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China

Pekings Probleme

Peter Main, Infomail 695, 22. Juli 2013

Der Juli ist der traditionelle Ferienmonat für Chinas Führung. Sie entflieht dem Smog in Peking und erholt sich an der Küste von Beidaihe. Aber dieses Jahr wird kein unbeschwerter Urlaub daraus. Vielmehr wird die neue Regierungsmannschaft unter Xi Jinping und Li Kedjang eine Reihe von grundlegenden Problemen in den Griff bekommen müssen, die sich über Jahre angestaut haben.

Verlangsamung des Wachstums

Vor kurzem wurden die Zahlen über die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums bekannt. Von einem Hoch mit 14,2 Prozent im letzten Zyklus 2007 haben sich die Raten für das zweite Quartal 2013 im Verhältnis dazu nahezu halbiert - und dieser Trend ist anscheinend auch nicht umkehrbar. Das zeigen die Zahlen des Nationalen Statistikbüros in Bezug auf den PMI (Purchasing Manager Index = Einkaufsmanager-Index) für die Fertigungsindustrie. Dabei weisen Werte über 50 auf eine Expansion hin. Im langjährigen Durchschnitt liegt der PMI für den Monat Mai bei 53. In diesem Jahr steht der Index bei 50,8 Punkten, was sehr schwaches Wachstum bedeutet.

Diese Zahlen sind schwach genug, doch dank Wikileaks wissen wir, dass die Staatsspitze sie eher mit Gleichmut quittiert. Li soll gesagt haben, dass die Bruttoinlandsproduktrate „nur Referenzcharakter“ hätte und er sich persönlich bei der Beurteilung der Wirtschaftsentwicklung lieber auf die Zahlen für den Stromverbrauch, den Bahngüterumschlag und für Darlehen verlässt. Nach einem oft zitierten Artikel im Wall Street Journal berichtet Stephen Green vom Finanzdienstleister Standard Charted, dass das chinesische BIP nach seinen Berechnungen bei 5,5% für 2012 liegt - statt der 7,8% nach den amtlichen chinesischen Quellen. Ebenso weicht der vom US-Finanzkonzern HSBC errechnete PMI-Index für Mai 2013 mit 49,2 und dem Rückgang im Juni auf sogar 48,2 von den oben genannten Werten ab, so dass sogar eine Schrumpfung im Fertigungsbereich nicht unwahrscheinlich ist.

Auch bei Ein- und Ausfuhren verdeckt das offiziell geschönte Zahlenmaterial die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten Chinas. Im April 2013 wurde berichtet, der jährliche Vergleichsindex für Exporte würde 14% Zuwachs aufweisen - ein erstaunlicher Wert angesichts des rückläufigen Welthandels. Im Mai jedoch betrug die jährliche Steigerungsrate nur 1%. Ein gewaltiger Absturz also, der später mit einer „Verdichtung von Verrechnungsprozeduren“ erklärt wurde.

Es sickerte auch durch, dass frühere Zahlen durch die Firmen verfälscht wurden, um ihre Fremdwährungsverrechnungen zu bemänteln. Nach den neuen Regeln zeigten die Jahr zu Jahr-Berechnungen für Juni 2013 eine Verringerung der Ausfuhren von 3,1% im Vergleich zu der angenommenen Steigerung von 4%.

Diese Zahlen unterstreichen die fortgesetzte Bedeutung der exportorientierten Industrie für Chinas allgemeine Wirtschaftsentwicklung. Es ist nicht nur eine Sache von Profiten, die über den Güterexport erzielt werden; in diesem Bereich sind auch 200 Millionen Arbeitskräfte beschäftigt, über die Hälfte der städtischen Arbeiterklasse. Ihre Ausgaben für Wohnung, Nahrung, Kleidung, Verkehr usw. machen einen erheblichen Bestandteil des binnenwirtschaftlichen Elements des BIP aus.

So verstörend diese Statistiken auch sein mögen - sie stehen dennoch nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit in Beidaihe. Sowohl chinesische Stellen wie auch ausländische Kommentatoren werten sie als unvermeidliche Folge eines Rückgangs des Markts für chinesische Waren in Nordamerika und Europa. Weit besorgniserregender ist die Erwartung einer ernsten Finanzkrise in China.

Der Finanzsektor

Das zeigte sich dramatisch am 17. Juni, als die Zentralbank, die People’s Bank of China, über Nacht die Zinsraten auf 25% erhöhte, was eine Kreditklemme befürchten ließ, die an die Nachwehen des Zusammenbruchs von Lehman Brothers 2008 in den USA erinnerte. Doch dann wurde die Geldpolitik innerhalb von Tagen wieder gelockert, obwohl die Zwischenbank-Zinsrate in Schanghai fast doppelt so hoch blieb wie Anfang Juni.

Ein solch gewaltiger Anstieg der Zinsraten für kurzfristige Kredite wäre normalerweise eine Reaktion auf die Furcht, dass eine größere Finanzinstitution in ernsten Schwierigkeiten steckt und unfähig sein würde, ihre Schulden zurück zu zahlen. Wie bei Lehman Brothers, werden alle Kredite eingefroren, zumal niemand die Folgen einer großen Pleite absehen kann. Das könnte auch im Juni in China der Fall gewesen sein.

Einige Tage später berichtete das US-Finanzhaus Bloomberg, dass die chinesische Zentralbank 8,2 Milliarden Dollar zur Stützung der Industrie- und Handelsbank von China, die nominell größte Privatbank der Welt, bereit gestellt habe. Die Fachleute verständigten sich jedoch darauf, dass die Kreditklemme vorsätzlich herbei geführt wurde, um die Kreditschwemme zu dämpfen und als ersten Schritt dazu die Kontrolle über die rasch wachsenden Schulden des Landes zu behalten. Nach Ansicht der Ratingagentur Fitch lag der Umfang aller Schulden in China im Juni 2013 bei 200 Prozent des BIP.

Die Behörden wollten damit wohl insbesondere den sogenannten Schattenbankensektor treffen. Damit ist eine Kette von Institutionen gemeint, die Kredite am offiziellen Bankensektor vorbei zu günstigeren Konditionen vergibt. Nichtsdestotrotz sind nach  Meinung von Charlene Fu, der Pekinger Direktorin von Fitch, an etwa drei Viertel dieser Schattengeschäfte alle großen Banken beteiligt. Um die amtlichen Vorschriften über Geldverleih und Zinsen zu umgehen, haben die Banken Wege gefunden, Anleihen aus ihren Bilanzen auszuklammern.

Djang Monan schreibt in der Südchinesischen Morgenpost, dass diese unbilanzierten Kredite die verbuchten Geschäfte 2011 und 2012 sogar übertrafen. Sie wuchsen um 1,1 Billionen Yuan und erreichten den Umfang von 3,6 Billionen (etwa 450 Milliarden Euro). Das entspricht 23% des gesamten Kreditverkehrs in China, während die gebuchten Kredittitel nur um 732 Milliarden chinesische Yuan (etwa 92 Milliarden Euro) wuchsen.

Neben den Zwischenbank-Transaktionen ist wohl die größte Kreditquelle bei den 67 Großkonzernen zu suchen, die Geld von Investoren nehmen und es an Kreditnehmer weiter verleihen. Anders als Banken legen sie keine Depots an und haben deswegen auch keine Kapitalreserven oder verfügen wie die Staatsbanken über ein Sicherheitsnetz in Form von staatlicher Absicherung, so dass die Trusts bzw. ihre Investoren bei ausbleibender Kreditrückzahlung das Verlustrisiko ihres Geldes hinnehmen müssen. Das wiederum bedeutet, dass solche Firmen nur ein kalkuliertes Risiko eingehen wollen, was sich an den günstigen Zinsen zeigt. Die Zinsraten im Schattenbankbereich sind für Investoren wie für Kreditnehmer staatlicher Regulierung entzogen und Geldmittel können auch für eine Reihe von Projekten gerade im Privatsektor, für die aus bestimmten Gründen keine offiziellen Kredite zu bekommen sind, verwendet werden.

Einer der Hauptwege, über die Firmen und lokale Regierungsstellen Kredite erhalten können, sind die sogenannten WMPs (Wealth Management Products). Typisch für sie sind Darlehen einer Bank über den offiziellen Zinssätzen, die an Konzerne weiter verkauft werden. Diese wiederum verbuchen sie als WMPs in der Rubrik ‚Investitionschance’, und bieten sie zu niedrigeren, doch immer noch attraktiven Zinsraten Investoren an, oftmals der öffentlichen Hand. Dieses Verfahren erlaubt, dass diese Gelder nicht in den Bilanzen der Banken als Darlehen auftauchen und sichern, dass das ursprüngliche Darlehen mit Zinsen zurückgezahlt wird und auch die Investoren ihr Geld samt Zins zurück erhalten. Im allgemeinen haben diese Darlehen eine relativ kurze Laufzeit bis zu zwei Jahren, und die Rückzahlungen werden so festgelegt, dass sie der Schuldenplanung der Banken angepasst sind. Durch die Kreditbremse der Zentralbank war beabsichtigt, dass die 1,5 Billionen aus dem WMP-Umlauf, deren Rückzahlungsfrist Ende Juni 2013 ablief, nicht mehr durch weitere Kredite refinanziert würden.

Spekulationsblasen

Die riesigen Geldsummen im Schattenbankenwesen waren ein Hauptfaktor für die Bildung von Spekulationsblasen sowohl auf dem Aktienmarkt wie auch im Immobiliensektor. Sie wurden auch von kommunalen Verwaltungen verwendet, um z.B. gigantische Bauprojekte zu finanzieren, die sich kaum amortisieren können, so dass die Anleihen nicht rückzahlbar sein werden. Dies soll Chinas Führung in Beidaihe eine Lehre sein. Die sehr engen Verbindungen zwischen dem Schattensektor und den offiziellen Banken bedeuten, dass eine schwere Pleite z.B. eines Großkonzerns Erschütterungen in der gesamten Ökonomie nach sich ziehen würde, die eine Kreditklemme hervorrufen könnte, die nicht mehr so einfach von der Zentralbank einzudämmen wäre.

Schon ein kurzer Blick auf diesen Aspekt von Chinas Finanzsystem macht das Ausmaß der Summen und der bestehenden Verflechtung zwischen Finanz, Industrie, Handel und Politik deutlich. Es beleuchtet v.a. auch praktisch, wie eine neue chinesische Bourgeoisie in dem weiter gültigen Rahmen einer staatlich stark kontrollierten Ökonomie entsteht.

Klassendifferenzierung

Der Prozess der Klassendifferenzierung ist jedoch längst noch nicht abgeschlossen. Das überrascht nicht, denn die beteiligten Personen hatten ihre Wurzeln in einem Land, das vor 20 Jahren noch als degenerierter Arbeiterstaat mit bürokratischer Planwirtschaft bezeichnet werden konnte. Viele haben zunächst ihren Wohlstand durch die Nutzung ihrer Position oder ihrer familiären Verbindungen in KP und Staatsapparat in den 90er Jahren aufgebaut. Viele tun dies heute noch, während andere zunehmend davon unabhängig geworden sind und fortgesetzte staatliche Kontrolle wie im Bankenbereich als echtes Hindernis bei der Mehrung ihres Wohlstands empfinden.

Chinas Wirtschaft wird weiterhin von Riesenkonzernen beherrscht, die sehr enge Beziehungen zu Staat und KP pflegen. Die großen Banken werden vom Staat betrieben und selbst dort, wo das Staatseigentum nicht mehr existiert, genießen sie eine Reihe von Vorteilen wie niedrige Zinsen und besondere staatliche Begünstigungen. Auch die institutionelle Trägheit, die schon bestehende Wirtschaftsbeziehungen aufrecht erhält, trägt zur Begünstigung der vordem staatlichen Firmen bei.

Es überrascht nicht, dass dies zur Charakterisierung der chinesischen Wirtschaft als ‚Staatskapitalismus’ oder ‚bürokratischer Kapitalismus’ geführt hat. Diese Bezeichnung darf jedoch nicht als endgültig betrachtet werden, denn es ist keine gesonderte ‚Art’ von Kapitalismus, der als einzigartig zu werten wäre und der sich eventuell als erfolgreicher und dynamischer als andere ‚Modelle’ des Kapitalismus erweisen könnte. Diese Einordnung wäre ein Fehler. In Wirklichkeit entfaltet sich die Dynamik der chinesischen Wirtschaft mit den Einrichtungen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie trägt, weiter. Es ist sozusagen ein ‚Werk im Werden’, das sehr ungleich verläuft und Elemente aus der überkommenen Planwirtschaft mit neuen Bestandteilen eines unabhängigen Kapitals im Aufbau verknüpft.

Nach einem Bericht der staatlichen Behörde für Industrie und Handel gibt es gegenwärtig 40,6 Millionen Privatunternehmen in China. Sie verfügen über 2 Billionen Yuan (etwa 250 Milliarden Euro) Kapital und beschäftigen ungefähr 80 Millionen Arbeitskräfte. Zwar sind diese Zahlen beeindruckend, aber in vielen Sektoren herrschen Kleinbetriebe vor, mit nur einer Handvoll Beschäftigter, größtenteils Familienangehörige. Nichtsdestotrotz bedeutet dies, dass 40 Millionen Familien von der Mehrung ihres Kapitals abhängig sind.

Gerade diese Kleinbetriebe können jedoch keine Kredite von Staatsbanken bekommen und kommen kaum umhin, für ihr finanzielles Fortkommen auf den Schattenbanksektor zurückzugreifen. Ihre Existenz wäre Wasser auf die Mühlen von neoliberalen Theoretikern: d.h. ein rauer Wind weht im Kapitalismus, bei dem jeden Cent zählt und jede Gelegenheit und Person bis zum Anschlag ausgebeutet wird. Ein paar setzen sich durch, der Rest scheitert. Sie sind zweifellos ein Element bei der Formierung einer neuen Kapitalistenklasse, aber bisher nur eine kleine, verstreute und längst nicht entscheidende soziale Kraft.

Weit wichtiger in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht ist der vom Staatssektor abgegrenzte Privatsektor, der auf dem Weltmarkt operiert, und im Gegensatz zum kleinteiligen Individualgewerbe auch Großbetriebe umfasst. In einer staatlichen Fernsehsendung am 2. Juni 2013 berichtete die Allchinesische Föderation von Industrie und Handel von über 10 Millionen Unternehmen in diesem Bereich und behauptete, dass diese 60% von Chinas BIP erwirtschaften. Das ist ein bedeutender Faktor.

In diesem Sektor wirken die Unternehmensbedürfnisse unmittelbar mit dem Regime der Bürokratie zusammen. Produktion und Dienstleistungen dieser Größenordnung verlangen eine enge Zusammenarbeit nicht nur zwischen verschiedenen Unternehmen in einer Fertigungskette, sondern auch mit den lokalen, regionalen und sogar landesweiten Regierungsstellen und notwendigerweise mit den Banken. An dieser Stelle sind die außerbilanzlichen Kredite durch die Staatsbanken, deren Restriktionen ihnen keine Teilhabe an den regulären Geschäften erlauben würden, die Norm.

Obgleich die Explosion in der Schattenbankzone einen gewaltigen Schuldenüberhang verursacht hat, ist es unschwer vorstellbar, dass alle beteiligten Hersteller, Dienstleister und Banker solche Transaktionen nicht nur als notwendig, sondern gar als gesundes Geschäftsleben ansehen. Nach Chu ist die Mehrheit dieser Schattenkredite sogar besser abgesichert als die bankbilanzierten Kredite und sie stellen bessere Renditen in Aussicht als die bescheideneren Kredite für den Staatssektor.

Die Kapitalisten in diesem Sektor grenzen schon seit langem ihre gemeinsamen Interessen gegenüber der Gesamtgesellschaft ab. Sie werden darin bestärkt durch Nähe zu Wirtschaftsforschungsinstituten, akademischen Fakultäten und deren Verbindungen zum internationalen kapitalistischen System, von dem sie durch Vergleiche und Fachgutachten profitieren. Sie stehen an der Schwelle zur Formierung einer Klasse ‚für sich’.

Es bedurfte der Transformation der Bürokratenkaste zu einer kapitalistischen Staatsbürokratie Anfang der 1990er, um überhaupt die Bedingungen zu schaffen, dass das Wertgesetz zum Regulator der chinesischen Wirtschaft wurde. Nur so konnte der Prozess der Kapitalakkumulation in Gang gebracht werden, der China ermöglichte, zu einer führenden Macht aufzusteigen. Die chinesische Bourgeoisie bedurfte und bedarf des Staates als „Geburtshelfer“. Sie musste zu diesem Zweck für eine ganze Phase notwendigerweise Elemente des fortgeschrittenen Kapitalismus, der Freisetzung der Arbeiterklasse von alten Zwängen und v.a. der Landbevölkerung, von ursprünglicher Akkumulation mit Überresten der Planwirtschaft kombinieren.

Haltung der politischen Führung

Einige Beobachter könnten nun vermuten, dass die ‚kommunistischen’ Spitzen ihre Zusammenkunft in Beidaihe nutzen werden, um Pläne zu fassen, dieses widerspenstige Element wieder in den Griff zu bekommen, ihm die Flügel zu stutzen und zugleich Luft aus der gefährlichen Kreditblase abzulassen, indem mit Bedacht gewählte regulative Mittel wie die Kreditklemme am 17.6. eingesetzt werden. Die Wirklichkeit läuft jedoch in eine entgegengesetzte Richtung.

Präsident Xi und der Premierminster Li wollen mit Sicherheit das Heft in der Hand behalten, aber wie schon in einem früheren Artikel erwähnt, gehören sie zu einer Fraktion in der KP, die für weitere Lockerung von Kontrollen über das Kapital und größere Konzessionen an Chinas Kapitalisten eintritt.

Ihre Reaktion auf diese Widersprüche zwischen Staatseigentum mit Regulierung des Bankensystems zu dem weniger regulierten Schattensektor wird den Abbau des regulativen Rahmens vorantreiben. Sie akzeptieren anscheinend im wesentlichen, dass die Schattenökonomie geschäftlich effektivere Mittel für den direkten Kapitalfluss zu den vorteilhaftesten Anlagesphären als das regulierte System mit ihrer Bevorzugung von Staatsunternehmen hat.

Allerdings verfolgen sie keine „Urknall-Strategie“ oder den plötzlichen Abbau aller Reglementierungen. Wie in früheren Phasen der Restauration des Kapitalismus in China werden sie Versuche starten, bei denen ‚deregulierte’ Enklaven des schrankenlosen Bankwesens neben dem jetzigen System bestehen werden. Wenn positive Erfahrungen gesammelt sind, werden die Deregulierungen dann auf andere Regionen nach dem Vorbild der Sonderwirtschaftszonen den 80er und 90er Jahren ausgedehnt, wo überseeisches Kapital Produktionsstätten errichten und chinesische Arbeitskräfte und Rohstoffe ausbeuten konnte, jedoch lediglich für den Export. Es sagt viel über das moderne China aus, dass der Architekt der Sonderwirtschaftszonen Xi Jinpings Vater war.

Solche vorsichtigen Experimente bedeuten jedoch nicht, dass diese Führung nicht weiter denkt. Sie plant die Errichtung einer ‚Freihandelszone’ für Banken und Termingeschäfte in Schanghai, Chinas Hauptstadt des Kommerzes, genauer gesagt in Pudong, der neuen Stadt am gegenüberliegenden Jangstekiang-Ufer.

In diesem Gebiet können ausländische Banken sich ohne äußerst umständliche Genehmigungsverfahren wie früher üblich geschäftlich niederlassen. Auch Gemeinschaftsunternehmen mit chinesischen Privat- und Staatsbanken werden ihnen gestattet, sogar Mehrheitsbeteiligungen. Geplant ist nicht nur die Nutzung internationalen Finanzfachwissens, das für andere Regionen verallgemeinert werden kann, sondern auch die Konkurrenz zu einheimischen Banken, wobei man dabei auf deren langfristige Stärkung hofft.

Es ist ohne weiteres absehbar, dass die Banken in dieser Zone es einfacher finden werden, mit den Schattenbanken statt mit den noch streng reglementierten staatlichen Banken Geschäfte zu machen. Schanghai soll so längerfristig auch zum Finanzzentrum für die ganze asiatisch-pazifische Region und nicht nur für diesen Teil Chinas werden.

China als imperialistische Macht

Auf ihre Weise bestätigt diese Entwicklung unsere Analyse, dass China sich nunmehr als imperialistische Macht etabliert hat. Es hat diesen Status zunächst durch kolossale industrielle und Handelsmacht in der Weltwirtschaft erlangt und dies bestätigt, als es dem Druck der Finanzkrise 2008/09 weit besser als seine Konkurrenten auf Weltebene widerstehen konnte. Anders als bei früheren kapitalistischen Imperialismen, wo die anfangs getrennten Industrie- und Finanzsektoren zu einem Finanzkapital verschmolzen, das die Weltwirtschaft beherrschte, wuchs in China aus einem Arbeiterstaat (einer bürokratischen Planwirtschaft) die Fertigungsindustrie unter der Kontrolle eines bereits bestehenden Bankregimes heran.

Neuerdings haben unter dem Einfluss der globalen Krise die Industriekapitalisten, die sich unter dem Schutz des Staates etablieren konnten, eine neue Beziehung mit dem Bankensektor in Form der Schattenbanken aufgebaut, die in beiden Bereichen den staatlichen Kontrollen ausweichen kann, um die ihrer Meinung nach optimalen Geschäftsstrategien verfolgen zu können. Ungeachtet der Legalität ihres Vorgehens stehen sie doch dem ‚realen’ kapitalistischen Finanzbetrieb näher als der offizielle Bankensektor.

Die Entscheidung der Parteiführung, die Schattenbankgeschäfte allmählich zu legitimieren, bedeutet nicht nur eine Anpassung an die Realität; damit wird auch ein größerer Zweck verfolgt. Ein Bankensektor, der über Kreditvergabe nur auf der Grundlage von kommerziellen Erwägungen entscheidet und sich genügend professionell und kapitalisiert aufstellt, um seine Standards in einer solch riesigen Wirtschaft wie China durchzusetzen, ist eine Vorbedingung für die endgültige Beseitigung der ‚Vorteile’, die der staatliche Industriesektor noch genießt.

Die Unterwerfung des Staatssektors unter die ‚Marktkräfte’ würde zweifelsohne bedeuten, dass sich einige der weltgrößten Banken und auch Großkonzerne wie jene in der Öl- und Chemieindustrie umrüsten müssten. Teile davon werden wahrscheinlich Bankrott gehen und ihr Anlagevermögen billig verschleudert, andere könnten teils oder ganz privatisiert werden. Wie es auch verläuft: die verlockende Aussicht, solche Quellen ausschöpfen zu können, wird zweifellos Chinas neue Bourgeoisie beflügeln.

Ob sie bereits das soziale Gewicht hat, um eine solche Politik durchzusetzen, wird sich weisen. Es werden ihr sicher mächtige Interessen entgegenstehen, besonders in Partei- und Staatsbürokratie. Es wird berichtet, dass Li Kedjang, der das Schanghai-Freihandelszonenprojekt leitet, hartnäckigen Widerstand gegen seine Pläne überwinden musste, ehe er schließlich am 3.7.2013 doch vom Stadtrat unterstützt wurde.

Ebenso wie rivalisierende Fraktionen innerhalb von KP und Staat können zwei andere Faktoren das geplante Szenario verzögern, ablenken oder gar verhindern. Da ist zunächst die Dynamik des derzeitigen Systems, das der schrumpfende Welthandel und die sinkenden Profite in Mitleidenschaft ziehen und die Wahrscheinlichkeit eines größeren Schuldenbankrotts in China erhöhen würde. Angesichts der Schuldenhöhe auf nationaler Ebene könnte ein solches Ereignis eine Kettenreaktion von Firmen- und Bankenzusammenbrüchen auslösen und in der Folge einen großen zyklische Abschwung.

Zweitens und noch elementarer kann die Wucht von Aktionen der chinesischen Arbeiterklasse diese Pläne durchkreuzen. Unmittelbar im Anschluss an die Krise 2008 gab es weit verbreitet Massenaktionen wie Streiks, Besetzungen und Blockaden ganzer Städte und Verkehrswege, die die staatliche Verwaltung zumindest dazu zwangen, die ArbeiterInnen für unbezahlte Löhne oder Entlassungen zu entschädigen. Als sich die Wirtschaft erholte, konnten die ArbeiterInnen den Arbeitskräftemangel ausnutzen und 20% Lohnerhöhungen im Jahr durchdrücken. Fortschritte wurden auch an der organisatorischen Front als Folge von Streiks gemacht, so z.B. bei Honda in Fonschan, wo die ArbeiterInnen ihre eigenen Verhandlungsführer wählten.

Wie ArbeiterInnen in den Exportindustrien sich nun angesichts eines Abschwungs durch die weitere Schrumpfung der Exportmärkte oder eine größeren Finanzkrise verteidigen würden, oder wie die Beschäftigten in den gegenwärtigen Staatssektoren auf die Umwälzungen, Rationalisierungen und Privatisierungen antworten werden, ist ungewiss. Aber sicher ist, dass ihre Interessen mit denen der chinesischen Kapitalisten und Staatsbürokraten, die zur Zeit in Beidaihe ihre nächsten Manöver planen, zusammenprallen werden.

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