Ihr eine "breite Arbeiterpartei" mit z.B. Teilen der heutigen PDS-Linken oder eine kommunistische aufbauen wollt!

Für die SAV scheint aber folgendes Etappenmodell der Entwicklung eines massenhaften revolutionären Klassenbewußtseins zuzutreffen: die SPD hielt Jahrzehnte lang den sozialistischen Anspruch formal bei und hatte eine starke Verankerung in der Arbeiterklasse. In den 80er Jahren begann der Prozeß der vollständigen Verbürgerlichung der SPD. Der Anspruch von Sozialreformen und demokratischem Sozialismus wurde aufgegeben. Die SPD hat ihre Arbeiterbasis weitgehend verloren. Sie wurde zu einer rein bürgerlichen Partei, auch wenn sie ihre Wählerschaft weiterhin hauptsächlich aus der Arbeiterklasse hat. (a.a.O., S.21)

Lassen wir einmal den für Marxisten offenkundigen Unsinn beiseite, eine bürgerliche Arbeiterpartei z.B. daran festzumachen, was sie an Sonntagsreden über Sozialreformen und sogar "demokratischen Sozialismus" verlauten läßt. Dennoch steht die Frage im Raum, warum VORAN bis in die 90er Jahre hinein in einer vollständig verbürgerlichten Partei mit verlustig gegangener Arbeiterbasis als "Marxisten in der SPD und den Jungsozialisten" einen langfristig angelegten, strategischen und opportunistischen Entrismus durchgeführt hat?

Die damalige Strategie lautete: die Radikalisierung der deutschen Arbeiterbewegung geht notwendig durch die SPD, treibt diese nach links. Die SAV als U-Boot "immer bei den Massen" erringt deren Vertrauen und die Führung einer revolutionär gewendeten SPD.

Dieses Kalkül ignoriert natürlich, dass die Führung dieser Partei in den Händen einer kleinbürgerlichen Kaste von Arbeiterbürokraten liegt, die solchem Treiben wohl kaum tatenlos zusehen würde, sondern offen revolutionäre Politik in ihren Reihen außer für kurze Momente in seltenen Perioden (z.B. Frankreich Mitte der 30er Jahre) mit sofortigem Ausschluß bestrafen würde.

Um mit der Partei für den erwarteten massenhaften Linksdrall zu überwintern, konnte VORAN dies nur unter Preisgabe eines solchen Programms und des Aufbaus einer neuen, revolutionär-kommunistischen Arbeiterpartei tun - die SPD wurde ja selber als unter Druck nach links verschiebbares taugliches Ersatzinstrument betrachtet! Breite Einheit mit den Reformisten zuerst, revolutionäre Kritik später - das war damals und ist heute die Devise!

Ihre Grundlage ist die mechanische Annahme einer allmählichen Entwicklung von Klassenbewußtsein durch den "objektiven Prozeß" in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Klassenkampf. Die SAV muß sich natürlich für die von revolutionären Marxisten voraussagbare Pleite dieser Strategie wiederum am objektiven Prozeß schadlos halten: Verlust der Arbeiterbasis, Verbürgerlichung.

Die Wende von VORAN weg vom Entrismus hin zum Aufbau einer eigenen Massenpartei folgt der gleichen objektivistischen Methode: die Arbeiterbasis hat mit der SPD gebrochen - wie merkwürdig, dass das am Führungsmonopol der SPD-Bonzen im DGB spurlos vorbeigegangen ist - und sucht auf ihrem unablässigen Weg nach links eine neue politische Heimat.

In dieser Neuauflage eines alten Spiels mit dem Hasen Arbeiterklasse wähnt sich die SAV als schlauer Igel mit einem "sozialistischen" Programm, das stark an die Jusos der 70er Jahre erinnert - bestenfalls! Solchen Unsinn mit der Wirklichkeit zu versöhnen, bedarf es natürlich der Schaffung einer Durchhaltementalität, denn der objektive Radikalisierungsprozeß treibt "uns" ja die gewerkschaftlich organisierten Arbeitermassen, die sich - kampflos und ohne ihr eigenes Wissen, wahrscheinlich also wieder objektiv - schon von der SPD abgewandt haben, zu. So nimmt es nicht Wunder, dass man die wenigen Stimmen für die eigene Kandidatur zum Erfolg hochjubelt und sich in dem trügerischen Glauben wiegt, dass dieses Abenteuer gelichbedeutend wäre mit der Abwendung der Arbeiterklasse von der SPD.

Im Ernst: eine Gruppierung, die sich mit solchen Illusionen, Fehleinschätzungen und Gaukeleien durchschleppt, steht nicht allzu weit vom Abgrund entfernt.

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