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Russland

Risse im Putin-System

Martin Suchanek, Infomail 596, 22. Dezember 2011

Der Arabische Frühling hat im russischen Winter Einzug gehalten. 50.000 Menschen trotzten am 7. Dezember 2011 auf dem Bolotnaja-Platz Schnee und Frost bei den größten Protesten gegen den einstigen und künftigen Präsidenten Wladimir Putin und seine gelenkte ‚Demokratie’. So viele waren es unter Putins Herrschaft noch nie gewesen. Das Jahr, das mit den Protesten und Aufständen in Tunesien begann, die sich von dort aus über die ganze Welt verbreiteten, hat seinen passenden Abschluss gefunden. In Sichtweite des Kreml wurden die DemonstrantInnen von zehntausenden Polizisten und Sicherheitskräften eingekreist. Am lautesten waren die Rufe „Russland ohne Putin“ und „gegen die Partei von Gaunern und Dieben“, was sich auf Putins und Medwedjews Partei Vereintes Russland (VR) bezog. Einige riefen auch „Putin ist ein Gauner und Dieb!“ In 50 weiteren Städten fanden ähnliche Kundgebungen statt. In Sankt Petersburg demonstrierten 7.000, im sibirischen Nowisibirsk 4.000 - bei 20 Grad unter Null.

Die Kundgebungen bestanden großenteils aus StudentInnen und Berufstätigen der Mittelschicht, die sich von Putins autoritärer Regierung abgestoßen und von den demokratischen Bewegungen auf der Welt angezogen fühlen. Das geplante Wechselspiel mit Medwedjew und Putin in den Positionen des Premierministers und Ministerpräsidenten halten viele junge RussInnen für unwürdig.

In der Woche davor wurden etwa 800 Leute verhaftet und brutal gegen DemonstrantInnen vorgegangen. Putin hat seine Jugendorganisationen gegen die DemonstrantInnen gehetzt. Naschi, der Jugendflügel der VR-Partei, und andere putinistische Organisationen wie Molodaja Gwardija (Junge Garde) versuchten, mit Trommeln und Lautsprechern die Proteste mundtot zu machen. Am 7.12. hielt sich die Polizei noch zurück.

Wahlbetrug

Die Proteste begannen, als die zentrale Wahlkommission verkündete, Vereintes Russland habe 49,5% bekommen. Das waren 15% weniger als 2007. Vereintes Russland verlor mehr als 60 seiner 315 Sitze bei einer um 10% niedrigeren Wahlbeteiligung. Das allein zeigt schon die nach 12 Jahren Putinscher Regentschaft gewachsene Unzufriedenheit und den Unwillen, dieses System noch bis 2024 zu dulden. Viele DemonstrantInnen sind auch davon überzeugt, dass das Wahlergebnis gefälscht worden ist. Internationale Beobachter in 150 Wahllokalen bezeugen, dass die Zustände in 34 von ihnen ‚sehr schlecht’ gewesen seien. Es gibt eine Reihe von Berichten über Mehrfachabstimmungen, vollgepfropfte Wahlurnen und von öffentlichen Bediensteten, die von ihren Vorgesetzten angehalten wurden, für die VR-Partei zu stimmen. In Tschetschenien erhielt VR einen Stimmanteil von 99,48 %, was an die stalinistische Ära erinnert. Schwer vorstellbar in einem Land, dem der Kreml zwei blutige Kriege und Besatzung beschert hat. In Rostow, wo die Stimmzettel im Fernsehen gezeigt worden waren, erreichte VR gar 146%, was selbst Stalin erstaunt hätte.

Nur 7 Gegenparteien durften überhaupt für das Parlament kandidieren. Viele oppositionelle Gruppen waren vom Wahlkampf ausgeschlossen. Drei profitierten von der gesunkenen Unterstützung für VR. Die KP der russischen Föderation unter Gennadi Sjuganow erhielt 19,6% und verdoppelte damit fast ihre Stimmenzahl von 2007. Die Partei „Gerechtes Russland“, die mit Kreml-Geldern gegründet worden war und sich als sozialdemokratisch versteht, gewann 13,2%, die ultrarechte rassistische Liberaldemokratische Partei unter Wladimir Schirinowski 11,66. Die liberale Jabloko-Partei konnte die äußerst undemokratische 7% Hürde, die zu Sitzen im Parlament berechtigt, nicht nehmen.

Warum brachen die Proteste jetzt aus?

Dafür gibt es mehrere Gründe:

1. Russland verzeichnete in den vergangenen Jahren ein Wirtschaftswachstum. Aber die Wirtschaft des Landes war und ist v. a. vom Verkauf von natürlichen Ressourcen auf dem Weltmarkt abhängig. Die russische Industrie beschränkt sich auf wenige leistungsfähige Branchen wie Rüstung, aber auch dort sieht sie sich wachsender Konkurrenz gegenüber. Ihre superreichen Milliardäre sind zudem besonders parasitär. Ihr Wohlstand beruht v. a. auf der Fähigkeit, das Land auszuplündern und weniger auf ihrem Bemühen, die Wirtschaft wirklich umzugestalten und voran zu bringen.

2. Dieses System war zwar in der Lage, eine soziale Friedhofsruhe durch eine Mischung aus Repression, Klientelwirtschaft, ein paar sozialen Zugeständnissen und einer massiven Dosis von russischem Chauvinismus und Nationalismus intakt zu halten, doch wird dies unterlaufen, da das im wesentlichen bonapartistische Regime die Änderung der wirtschaftlichen Vorbedingungen für die elegante Handhabung von Demokratie nicht in den Griff bekommt.

3. Ursprünglich sollte ja das Putinsche System das parasitäre und inkompetente Jelzin-System ablösen, um einen selbstbewussten starken russischen Staat zu errichten. Doch hat die Stärkung des imperialistischen Staatsapparates hat längerfristig das korrupte System nur ausgedehnt. Zuwendungen von Geld und Privilegien als Prinzip hat das Heer von korrupten, mittelmäßigen und inkompetenten Bürokraten und ‚Geschäftsleuten’, die mit dem Staat und der herrschenden Clique verbandelt sind, weiter aufgebläht und verschlimmert die Lage zunehmend.

4. Noch wichtiger für künftige Widersprüche dürfte sein, dass die Staatsführung plant, den Reichtum des Landes noch einschneidender von unten nach oben zu verteilen. Putins Haushaltsentwurf für 2012-14 sieht einen massiven Anstieg im jetzt schon aufgeblasenen Militär- und Unterdrückungsapparat und erhebliche Einschnitte bei vielen Sozialleistungen vor. Es gibt wachsende Anstrengungen, Bildungs- und Gesundheitswesen zu privatisieren, was v.a. die Jugend und Ältere treffen würde.

Der linke Autor Boris Kagarlitzki stellt in der Moscow Times fest: „Gelenkte Demokratie funktioniert nur, wenn die Wirtschaft blüht. In einer Wirtschaftskrise gerät sie in Schwierigkeiten. Wenn der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt und die politische Elite taub ist für das Problem, kommt das Volk an einen Punkt, an dem seine größte Frustration nicht den ökonomischen Härten, sondern den Behörden gilt, die es daran hindert, seine Unzufriedenheit wirkungsvoll zu artikulieren.“

Die Massendemonstrationen im Dezember haben das Regime verunsichert und Putin und Medwedjew für den Augenblick in die Defensive gedrängt. Wie in vielen ähnlichen Fällen der Geschichte waren es Teile der Mittelschichten aus Jugend und Intelligenz, die auf die Straße gingen. Aber sie sind darüber hinaus ein Fingerzeig auf die Gärung in der russischen Gesellschaft.

Nun ist die Frage, welche oppositionellen Kräfte den ‚Freiraum’ nutzen und wie. Die Leiter der Demonstrationen und jene, die von den Medien beachtet werden, sind oft Linksliberale oder kleinbürgerliche DemokratInnen. Auch die kapitalistische Opposition der Jabloko-Partei wird sich an die Spitze der Bewegung drängen wollen.

Und die KP Russlands präsentiert sich als einzig wahre oppositionelle parlamentarische Kraft. Tatsächlich ist diese Partei jedoch chauvinistisch und nationalistisch und kein wirklicher Gegner von Putin und Konsorten. Die bürgerlichen und ‚kommunistischen’ Oppositionsführer stehen zwar gegen Putin und beanspruchen eine größere ‚demokratische’ Machtbeteiligung, teilen zugleich aber Kernelemente von Putins Politik: großrussischer Chauvinismus und Rassismus.

Wo waren diese ‚Oppositionsführer’ denn, als der Krieg gegen Tschetschenien geführt wurde? Wann haben sie gegen die rassistischen Attacken auf kaukasische Bevölkerungsteile in den russischen Großstädten protestiert und mobilisiert? Was haben sie getan zur Verteidigung von Arbeiterrechten?

Hierin liegt die echte Schwierigkeit und Herausforderung. In den nächsten Monaten müssen sich die russische Linke und die sozialen Bewegungen der Aufgabe stellen, eine politische Alternative zu diesen falschen Oppositionen aufzubauen: eine revolutionäre Arbeiterpartei, die die Kämpfe gegen das autoritäre Präsidentschaftsregime und für demokratische Rechte mit dem Eintreten für die Rechte der Arbeiterklasse sowie der sozial und national Unterdrückten verbindet. In diesem Sinn könnten die Massendemonstrationen der Auftakt für die Wiederentstehung einer neuen Massenbewegung unter Führung der Arbeiterklasse sein, die vom wahrhaft revolutionären Kommunismus im Land der Oktoberrevolution durchdrungen ist.

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