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Bewegung gegen S21

Strategische Herausforderungen des radikalen Flügels

Martin Suchanek, Infomail 568, 20. Juli 2011

Am 20. Juni zeigte die Bewegung gegen S21 nach längerer Zeit wieder ihre Aktionsfähigkeit, sie landete einen für alle Beteiligten überraschenden Erfolg durch die Besetzung der Baustelle. Auch wenn die Aktion i.w. symbolischen Charakter hatte (und auch nur haben konnte), so drückt sie eine Radikalisierung einer AktivistInnenschicht aus.

Kluft

Demgegenüber war die Masse der Bewegung in den letzen Monaten vor und nach der Wahl der Grünen und der Bildung einer neuen Regierung in Baden-Württemberg jedoch zu großen Teilen demobilisiert worden.

Die Entwicklung nach dem 20. Juni hat diese Kluft weiter vertieft, auch wenn am 9. Juli ein gewisser Mobilisierungserfolg mit ca. 10.000 TeilnehmerInnen zu verzeichnen war. Die Aktion war andererseits so gehalten, dass sie jede größere politische Konfrontation vermied, was sich schon in der Wahl der Demonstrationsroute ausdrückte.

In den letzten Monaten und auch nach dem 20. Juli sind die BefürworterInnen von S21 öffentlich in die Offensive gegangen. Die Bahn lässt weiter bauen, der Stresstest wird schon vorab als bestanden bezeichnet. Zugleich treiben sie die Landesregierung und die offizielle Führung der Bewegung vor sich her. Es gelingt ihnen dabei, den „linken“ Umweltminister Hermann als inkompetent und tricksend hinzustellen, was wiederum reflexartig neue Zugeständnisse von Kretschmann mit sich bringt. Es kommen ihnen dabei die bestehenden Illusionen der Masse der Arbeiterklasse und der lohnabhängigen Mittelschichten in Grün/Rot zugute, für die die aktuelle Landesregierung gerade aufgrund der noch frischen Erinnerung an Mappus und Co. nach wie vor zumindest ein kleineres Übel darstellt.

Radikalisierung und kleinbürgerliche Weltanschauung

Während also die Bewegung insgesamt kleiner wird und weit hinter das Mobilisierungspotential vom Herbst zurück gefallen ist, hat sich eine Schicht von AktivistInnen radikalisiert. Sie hat etliche Illusionen in die Polizei und in Teile der Führung der Bewegung verloren. Sie repräsentiert aber nur einen kleinen, wenn auch aktiveren Teil der Bewegung, also eine radikalisierte Minderheit.

Auch wenn sie manche Illusionen verloren hat, so hat sie mit der kleinbürgerlichen Weltanschauung ihrer Führung durchaus nicht gebrochen. Sie vertritt diese oft nur verbissener, wendet sich daher auch kleinbürgerlichen Obskuranten zu (ÖDP, Piraten), die in ihren Programmen mitunter sogar rechts vom bürgerlichen Mainstream stehen und eine ganz und gar rückwärtsgewandte, letztlich reaktionäre Sicht auf die Gesellschaft haben, d.h. sie hoffen auf eine ganz und gar utopische Rückkehr zur Kleinproduktion.

Es gehen also radikalisierte Vorstellungen der kleinbürgerlichen Demokratie einher mit einer gewissen Ablehnung der Staatsgewalt. Sie gehen auch einher mit dem Bestreben, jetzt Aktionen zu machen, mit denen die Regierung und die Bahn schließlich in die Knie gezwungen werden können.

Doch die Strategie dieser kleinbürgerlichen DemokratInnen ist vollkommen untauglich, um zu siegen. Letztlich wird die Bewegung gegen S21 nur als Massenbewegung siegen können, die eine breite Verankerung in der Gesellschaft, d.h. auch in der Arbeiterklasse hat.

Dazu muss die radikalisierte Schicht jedoch auch Taktiken, eine Strategie, eine Methode entwickeln, um die Führung der Bewegung zu erkämpfen. Gegenwärtig hat sie das nicht und will das auch nicht - nicht zuletzt, weil sie das Problem selbst überhaupt nicht erkennt.

Stattdessen hängt sie zunehmend der Illusion an, dass nur ein paar hundert (oder tausend) Entschlossene reichen würden, um über jahrelangen “Kleinkrieg” mit Beschädigungen an den Baustellen die Bahn und die Polizei in die Knie zu zwingen. Das ist eine totale Illusion und verkennt auch die aktuelle Entwicklung der Gesamtbewegung.

Erfahrungen

Auch in der Vergangenheit haben Bewegungen mit Militanz solche Großvorhaben nur dann verhindern können, wenn sie eine landesweite Basis hatten, die sie trug. So war der Kampf gegen Wackersdorf nicht nur von einer militanten Minderheit von meist autonomen „Entschlossenen“ getragen, sondern auch von einer Bauernmasse und der aktiven Unterstützung durch eine landesweite und internationale Umweltbewegung. Wie Gorleben zeigt, reicht aber auch das nicht immer. Letztlich hängt die Frage vom Kräfteverhältnis ab.

Entscheidend ist aber immer die Gewinnung der Arbeiterklasse - nicht nur, weil sie über die effektivsten Machtmittel besitzt, sondern weil es uns auch darum geht, den Konflikt in einem fortschrittlichen Sinn, also im Interesse der Lohnabhängigen zu lösen, also deren Programm und nicht bloß ein kleinbürgerliches Nein dem Kapital aufzuzwingen.

Das ist für den sich radikalisierenden Teil der Bewegung jedoch keineswegs so. Für sie ist die Frage der weiteren Entwicklung der Bewegung im Grunde keine politische, sondern nur eine aktionstechnische Frage.

Die Stuttgarter “Radikalen” gehen - wie oft bei Strömungen, die sich, wenn auch unbewusst radikalisieren - außerdem davon aus, dass die Lehren, die sie aus ihren Erfahrungen gezogen haben (und darunter gibt es wichtige richtige Elemente) auch alle anderen Teile der Bewegung gezogen hätten. Wie alle Erfahrung solcher Bewegungen zeigt, ist das aber nie der Fall. Die Erfahrungen der radikalsten oder kämpferischsten Schichten müssen immer vermittelt, erklärt, durch Propaganda und Agitation an die Massen - und im Fall S21 auch an die fortschrittlichsten Schichten der Arbeiterklasse und tw. auch der Jugend - weitergegeben werden.

Zum Kampf um die Führung in der Bewegung braucht es nicht nur Willen, Überzeugung, Empörung und Entschlossenheit. Es braucht nicht nur organisatorische und technisch-taktische Vorbereitung für spektakuläre Aktionen. Es braucht v.a. auch eine propagandistische und agitatorische Erklärung der Aktionen.

Wenn Teile der Bewegung die Aktionen der “Radikalsten” nicht verstehen, wenn sie von ihnen keine gezielten Gegeninformationen zur Version der Führung und der Medien über die Besetzungsaktion erhalten, werden sie verunsichert sein. Sicher trägt eine provokante Vorgehensweise der Bahn, das nächste Einknicken der Regierung zu einer “Gegentendenz” bei. Aber das kann nie Propaganda und Agitation in der Bewegung ersetzen. Wir können und dürfen uns nie der Illusion hingeben, dass allein die Lügen und Provokationen der Gegenseite die Menschen schon in die richtige Richtung drängen.

Die radikalen KleinbürgerInnen haben dafür aber kein Verständnis - was letztlich auch ihr Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Illusionen in eine quasi-automatische Durchsetzung einer über allen Klassen stehenden “Vernunft” und “Rechtschaffenheit” widerspiegelt.

Zweifellos sind diese Kräfte auch stark geworden, weil sie die Versprechungen der Führung der Bewegung ernst nahmen. Jetzt lassen sie nicht davon ab, weiter auf der Umsetzung der “vernünftigen” Argumente für K21 zu bestehen. Während Kretschmann und Co. immer schon wussten, dass diese „Vernunft“ mit der kapitalistischen Kostenrechung in Einklang gebracht werden muss und daher immer unter dem Profitinteresse zu stehen hat, will das den Radikaleren nicht in den Kopf. Sie beharren auf ihrer im Grund kleinbürgerlichen Sicht.

Arbeiterbewegung

Eine Annäherung an die Arbeiterbewegung und die Linke suchen sie als Schicht jedoch nicht. Das ist sicher auch Schuld der Linken - schließlich können wir von kleinbürgerlichen oder Mittelschichten der Gesellschaft oder ihren politischen VertreterInnen nicht erwarten, dass sie sich spontan an der Arbeiterklasse orientieren.

Aber es wäre auch falsch, die Probleme nur bei den Linken zu suchen. Die schichtbedingten Vorurteile dieses Milieus treiben sie v.a. zu kleinbürgerlichen Formen des Radikalismus. Autonome und Libertäre, die sich an diese Bewegungen anhängen, nähren diese Vorstellungen in der Regel auch noch.

Sich an einer proletarischen Lösung zu orientieren, vollzieht sich bei einer solchen Schicht nicht organisch und kann sich auch nicht so vollziehen. Präsenz und Einfluss von Piraten oder ÖDP verdeutlichen das (und bestärken natürlich auch Linke oder GewerkschafterInnen dabei, der Bewegung skeptisch gegenüberzustehen).

Die politische Schwäche zeigt sich auch darin, dass praktisch keine Vorstöße dieses Flügels auf ein Zugehen auf Gewerkschaften und zur Einbindung politischer Forderungen kommen, die sich gegen das Kapital richten (gegen Privatisierung, für kostenlosen Nahverkehr, für mehr Rechte der Bahnbeschäftigten usw.). Für diese Schicht ist K21 nämlich auch ein Fetisch.

Das hindert sie auch daran zu verstehen, warum Teile der Massen ihre Absatzbewegung von Grün/Rot nicht einfach teilen. Das hat nicht nur mit größeren, verbleibenden Illusionen bei der Masse zu tun. Es hat auch damit zu tun, dass ein Teil ebendieser breiter gefächerte Illusionen hat. Wichtig ist dann für diese z.B., dass die CDU weg ist von der Regierung. Sie nehmen dafür auch etliche Kompromisse in Kauf - nicht zuletzt, weil die Erinnerung an Mappus und Co. noch lebendig ist und sie daher zumindest ein “kleineres Übel” wollen. Sie sehen daher die Kampagne der CDU gegen den Umweltminister als etwas, wo es Hermann gegen die Rechten auch zu verteidigen gilt. Sie werden im Falle einer Volksabstimmung sicher verhindern wollen, dass es eine Mehrheit für S21 gibt und damit eine quasi-demokratische Legitimation. Daher werden sie sich an einer solchen Volksabstimmung beteiligen, evtl. sogar in großen Massen. Somit ist es durchaus möglich, dass diese im Herbst zum Hauptkampffeld in Baden-Württemberg wird. Daher muss dann eine solche Kampagne im Mittelpunkt stehen, nicht isolierte Aktionen einer Minderheit.

Den radikalen Kleinbürgern ist das alles nicht nur nicht klar. Sie sträuben sich gegen eine solche konkrete Einschätzung aller Schichten der Bewegung, des politischen Gesamtzusammenhangs, weil es auch einer für sie schmerzlichen Veränderung ihre Weltsicht bedarf, die S21-Frage klassenpolitisch und nicht vorrangig moralisch zu betrachten.

Fazit

Wir gehen davon aus, dass sich eine Minderheit der Bewegung von mehreren hundert, wenn nicht tausend Leuten radikalisiert hat, die Masse hingegen nicht oder jedenfalls nicht in dem Maße. Die Führung dieser radikalisierten Minderheit liegt bei einer kleinbürgerlichen Schicht von AktivistInnen, die zwar einiges gelernt hat, aber auch von ihren Illusionen geprägt und daher unfähig ist, die Kluft zwischen Radikalen und Masse zu überwinden. Der Führung der Massen wird so letztlich der Ausverkauf durch Regierung, die Grünen, SPD und das K21-Bündnis erleichtert.

Die linken Kräfte der Jugend, der Arbeiterbewegung verhalten sich zu passiv in dieser Lage, weil sie sich einerseits mit der K21-Führung nicht zu sehr anlegen wollen andererseits skeptisch den “Radikalen” gegenüberstehen.

In dieser Lage geht die Bahn, gehen die Rechten in die Offensive. Sie sehen, dass die Bewegung schwächer geworden ist, dass sie die Regierung und die offizielle Führung vor sich hertreiben können und eine Entsolidarisierung einsetzt. Den “radikalen Flügel” fürchten sie nicht wirklich, sondern präsentieren ihn als Schreckgespenst gegenüber der K21-Führung und den BürgerInnen im Land.

Die aktuelle Lage, die sich wohl noch einige Monate hinziehen kann, kann letztlich nur positiv gelöst werden, wenn es der Arbeiterbewegung (genauer deren linkem Flügel) gelingt, eine eigenständige, proletarische Perspektive aufzuzeigen. Die Gewerkschaftslinke (Metallerforum), die radikale Linke, Linkspartei etc. müssen dazu aufgefordert werden, aktiv in die Bewegung einzugreifen. Einerseits, um radikale, symbolische Aktionen vorzuschlagen, andererseits, um diese Auseinandersetzung in die Betriebe, Schulen, Unis, Stadtteile (und ins ganze Land) zu tragen. Was Hauptinhalt ihre Arbeit wird, hängt natürlich auch davon ab, ob es eine Volksabstimmung gibt oder nicht. Außerdem müssen sie für demokratische Bündnisstrukturen kämpfen, die allen Organisationen der Linken, politischen Parteien der Arbeiterbewegung offen stehen.

Es ist notwendig, unter den radikalen AktivistInnen für eine politische Ausrichtung auf die Arbeiterbewegung zu kämpfen - was auch bedeuten muss, aktiv Forderungen an linke und Arbeiterorganisationen (DIE LINKE, DKP, MLPD, div. Autonome wie RAS, Zentristen wie SAV, GewerkschafterInnen gegen S21) zu richten und sich in die Bewegung aktiver einzumischen. Ebenso muss vom K21-Bündnis gefordert werden, mit ihrem Schmuskurs gegenüber „ihrer“ Landesregierung zu brechen und auf Massenaktion zu setzen.

Neben der Bahn sollten v.a. die Landesregierung und die Stadt Stuttgart Ziel von Demos und Aktionen sein. Dabei lehnen wir eine Zersplitterung der Demo-Bewegung durch eine zusätzliche Samstag-Demo ab. Sinnvoller ist es vielmehr, die Montagsdemos zu stärken und zu versuchen, mit anderen linken Kräften zusammen an einem klassenkämpferischen, anti-kapitalistischen Block zu arbeiten. Eine Großdemo sollte aber bei/um Veröffentlichung des “Stresstests” gemacht werden. Dabei geht es auch darum, den Kampf in die Betrieben, die Unis, die Schulen und Stadtteile zu tragen und ihn mit politischen Solidaritätsstreiks zu stärken.

Dann nur so – durch die Einbeziehung der Masse der Lohnabhängigen und Jugend – kann die Bewegung siegen, können Grube, Mappus, Kretschmann und Co. gestoppt werden.

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