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„Marsch für das Leben“

„Lebensschützer“ für Familie und Reaktion

Regine Hufnagel, Infomail 840, 15. September 2015

In Berlin startet auch dieses Jahr wieder am 19. September der „Marsch für das Leben“, ein Schweigemarsch in Gedenken an alle abgetriebenen Kinder, diesmal unter dem Motto „Ja zum Leben - für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“. Letzteres, als Begriff aus dem Nationalsozialismus, bezieht sich auf die begonnene Bundestagsdebatte über eine gesetzliche Neuregelung der „Beihilfe zum Suizid“, zu der die „Lebensschützer“ natürlich eine klare Ablehnung und Bestrafung fordern.

In ihrer „Berliner Erklärung“ 2014 fordern diese Fundamentalisten die Revision der bestehenden Abtreibungsgesetze, wobei der gesetzliche Schutz ungeborenen Lebens der alleinige Richtwert sein soll. Darüber hinaus wollen sie die Aufnahme der Thematik „Abtreibung“ in den Sexualkundeunterricht als „schweres Unrecht“ sowie die Abschaffung der „staatlichen Finanzierung“ von Schwangerschaftsabbrüchen. Die dafür aufgewandten Mittel wie z.B. die der Pränataldiagnostik sollen „in die Zukunft der Kinder“ investiert werden. Die Kosten für eine Abtreibung ohne Komplikationen liegen zwischen 300 und 800 Euro. Die Abwälzung aller Kosten auf die Frauen soll so auch den finanziellen Druck zum Austragen des Kindes erhöhen. Jede „Beihilfe zur Selbsttötung“ sei außerdem unter Strafe zu stellen. Die bisherige Regelung sichert weitgehende Straffreiheit bei ausdrücklicher Willenserklärung zu.

Soweit die Forderungen. Das Leben, so die „Lebensschützer“, beginne eben mit der Zeugung, und ende, wenn das Schicksal entscheidet. Für die Jahrzehnte dazwischen stellen sie keine Forderungen, ein Leben in „Freiheit, Würde und Selbstbestimmung“ ist damit anscheinend automatisch garantiert.

Wer steht hinter dem Marsch?

Aber es geht dabei um viel mehr als um Angriffe auf die Selbstbestimmung der Frauen. Hinter dem „Marsch für das Leben“ stehen neben Kirchen und Freikirchen auch Politiker des konservativen und rechten Spektrums, wie die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch, die die Familie als Keimzelle der Gesellschaft hoch hält, gegen Aufklärung im Unterricht über verschiedene Formen der Sexualität wettert und „Trennungskindern“ den sozialen Untergang prophezeit.

Auch eine neue Partei wird bei dem Marsch ihren ersten öffentlichen Auftritt haben, das „Bündnis C“, eine Fusion der AUF-Partei und der Partei Bibeltreuer Christen (PBC), vormals beide schon im Bündnis mit dem BLV (Bundesverband für das Lebensrecht, Initiator des Marsches), die in ihren Grundsätzen die Familie als „Abstammungsgemeinschaft“ benennt, deren Pflicht es ist, auch für Alte und Kranke zu sorgen. Damit greift sie einerseits alle Formen nicht-heterosexuellen Zusammenlebens an, wie auch alle Bemühungen im Care-Bereich, deren Arbeit zu thematisieren und bessere Bedingungen zu fordern und holt sogar die „natürliche Begabung“ der Geschlechter aus der Mottenkiste, um ein patriarchales Familienbild zu rehabilitieren.

Weltweit sterben immer noch täglich Frauen an den Folgen illegaler Abtreibungen, vor Kliniken stehen AbtreibungsgegnerInnen und versuchen, ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden oder gar gewaltsam gegen sie und behandelndes Klinkpersonal vorzugehen. Gleichzeitig fordert Herr Lohmann vom BLV öffentlich, selbst bei Fällen von Vergewaltigung in Kriegsgebieten sei „im Einzelfall“ abzuwägen.

Aber an Zynismus mangelt des den Reaktionären ohnedies nicht. Der Slogan auf ihren Plakaten “Ein Europa ohne die Tötung von Menschen ist möglich“ wirkt jedenfalls wie bitterer Sarkasmus angesichts zehntausender toter Flüchtlinge im Mittelmeer.

Nein zu den „Lebensrettern“!

Es muss jeder Frau frei gestellt sein (und nicht nur straffrei in einem gewissen Rahmen), ob sie ein Kind austragen kann oder will. Deshalb sind wir für die Abschaffung des „Abtreibungsparagraphen“ 218, für volle Selbstbestimmung der Frauen und auch Jugendlicher, ohne Genehmigung der Eltern, für freie Entwicklung der Sexualität, ohne materielle Abhängigkeit und ohne jede Diskriminierung. Deshalb sind wir dafür, dass das Recht auf Abtreibung auch materiell garantiert sein muss, also von den Krankenkassen oder vom Staat übernommen wird, ohne dass eine Zwangsberatung stattfindet, und dass dafür überall, also auch auf dem Land, die reale Möglichkeit dazu vorhanden sein muss.

Das System „bürgerliche Familie“ hat sich längst überlebt. Doch gerade angesichts der Krise, des zunehmenden Abbaus von sozialen Leistungen, der größeren Belastung der Frauen, soll dieser Schritt zurück wenigstens ideologisch überhöht werden. Um von der gesellschaftlichen Verantwortung für Kinder, Jugendliche und bedürftige Angehörige abzulenken, wird uns vorgemacht, dass nur das „familiäre Verantwortungsgefühl“ die einfachsten Bedürfnisse der Menschen sichern könne.

Der Zulauf zu dieser Art von „Demonstration für das Leben“ ist ein Indiz dafür, dass trotz scheinbarer Ruhe in Deutschland auf diesem Gebiet die gesellschaftliche Polarisierung seit Jahren voranschreitet. Die „Lebensschützer“ sind nur die Speerspitze jener Kräfte, die für den Rollback in der Gesellschaft in der „Frauenfrage“ eintreten, für eine Demontage der ohnedies beschränkten Errungenschaften der Frauenbewegung und der ArbeiterInnenbewegung auf diesem Gebiet der Gleichberechtigung.

Auch wenn die reale Entwicklung oft eine ganze andere ist, so werden gerade deshalb die „alten moralischen Werte“ der Vater-Mutter-Kind-Familie hochgehalten und idealisiert. Die ohnedies eingeschränkte Entscheidung der Einzelnen, ob und in welcher Form sie diese Form so mit anderen zusammenleben wollen, soll materiell und gesetzlich eingeschränkt und sozial diffamiert werden.

Die „normale“ Familie wird als vorgeblich „sicherer“ Rückzugsort gegen Existenzangst und Überforderung, gegen Missbrauch und Vereinzelung idealisiert. Der für lebensrettende „WutbürgerInnen“ zunehmend undurchschaubaren Welt wird die „christliche Familie“, Ehe und Kind als Trost spendender „Rückzugsraum“ entgegengehalten, dem gegenüber alles „Andersartige“ und „Unnatürliche“ - ob nun die Homophobie, die Abtreibung, ob „fremde Kultur“ oder individuelle Freiheitsrechte - als zunehmende Bedrohung erscheinen.

Abhelfen soll dabei der Staat, der lt. Grundsatz des „Bündnis C“ als „Rechtsstaat (...) dadurch legitimiert ist, dass der, ,der Gutes tut’ sich vor der Staatsgewalt nicht zu fürchten braucht“. Mal sehen, ob die Gegendemonstranten am kommenden Samstag diese Erfahrung auch machen.

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