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Buchbesprechung

Am Kältepol der Welt

Michael Eff, Infomail 894, 14. Juli 2016

„Um einen jungen Mann, der seine Karriere in der Goldgrube an der frischen Winterluft beginnt, in einen dochodjaga (jemand, der vor Auszehrung dem Tode näher ist als dem Leben; M.E.) zu verwandeln, braucht es im Lager zumindest zwanzig bis dreißig Tage bei sechzehnstündigem Arbeitstag, ohne Ruhetag, bei systematischem Hungern, zerrissener Kleidung und Unterbringung in löchrigen Planzelten bei sechzig Grad Frost, mit Prügel von den Vorarbeitern, den Ältesten, die Ganoven sind, und den Begleitposten… Unaufhörlich wirft die Goldgrube ihre Produktionsabfälle in die … sogenannten Genesungskommandos, in die Invalidensiedlungen und in die Massengräber aus.“ (Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma 1) So lautet eine nüchterne Zwischenbilanz.

Schalamow beschreibt in seinen vierbändigen „Erzählungen aus Kolyma“ das Leben und Sterben in den Verbannungslagern der Kolyma-Region, im äußersten Nordosten Sibiriens, in der Zeit des großen stalinistischen Terrors. Erzählungen absoluter Hoffnungslosigkeit, und doch ist die Tatsache der Existenz der Erzählungen ein Zeichen der Hoffnung.

Wer war dieser Warlam Schalamow? Hier nur ein paar Lebensstationen. S. wurde 1907 in Wolodga in Nordrussland geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Sein Vater, ein orthodoxer Geistlicher, hatte Kontakt mit politischen Gefangenen des Zarismus und stand der Februarrevolution 1917 positiv gegenüber. Schon früh interessierte sich S. für Literatur und schrieb selbst Gedichte. 1924 ging er nach Moskau, um Jura zu studieren. Er kam dort in Kontakt mit Literaten und linken Künstlern (u. a. mit S. M. Tretjakow und W. W. Majakowski). Vor allem aber schloss er sich zwischen 1927 und 1929 der Linken Opposition an und war in diesem Zusammenhang auch Teilnehmer am legendären Oppositionsblock bei den Feiern zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution in Moskau.

Das Jahr 1929 sollte seinem Leben für immer eine andere, tragische, Richtung geben: das Leben in Gefängnissen und Verbannungslagern. Er wurde 1929 verhaftet, weil er in einer illegalen Universitätsdruckerei für die Verbreitung von „Lenins Testament“ sorgen wollte. Die weiteren Leidensstationen seien hier nur kurz aufgezählt: 1929 angeklagt wegen „konterrevolutionärer Agitation und Organisation“, danach eineinhalb Monate Einzelhaft, dann Verurteilung zu 3 Jahren Haft in einem Lager und anschließende Verbannung in den Norden für 5 Jahre. Er konnte aber schon 1932 nach Moskau zurück. Die zweite Verhaftung erfolgte 1937 wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“. Das Urteil: 5 Jahre „Arbeitsbesserungslager“.

Nun kam er in die berüchtigte Kolyma-Region, das Zentrum eines GULag-Wirtschaftsimperiums. 1943 wurde er zu weiteren 10 Jahren Lagerhaft wegen angeblicher „konterrevolutionärer Propaganda“ verurteilt. Ingesamt 17 Jahre verbrachte S. in der Kolyma-Region. 1951 wurde er entlassen, konnte aber erst 1956, nach einer Teilrehabilitierung, zurück nach Moskau. Zwischen 1954 und den 70er Jahren schrieb er seine „Erzählungen aus Kolyma“ nieder. Ende der 70er Jahre kursierten einige seiner Erzählungen als Untergrundliteratur (Samisdat) und erst Ende der 80er Jahre konnten sie vollständig auf Russisch veröffentlicht werden. Schalamow starb 1982 in Moskau.

In dem sehr verständigen Nachwort der Herausgeberin der Erzählungen Band 1 fasst Franziska Thun-Hohenstein lapidar zusammen: „Der Tod durch Arbeit – nicht nur durch Hunger, Kälte und Erschießungen – lag im Kalkül der politischen Macht. In den Lagern kursierte nach 1945 das Stichwort von ‚Auschwitz ohne Öfen’“.

Was hier so schlicht bilanziert wird, schlägt sich in den Erzählungen als überaus eindrucksvolle Schilderung des Alltags (das Wort Alltagsleben möchte man vermeiden) im Lager nieder. Die Dialoge und Ereignisse – auch hier verbietet sich das Wort „Erlebnisse“ – werden zumeist in der Ich-Form in einer überaus kargen Sprache zum Ausdruck gebracht. Es wird weder moralisiert noch explizit angeklagt. Die bloßen Schilderungen sind selbst Anklage genug. Und allein dieses Mittel ermöglicht dem Leser, das Gelesene ertragen zu können, und zugleich wird politische Wut möglich. In grausamer Ehrlichkeit wird gezeigt, wozu der Mensch fähig ist, und zwar Täter/Wächter und Opfer. Jede, aber auch jede positive menschliche Eigenheit und Verhaltensweise wird über kurz oder lang beschädigt oder geht gar verloren. In Schalamows eigenen Worten, was er im Lager gesehen und erkannt habe: „Die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation. Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie – unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen.“

Und doch verkörpert er selbst den Widerspruch, wenn er schreibt: „Meine körperlichen wie auch meine geistigen Kräfte haben sich in dieser großen Prüfung als stärker erwiesen, als ich dachte, und ich bin stolz, dass ich niemanden verkauft, niemanden in den Tod, in eine Haftstrafe geschickt, dass ich niemand denunziert habe.“

S. misstraute zutiefst der humanistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, die eine Hoffnung auf Erlösung des Menschen vermittelt habe. Eine Hoffnung, die nun an der Realität von Auschwitz und GULag zertrümmert dalag.

Hier liegen auch (neben den politischen) ästhetische Differenzen mit A. Solschenizyn vor, dem er vorwarf, „…den belehrenden Tonfall der Prosa Tolstois beizubehalten und nicht zu erkennen, dass die überkommenen Romanformen obsolet geworden waren.“ Etwas flapsig formuliert: Die Entwicklung des Individuums im bürgerlichen Roman verbietet sich angesichts der Lagerrealität.

Auch wenn die politische Logik des stalinistischen Terrors von der Herausgeberin und Schreiberin der Nachworte leider nicht thematisiert wird – ihr Nachwort ist informativ und bietet auch eine kluge Analyse der künstlerischen und sprachlichen Eigenheiten und Besonderheiten Schalamows.

Während der Lektüre fiel mir immer wieder Walter Benjamins Bild vom „Engel der Geschichte“ ein: „Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ W. Benjamin weist weiter darauf hin, „…dass der ‚Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel ist.“

Nach dem 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Barbarei, wird es Zeit, dass wir diesen Ausnahmezustand beenden.

Die Lektüre der vier Bände in einem Zug kann ich nicht empfehlen, es ist schlechterdings nicht auszuhalten. Lest den ersten Band und entscheidet dann weiter!

W. Schalamow, Durch den Schnee (Erzählungen aus Kolyma 1), Berlin 2007/2016, Verlag Matthes & Seitz

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Nr. 211, Juli/Aug. 2016

*  Khartum-Prozess: Auffanglager als Entwicklungshilfe
*  Kampf gegen Rassismus: Welche Taktik brauchen wir?
*  Kampf der Frauenunterdrückung: Weg mit § 218 und § 219!
*  Mahle-Konzern: Vor der Kapitulation?
*  Brexit 2016: Kein Grund zur Freude
*  Für eine internationale europäische Konferenz: Widerstand - europaweit!
*  Frankreich: Die Frage des Generalstreiks
*  Neues BND-Gesetz: Stasi 2.0 war gestern, jetzt kommt Stasi 3.0
*  23. - 28. August Sommerschulung: Revolutionärer Marxismus/REVOLUTION-Camp
*  Brasilien: Olympia im Zeichen von Korruption und Krise



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