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Gysi, EU und NATO

„Rechts um!“ Richtung Europa

Hannes Hohn, Infomail 723, 14. Januar 2014

Die Zeit der Harmonie in der Linkspartei scheint wieder einmal vorbei zu sein. Die bevorstehenden Europawahlen haben für neuen Zoff in der LINKEN gesorgt. Wie fast immer war es aber weder die Basis noch die Parteiführung, die mit strittigen Positionen hervortraten, sondern Fraktionschef Gregor Gysi. Er attackiert die gültigen Positionen in der Europa-Politik der LINKEN. Ehe wir zum Inhalt seiner Kritik kommen, einige Bemerkungen zur Vorgehensweise Gysis.

Die Art und Weise seines Agierens, Positionen öffentlich zu machen, die in Widerspruch zum Programm und Beschlüssen der Partei stehen, ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich.

Zum einen zeigt sie, wer in Wahrheit die Partei führt: nicht die Vorsitzenden oder der Vorstand, sondern die Fraktion bzw. Gysi selbst als der große Zampano. Sein Vorgehen offenbart, was Beschlüsse und Programme in der LINKEN wirklich wert sind - nicht mehr als das Papier, auf dem sie stehen.

Natürlich kann und muss jedes Mitglied das Recht und die Pflicht haben, sich zur Politik der eigenen Organisation zu äußern, auch und gerade, wenn es um Kritik daran geht. Und natürlich kann und muss das auch von führenden Mitgliedern erwartet werden. Doch es ist ein Unterschied, ob diese Kritiken intern geäußert werden, um eine inhaltliche Klärung in der Organisation zu bewirken und die Mitgliedschaft darin aktiv einzubeziehen, oder ob sie - quasi über den Kopf der Organisation hinweg - über die bürgerlichen Medien lanciert werden und über diesen Weg die eigene Partei unter Druck gesetzt wird. Dieses Vorgehen Gysis ist aber genau das, was der LINKEN oft sehr geschadet und ihr den Ruf eines „zerstrittenen Haufens“ eingebracht hat. Angesichts dieses neuen Medien-Coups von Gysi erweisen sich die Versicherungen, dass die LINKE ihre Grabenkämpfe überwunden habe, nur als Pfeifen im Walde.

Zum anderen offenbart der Vorstoß von Fraktionschef Gysi auch das Primat des Parlamentarismus für die Politik der Linkspartei. Während eine Partei des Klassenkampfes das Parlament v.a. als Propaganda-Tribüne nutzen würde, um den Klassengegner zu entlarven, zu kritisieren und die eigenen Politik und konkrete Klassenkämpfe zu popularisieren, ist es bei der LINKEN umgekehrt. Die Partei und ihre Aktionen dienen v.a. dem Wahlkampf, dienen als Manövriermasse, um im bürgerlichen Politikbetrieb bessere Positionen zu erreichen. Dieses Spielchen betreibt auch die SPD seit Jahrzehnten. Es hat allerdings nicht zum Sozialismus geführt, sondern nur dazu, dass die SPD zu einer 23%-Partei degeneriert ist, die für jede Schweinerei zur Verfügung steht. Soweit vorweg zum Prozedere, nun zum eigentlichen Inhalt der Debatte.

Gysis Positionen

Zunächst kritisiert Gysi die vom Parteitag beschlossene und im Parteiprogramm festgeschriebene Charakterisierung der EU als „neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht“. Das erstaunt insofern, als sich seit Jahren sehr drastisch zeigt, dass diese Einschätzung der EU durchaus wesentliche Seiten trifft. Die Dominanz des Finanzsektors und dessen Interessen, die Kürzungsprogramme, die Einsetzung ungewählter Regierungschefs durch die Troika z.B. in Italien sind Belege dafür. Dass Gysi diese Charakterisierung nun ablehnt, verwundert auch deshalb, weil er selbst oft genug die EU und die herrschende Politik kritisiert hat.

Die zweite Breitseite feuert Gysi auf die Forderung nach dem Ausstieg aus der NATO ab - auch das, obwohl er z.B. die Kriege gegen Afghanistan oder den Irak abgelehnt hat. Wie erklärt sich das?

Zum einen dadurch, dass diese außenpolitischen Positionen der LINKEN die einzigen sind, die für alle anderen Parlamentsparteien unakzeptabel ist und eine Koalition auf Bundesebene ausschließen. Während auf Landes- oder kommunaler Ebene solche Fragen nicht anstehen, sind sie für eine Bundesregierung von zentraler Bedeutung. Immerhin ist eine EU unter der Dominanz des deutschen Kapitals das - im Grunde gegenwärtig auch alternativlose - strategische Projekt des deutschen Imperialismus. Die aktuelle Politik Merkels mag aus Sicht der LINKEN nicht besonders „klug“ und effizient sein, sie ist aber in ihren Grundsätzen für das deutsche Kapital tatsächlich notwendig, v.a. um die Dominanz Deutschlands zu sichern und auszubauen. Möglich, dass dadurch die EU und der EURO sogar zerbrechen - doch das ist das unvermeidliche „Risiko“, um Europa auf kapitalistischer Basis zu „einen“. So, wie der Wirtschaftsboom die nächste Krise vorbereitet; so, wie imperialistische „Friedenspolitik“ zum nächsten Krieg führt; so spaltet die imperialistische „Einigung“ Europas den Kontinent immer tiefer: zwischen Oben und Unten und zwischen Nord und Süd, Ost und West.

Natürlich wird Gysi diese negativen Tendenzen nicht leugnen und natürlich ist er kein Befürworter der Merkel-Politik oder der Politik der Troika. Er glaubt vielmehr, dass es um die EU bzw. die Euro-Zone mit einer anderen Politik - nämlich jener der LINKEN - ganz anders und besser bestellt wäre. Doch als typischer Reformist „übersieht“ er dabei zwei Kleinigkeiten: erstens geht es bei der EU nicht darum, ein geeintes Europa des Wohlstands und der Demokratie zu schaffen, sondern um einen europäischen imperialistischen Block, dessen Großkapital eine dominante Rolle in der Welt spielt und dabei zugleich unter der Fuchtel des deutschen Bourgeoisie steht. Gysi negiert zweitens auch, dass die undemokratischen Strukturen und Vorgehensweisen in der EU nicht einfach „negative Begleiterscheinungen“ sind; sie sind in Wahrheit unabdingbar, um bestimmte Reformen und Umstrukturierungen umzusetzen, die sich ja samt und sonders gegen die Lebensinteressen der Massen richten. So ist beispielsweise auch das rigide, ja mörderische EU-Grenzregime aus Sicht des Kapitals notwendig, um Flüchtlinge abzuhalten bzw. nur jene ImmigrantInnen nach Europa oder in bestimmte Länder Europas zu lassen, die für deren Verwertungsinteressen nützlich sind. Nicht zu vergessen, dass der erfolgreiche Aufstieg der EU auch notwendigerweise inkludiert, eine halbkoloniale Einflusssphäre zu schaffen oder auszubauen. Und so schafft die Ausplünderung und Beherrschung Süd- und Osteuropas oder des arabischen Raumes gerade jene Notsituationen, die immer mehr Menschen in die Flucht treiben. Wer glaubt, dass die EU ihre Funktion fürs Kapital auch auf ganz demokratische Weise und auf ganz soziale Art erreichen könnte, lebt im Wolkenkuckucksheim. Ein fürs Kapital effektiv organisiertes Europa mit offenen Grenzen ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Letzten Endes steckt hinter Gysis Ansichten die Illusion, ein geeintes demokratisches, „soziales    Europa“ auf Grundlage von kapitalistischem Privateigentum und imperialistischer Herrschaftsstrukturen schaffen zu können. Die reformistische Antwort Gysis auf die objektiv anstehenden und notwendige Einigung Europas ist aber die notwendige Folge davon, die Einigung Europas eben nicht im Zusammenhang mit dem Sturz des Kapitalismus zu sehen. Nicht die Einigung Europas in Form der Vereinigten sozialistischen Staaten Europas ist Gysis Anliegen, sondern eine „Verbesserung“ des kapitalistischen und imperialistischen Europas. Dabei geht es nicht darum, den Kampf für soziale Verbesserungen oder gegen Kürzungen abzulehnen; es geht darum, diesen Kampf wirklich effektiv zu führen, ihn aber nicht auf das Erreichen von Reformen zu beschränken und mit dem Kampf um den Sturz des Kapitalismus zu verbinden. Das ist etwas völlig Anderes als das Schüren reformistischer Illusionen durch Gysi.

In seiner Zielstellung unterscheidet sich Gysi auch nicht sehr vom Gros der LINKEN, von deren Programm und deren Führungsstrukturen. So meinte LINKEN-Vorsitzender Riexinger auch: „Es wird um fünf Prozent des Programms debattiert. Aber diese Fragen betreffen nicht die Grundlinie.“ (Berliner Zeitung vom 8.1.13)

Mythos „kollektive Sicherheit“

In der Frage der NATO stört Gysi jene Programm-Position, die den Austritt aus der NATO fordert.  Diese Forderung weist in die richtige Richtung, auch wenn sie in der Luft hängt, weil von der notwendigen Bekämpfung der Bundeswehr u.a. Repressivorgane des deutschen Imperialismus nicht die Rede ist und auch kein Hinweis darauf zu finden ist, wie die Arbeiterklasse konkret gegen den Militarismus kämpfen soll.

Nun sagt Gysi natürlich nicht einfach, dass der Austritt aus der NATO falsch wäre, er schlägt vor, die NATO durch ein „kollektives Sicherheitssystem“ zu ersetzen. Das bedeutet nichts anderes, als die Illusion zu hegen, dass imperialistische Regierungen und Institutionen ein System etablieren könnten, das nicht der Ausbeutung der Welt, der Eroberung und Absicherung von Einflusssphären und Ressourcen dient. Die Räuberhöhle soll nicht ausgeräuchert werden, die Räuber sollen bekehrt werden.

So wie Gysi schon vor Jahren die Notwendigkeit und Legitimität des anti-imperialistischen Kampfes kritisierte, die Unterstützung Israels und dessen Unterdrückung der PalästinenserInnen legitimierte und einen Kniefall vor der „deutschen Staatsräson“ vollzog, so relativiert er nun die imperialistische Außenpolitik und deren Werkzeuge, indem er sie von innen heraus reformieren will. Warum soll der Fisch nicht das Fahrradfahren lernen?

Der Unterschied zwischen Gysi und der aktuell gültigen LINKEN-Programmatik ist kein grundsätzlicher, sondern nur ein gradueller. Er besteht v.a. darin, dass das Programm in punkto Europa und NATO zumindest einen deutlich kritischen Ton anschlägt und eine Position der „Negation“ einnimmt, während Gysi selbst diesen Ton, diese Intention so weit relativieren und abschwächen will, dass die potentiellen Koalitionspartner auf Bundesebene - SPD und Grüne - nicht sagen können, dass sie mit  der LINKEN nicht regieren könnten, weil diese „unseriöse“, unakzeptable Positionen in der Außenpolitik vertrete. Während Gysi (und der hinter ihm stehende Flügel) unbedingt im Bund mitregieren und dafür weitere programmatische und politische Zugeständnisse machen will, sind andere Teile der Partei bereit, auf die „Macht“ im Bund zu verzichten, in Opposition zu bleiben und die linkeren Positionen beizubehalten.

So gesehen ist die Position Gysis „realistischer“, weil er weiß, was nötig ist, um auch im Bund mitregieren zu können. Schließlich macht eine parlamentarische Ausrichtung der Partei auch wenig Sinn, wenn das Mitregieren auf Bundesebene per se ausgeschlossen bleibt. Gysi sieht dabei durchaus auch klarer als Andere in der LINKEN, dass die Programmatik der Partei an einem inneren Widerspruch krankt. Einerseits orientiert sie auf den Parlamentarismus, andererseits enthält sie Elemente, die direkt Koalitionen (auf Bundesebene) verunmöglichen, weil sie zu den strategischen Notwendigkeiten des deutschen Imperialismus konträr sind. Dieser grundsätzliche Widerspruch erklärt auch, warum immer wieder neu Debatten um diese Fragen in der Linkspartei aufbrechen.

Hier offenbart sich auch ein Graben zwischen den linkeren Teilen der LINKEN v.a. in den westlichen Landesverbänden und Teilen der ostdeutschen Basis einerseits und den dominanten Apparaten der LINKEN, v.a. in den ostdeutschen Landesverbänden. Diese Kluft war in den vergangenen Jahren immer wieder aufgebrochen, endete jedes Mal aber damit, dass die traditionellen Positionen formell im Programm erhalten blieben.

Gysis Vorstoß verweist nun darauf, dass der dominante Apparat-Teil, der hinter Gysi steht, erneut versucht, störende Programm-Inhalte zu eliminieren, um endlich zu 100% koalitionsfähig zu werden. Mag sein, dass die LINKE tatsächlich einmal in die Lage kommt, im Bund mitzuregieren. Das wäre dann die endgültige Neuauflage der SPD als absolut zuverlässiger politischer Akteur im Dienste des deutschen Imperialismus.

Die aktuelle Auseinandersetzung in der LINKEN - egal, wie sie ausgehen mag - zeigt auf jeden Fall, wer die Debatte in der LINKEN bestimmt, welche Rolle der Apparat dabei spielt und dass der Charakter der LINKEN eben überhaupt nicht „offen“ ist.  Schon die jetzige Linie in der Europa-Politik der Linkspartei ist unzureichend, perspektivlos und reformistisch. Dazu bedarf es auch keiner Korrekturen durch Gysi. Allerdings sollten Linke innerhalb und außerhalb der Linkspartei daraus nicht etwa den Schluss ziehen, dass es egal wäre, ob sich die traditionelle oder die Linie Gysis durchsetzt. Die Linken müssen aktiv gegen den Vorstoß Gysis Front machen, um eine weitere Rechtsentwicklung der Partei zu stoppen. Doch dabei darf gegen Gysi nicht nur einfach die bisherige Position der LINKEN verteidigt werden. Es müssen zugleich auch deren aktuelle Programmatik und die ihr zugrunde liegende reformistische Logik kritisiert werden.

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