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Debatte um Günter Grass

Ein Tabubruch?

Hannes Hohn, Infomail 617, 18. April 2012

Gedichte erregen üblicherweise wenig Aufsehen. Lyrik fristet ein Schattendasein in deutschen Buchläden. Anders bei Günter Grass´ Gedicht „Was gesagt werden muss“. Der Form nach wenig Gedicht sondern eher ein politisches Statement, überrascht die Härte der ersten Reaktionen darauf. Israel hat ein Einreiseverbot über Grass verhängt. Andere fordern die Aberkennung des Nobelpreises. Für zionistische Kritiker wie Broder ist Grass entweder ein ausgemachter Antisemit, für andere begünstigt er ihn „nur“.

Was hat er eigentlich gesagt?

Günter Grass hat in seinem Gedicht die aggressive Politik Israels gegenüber dem Iran kritisiert: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ Er schreibt von Israels „Recht auf den Erstschlag“, der das „iranische Volk auslöschen könnte“.

Dieser Kritik ist insoweit zuzustimmen, als Israel - übrigens nicht zum ersten Mal - gedroht hat, den Iran anzugreifen, um dessen Atomanlagen zu zerstören. Die endlose Reihe von Verstößen Israels gegen das „Völkerrecht“ würde damit um ein weiteres Verbrechen verlängert. Denn: ohne Zweifel hat der Iran wie jedes andere Land auch ein Recht auf atomare Forschung. Völlig richtig verweist Grass hier darauf, dass es Israel ist, das nicht nur Atomwaffen entwickelt hat, sondern sich auch jeder Kontrolle darüber widersetzt. Verständlich, dass Grass sich da über „die Heuchelei des Westens“ erregt.

Grass mag zwar etwas übers Ziel hinausschießen, wenn er von der Möglichkeit eines atomaren  Erstschlags Israels ausgeht. Möglich und wahrscheinlich ist eher ein konventioneller Luftangriff auf iranische Atomanlagen. Doch das ist eine Nebenfrage. Fakt ist, dass solche Pläne, wie auch verschiedene offizielle Quellen glaubhaft berichten, vorbereitet wurden und werden und bisher v.a. aufgrund des Drängens der USA nicht umgesetzt wurden, weil diese die geo-strategischen Folgen eines solchen Anschlags und Massenproteste in der islamischen Welt fürchten.

Imperialistische Solidarität

Die überwiegend ablehnende Reaktion von Medien und Politik zu Grass erklärt sich v.a. daraus, dass er es gewagt hat, Israel als Aggressor zu brandmarken und „eherne“ Grundsätze deutscher imperialistischer Außenpolitik in Frage zu stellen. Die Unterstützung Israels gehört, wie erst jüngst auch Angela Merkel betonte, zur deutschen Staatsräson. Warum?

Israel ist seit seiner Gründung, die - notwendigerweise - mit der Unterdrückung und Vertreibung der arabischen Bevölkerung, der PalästinenserInnen, verbunden war und ist, ein wichtiger imperialistischer Brückenkopf im Nahen Osten. Das erklärt auch die massive Militär- und Finanzhilfe (v.a. der USA) für das Regime, ohne die das hochgerüstete Israel schon lange pleite wäre. Der Westen unterstützt und ermöglicht so also auch die Unterdrückung und Vertreibung der PalästinenserInnen - trotz aller Krokodilstränen.

Insofern ist der Kampf gegen Israel und dessen Vertreibungs- und Besatzungspolitik fortschrittlich und unterstützenswert. Das bedeutet zugleich keineswegs, dass deshalb die Politik reaktionärer Führungen wie Achmadinedschad, der PLO oder der Hamas einfach kritiklos unterstützt werden könnte.

Die fatale Rolle Israels wird politisch immer wieder damit bemäntelt oder begründet, dass es den Holocaust gab oder „die Deutschen“ ihre historische Kollektiv-Schuld abzutragen hätten usw. Hiermit werden jedoch nur die hinter der Politik Israels stehenden imperialistischen Klasseninteressen verschleiert. Dabei wurde und wird besonders in der deutschen (aber ganz allgemein in der westlichen) Propaganda Anti-Semitismus mit Anti-Zionismus gleichgesetzt.

Völlig zu Recht verweist Grass darauf, dass jede Kritik an Israel vom Spiegel bis zur FAZ fast reflexartig als „Antisemitismus“ angeprangert wird. Damit soll sowohl die Kritik an der zionistischen Unterdrückung, am Staat Israel und dessen rassistischem Charakter tabuisiert werden. Das jüdische Volk soll mit dem zionistischen Staat gleichgesetzt werden, so als ob dieser nicht bestimmten kapitalistischen Interessen und einer imperialistischen Unterdrückerordnung dienen würde. Dies richtet sich gegen jede Kritik und noch viel mehr gegen jeden Widerstand der PalästinenserInnen, auch die Klassengegensätze unter der israelischen Bevölkerung werden so zu einer Nebensache reduziert.

Für uns MarxistInnen gilt hingegen, dass sich auch die israelische Arbeiterklasse, das jüdische Proletariat nicht wird befreien können, wenn es nicht mit dem zionistischen Staat, seiner Ideologie und Repression der PalästinenserInnen bricht. Ein Gleichsetzung von Anti-Semitismus und Anti-Zionismus ist daher auch unter diesem Blickwinkel fatal und dem Befreiungskampf der jüdischen Massen im Kampf gegen ihre Ausbeutung direkt entgegengesetzt.

Die Gleichsetzung von Anti-Zionismus und Anti-Semitismus verharmlost allerdings auch den Anti-Semitismus. Natürlich wird niemand abstreiten, dass Anti-Semiten ihren Antisemitismus mit Anti-Zionismus bemänteln - ebenso finden sich freilich unzählige Anti-Semiten unter den hartgesottenen Freunden Israels.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Anti-Semitismus und Anti-Zionismus ganz unterschiedliche Wurzeln haben. Der erstere ist eine reaktionäre kleinbürgerliche Ideologie, die aus der Krise und dem Verfall des Kapitalismus erwächst und eine reaktionäre und illusorische Lösung für die soziale Deklassierung im Judenhass bis zum Pogrom verspricht.

Der Anti-Zionismus ist vor allem die Ablehnung einer reaktionären Ideologie und seit der Gründung das Staates Israel die Ablehnung eines Staates, der auf Vertreibung und rassistischer Ausgrenzung beruht.

Das lange Schweigen

„Warum aber schwieg ich bislang?“, fragt Grass in seinem Text. Einerseits, erklärt er, weil er selbst mit einem „nie zu tilgendem Makel behaftet ist“ - seiner spät zugegebenen Mitgliedschaft als Jugendlicher in der SS; andererseits, „weil wir - als Deutsche belastet genug -“ sind. Zweifellos teilt auch Grass die von Bürgerlichen wie Stalinisten nach 1945 „den Deutschen“ verordnete Kollektivschuld-These. Nicht das Kapital und sein faschistischer Kettenhund waren an Krieg und Holocaust schuld, sondern „die Deutschen“. Diese nationalistische statt klassenmäßige Erklärung war im Nachkriegsdeutschland ein wichtiger ideologischer Baustein für die antifaschistisch-demokratischen Ordnung - sprich: den Verzicht auf den Sturz des Kapitalismus. Heute dient diese Ideologie als „humanistische“ Staffage, um die Akzeptanz imperialer Machtpolitik in der Bevölkerung zu sichern.

Diesen Grundirrtum erkennt Grass auch heute noch nicht. So erklärt er sich denn auch nicht als dem jüdischen Volk verbunden -, sondern „dem Land Israel“, also dem Staat Israel. Hier zeigt sich, dass auch Grass die Solidarität mit Menschen mit der Solidarität mit einem kapitalistischen und auf rassistischen Grundlagen beruhenden Staat verwechselt. Er sieht nicht, dass vom Staat Israel nichts übrig bleiben würde, wenn man dessen „schlechte“ Seiten  wie Vertreibung, Rassismus, Unterdrückung usw. abschaffen könnte. Diese negativen „Attribute“ gehören seit seiner Gründung zu Israel wie das Privateigentum zum Kapitalismus.

Welche Lösung?

Grass deutet am Schluss seines Textes an, welche Lösung er für die Bannung der Kriegsgefahr sieht. Er will „denn Verursacher der (…) Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern“. Er will eine „unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz, (die) von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.“ Welch naive Vorstellungen!

Nein, die Lösung für Nahost ist nicht mit einem - wie immer gearteten Staat - Israel möglich, sondern nur in einem multiethnischen Palästina, einem Palästina, das auch seine kapitalistischen (und teils halb-feudalen) Strukturen überwunden und somit die Basis für die Lösung auch der sozialen Probleme geschaffen hat: ein sozialistisches Palästina.

Ebenso untauglich ist seine Lösung für den Iran. Die „internationalen Instanzen“, von denen Grass spricht, stehen nicht über den iranischen (oder israelischen) Interessen als vermeintlich neutrale Gremien, sondern vertreten v.a. die Interessen der imperialistischen Großmächte, v.a. der USA und der EU. Warum uns gerade die Kontrolle durch Erfüllungsgehilfen der größten Kriegstreiber der Welt und der größten Atommächte, die ihre Arsenale „selbstverständlich“ keiner ernsten Prüfung durch andere unterziehen lassen, dem Frieden näher bringen sollen, bleibt Grass´ Geheimnis.

Nicht die Hoffnung auf Lösungen oder Agenturen von Gnaden des Imperialismus wie die Zwei-Staaten-Lösung, der Friedensprozess oder die UNO bringen ein Lösung, sondern der Kampf für den revolutionären Sturz reaktionärer Regime (sei es im Iran wie in Israel), wie er von den aufständischen Massen im Arabischen Frühling durchgeführt wurde. Zu solchen Einsichten gelangt Grass natürlich nicht.

Grass gebührt aber durchaus Anerkennung dafür, dass er einer der ganz wenigen Intellektuellen hierzulande ist, die sich wenigstens ab und zu so offen politisch äußern. Es ist zu begrüßen, dass das Thema „Israel“ nach Grass´ Äußerung wieder ernsthafter diskutiert wird. Grass hat berechtigte Fragen aufgeworfen und den reaktionären Pro-Israel-Mainstream attackiert.

Entgegen dem Gezeter seiner Kritiker, die ihn in den Nähe des Anti-Semitismus stellen oder im langen Verheimlichen seiner jugendlichen SS-Mitgliedschaft Belege für quasi-nazistische Kontinuität sehen wollen, liegt die Schwäche von Grass gerade darin, dass er sich auf dem Boden jener politischen Überzeugungen bewegt, denen er jahrzehntelang treu war. Zur Lösung großer weltgeschichtlicher Probleme greift er auf sozial-demokratische und pazifistische Patentrezepte zurück. Das erregt einen Sturm der Entrüstung, einer Entrüstung, die mehr aussagt über die Schar der KritikerInnen als über Grass. Eine brauchbare Antwort auf die von ihm benannten realen Probleme bietet er aber nicht.

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