Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Ägypten

Die ArbeiterInnen betreten die Bühne

Simon Hardy, Infomail 534, 11. Februar 2011

Die Massendemonstrationen in Kairo, Alexandria und Suez haben bewiesen, dass jene westlichen Kommentatoren, die behaupteten, die Bewegung habe ihren Gipfel überschritten und die Revolution sei gescheitert, völlig falsch lagen. Am 8. Februar fand die bisher größte, am weitesten verbreitete Demonstration statt. Der Journalist Robert Fisk berichtete, dass gestern Abend sind so viele Menschen auf den Tahrir-Platz geströmt waren, dass der Platz bis zu den Nilbrücken und anderen Plätzen der Stadt überlief. Viele Menschen kamen zum ersten Mal.

Es ist praktisch unmöglich, die genaue Größe der Demonstrationen einzuschätzen – wahrscheinlich sind es einige Millionen. Die Aktionen der Demonstranten eskalierten, als Hunderte von ihnen das nicht weit vom Tahrir Platz liegende ägyptische Parlamentsgebäude belagerten und Barrikaden um das Gebäude errichteten.

Nun beginnen ägyptische ArbeiterInnen, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen, indem sie nicht nur gegen das Regime, sondern auch gegen ihre diktatorischen Arbeit“geber“ protestieren. Sie fordern höhere Löhne, um die wuchernde Inflation, Entlassungen aufgrund der Wirtschaftskrise, und die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Da die verhasste Polizei jetzt von der Strasse vertrieben wurde, haben die ArbeiterInnen jetzt mehr Raum und Möglichkeiten, gegen ihre Bosse zu streiken und protestierten, ohne Angst,  vom Regime verhaftet, gefoltert und getötet zu werden.

Zwei von Ägyptens unabhängigen Gewerkschaften haben sich für den Beginn eines unbefristeten Generalstreiks ausgesprochen sowie eine Demonstration vor dem Hauptgebäude der vom Staat unterstützten Gewerkschaft, der General Federation of Trade Unions (GFTU) durchgeführt. Die staatliche ägyptische Zeitung, Al-Ahram, die mit dem Regime brach und jetzt die Opposition unterstützt, publiziert jetzt auf ihrer Website die Berichte von einer ganzen Serie von Streiks, die in mehreren Städten ausgebrochen sind. Vielleicht hat das mehr mit den Tausenden von JournalistInnen zu tun, welche die Lobby des Hauptsitzes der Zeitung besetzten, um die Korruption zu verurteilen, Pressefreiheit zu fordern und zu verlangen, dass für den Tod zweier Kollegen aus der Redaktion der Zeitung auf dem Tahrir-Platz während der Proteste Rechenschaft gefordert wird. Die Protestierenden rufen Losungen gegen die Korruption und gegen den Chefredakteur von Al-Ahram. Unter anderem lauten die Losungen: “Die Revolution ist überall in Ägypten. Revolution in Ahram” und “Nein zu Ungerechtigkeit”.

In Suez, wo seit zwei Wochen heftige Schlachten zu sehen waren, demonstrierten gestern mehr als 2.000 TextilarbeiterInnen. Heute haben Arbeiter aus fünf Dienstleistungsfirmen, die im Besitz der Suez Canal Authority in Suez, Port Said und Ismailia sind, eine unbefristete Sitzblockade begonnen. Über 6.000 Protestierende werden ihre Sitzblockade weiterführen, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Sie protestieren gegen ihre miserablen Löhne und verschlechterte Gesundheits- und Arbeitsbedingungen. Sie verlangen, dass ihre Löhne und Zusatzleistungen denen der Arbeiter der Suez Canal Authority entsprechen. In der Fabrik von National Steel - der staatliche Stahlkonzern - in jener Stadt haben 500 Streikende eine Sitzblockade veranstaltet, nachdem sie den Straßenverkehr blockiert hatten. Die ArbeiterInnen erklärten, dass sie die niedrigsten Löhne erhalten, trotz der Luftverschmutzung am Arbeitsplatz, die sie ertragen müssen.

In der Textilstadt von Mahalla al-Kubra haben mehr als 1.500 ArbeiterInnen von einer Fabrik ihren Arbeitsplatz verlassen und die Strassen blockiert. Auch mehr als 2.000 ArbeiterInnen der Pharma Firma Sigma in der Stadt Quesna haben gestreikt, während 5.000 arbeitslose Jugendliche ein Regierungsgebäude in Aswan stürmten und die Entlassung des Gouverneurs verlangten. In Kairo haben Sanitärarbeiter um ihr Hauptquartier demonstriert, in Luxor sind  Tausende marschiert, die vom Zusammenbruch der Tourismus-Industrie stark betroffen sind, um von Regierung Zusatzleistungen zu fordern.

Es wird jetzt jedem klar, dass die klassischen Bedingungen für eine Revolution erfüllt sind: Die Massen sind nicht mehr bereit, ihre alte Lebensart weiter zu führen; die herrschende Klasse ist nicht mehr fähig, ihre alte Art zu herrschen weiter zu führen.

Das Regime klebt an der Macht

Vizepräsident Omar Suleiman - lange Zeit Ägyptens Chef-Folterer und äußerst treu zu den USA und Israel - klebt an der Strategie von Spannung und Bedrohungen, um die Demonstranten in lange, unergiebige Verhandlungen zu verwickeln mit der Hoffung, dadurch die Demonstranten zu ermüden. In einem Interview mit den amerikanischen ABC-News sagte er, Ägypten fehle die “notwendige Kultur der Demokratie” für die Veränderungen, die die Demonstranten verlangen. Er drohte mit der Behauptung, eine Weiterführung der Proteste könne sehr gefährlich sein, und “die Alternative zu Dialog” wäre “ein Coup”, also ein Militärputsch.

Andererseits äußerte sich der von der Diktatur neu ernannte Generalsekretär der National Democratic Party (NDP), Hossam Badrawi, dass Ägypten und der ganze Nahe Osten Zeuge eines historischen Wandels seien, und dass “es eine Zeit ist, wo Regierungsführer ihr Volk respektieren sollen und erkennen, dass die Leute ihre Meinung sagen und dazu fähig sind, ihr Leben zu verändern”. Er sagte weiter: “Der 25. Januar bedeutet eine einzigartige und zivilisierte Revolution mit dem Ziel, ein besseres Ägypten in allen Aspekten zu schaffen”. Nun wenn das der Fall ist, dann hat man weder ihm noch seiner Partei dafür zu danken. Badrawi, ein „Liberaler“, wurde von seiner Partei engagiert, um das Image der NDP so gut wie möglich aufzupolieren. Da fällt einem sofort das Sprichwort ein: “Too little and too late“ (Dafür ist es zu wenig und zu spät).

Die NDP, seine Polizei und Elemente innerhalb des Militärs haben reichlich Blut an ihren Händen. Human Rights Watch berichtete, dass 302 Leute in den letzten 16 Tagen getötet wurden. Die Organisation besuchte einige Krankenhäuser und behauptet, die Unterlagen beweisen, dass 232 in Kairo, 52 in Alexandria und 18 in Suez gestorben sind.

Die Situation hätte noch viel blutiger ausgehen können, wenn eine gewisse Zahl von gewöhnlichen Polizisten und Soldaten ihre Befehle nicht verweigert hätten. Blogs berichten, dass General Habib Ibrahim El Adly, damals Innenminister, befahl, die Demonstranten mit scharfer Munition zu beschießen. Ein Offizier berichtete am 25. Januar: “Ich verließ meinen Einsatzort, nachdem man mir befohlen hatte, mit scharfer Munition wahllos auf die Demonstranten zu schießen.“ Panzerführer haben sich geweigert, über die Körper der Protestierenden zu fahren. Das schiere Ausmaß der Proteste sorgt für Risse im Staatsapparat – ein weiteres sicheres Zeichen der revolutionären Situation, in der sich Ägypten befindet.

Ein anderes Zeichen von dem Zusammenbruch der Mauer des Schweigens in den Medien ist der Fall von Wael Ghoneim. Wie bei der tunesischen Revolution können spezifische Fälle von Grausamkeit und Ungerechtigkeit seitens des Regimes eine enorme Wirkung haben. Im Juni wurde der Fall von Khaled Said zu Prüfstein für die Jugendlichen, die den Internet und soziale Medien benutzen. Said, ein 28 jähriger junger Mann aus Alexandria wurde aus einem Internet Café gezerrt und von zwei Sicherheitsbeamten zu Tode geprügelt. Darauf wurde einige Demonstrationen in Alexandria und anderen Städten organisiert, und eine Facebook Gruppe namens “Wir sind alle Khaled Said” gewann in kürzester Zeit eine Anhängerschaft von einigen tausenden Menschen. Wael Ghoniem, der regionale Marktmanager von Google in dem Nahen Osten, gründete diese Gruppe und agiert damit weiterhin gegen das Regime.

Nicht überraschend wurde er am 25. Januar 2011 festgenommen. Als er entlassen wurde, gab er ein Interview bei der populären TV Diskussion Programm The 10 O’clock Show. Darin brach er zusammen, als er berichtete, wie viele junge Menschen während der Demonstrationen getötet wurden. Er rief die Leute auf, weiterhin zu mobilisieren. Offensichtlich hat dieses Interview eine enorme Wirkung gehabt, die Zahl der Menschen auf den Strassen am nächsten Tag zu vergrößern, und es brachte viele Unbeteiligten auf den Platz, die bisher nicht erschienen sind und heftig gegen das Regime protestierten. Über 100.000 ÄgypterInnen haben Facebook benutzt, um Ghoneim die Erlaubnis zu geben, sie bei dem 25. Januar Aufstand zu vertreten.

Die Führung der Bewegung

Die Frage der Führung und Vertretung der protestierenden Masse hat eine kritische Phase erreicht. Die minimale Zugeständnisse, die Suleiman den Vertretern der politischen Parteien und anderen Gruppen einschließlich der Moslem-Bruderschaft angeboten hat, wirft die Frage auf, wie die DemonstrantInnen für sich selbst entscheiden soll, wer sie vertritt. Bis jetzt war es  Suleiman, der “ihre Vertreter auswählte”.

Eine Koalition von Jugendlichen formierte sich. Sie besteht auf der 6. April Bewegung, der Kampagne zur Unterstützung von El Baradei und der Demokratie, der Türanklopfen Kampagne (Door Knock Campaign), der Moslem-Bruderschaft Jugend und der Jugend-Bewegung der Demokratischen Front Partei. Ein Sprecher der Koalition, Ahmed Ezzat, sagte: “Obwohl (die Koalition) nur mit diesen Gruppen begann, hoffen wir, dass sie größer werden wird bis sie aus allen anderen jungen Aktivisten besteht, einschließlich der jungen Mitglieder der Karama Partei, der Arbeiterpartei, Kifaya und aller anderen, einschließlich der unabhängigen Bloggers und Internet Aktivisten”.

Diverse akademische- und NGO Figuren haben ein Dialog-Komitee gegründet (von der Presse “Rat der Weisen” genannt). Dieses Komitee wird von dem ehemaligen Chef der Menschenrechtsrat (Human Rights Council), Kamal Abul Magd geleitet und besteht aus 30 “nicht-parteiischen” öffentlichen Persönlichkeiten. Die Prominentsten darunter sind der Botschafter Nabil Al-Araby, ein ehemaliger Richter des Internationalen Gerichtshof und Mitglied des Sitzungsrates des Stockholmer Internationalen Institut für Friedensforschung, Naguib Sawiris, ein koptischer Christ und einer der mächtigsten Unternehmer in dem Land, und Ägyptens größter Verleger, Ibrahim El-Moalem.

Mitglieder der Jugend-Bewegungen, die die 25. Januar Demonstrationen in Gang gesetzt haben, trafen mit diesem Komitee. Bei dem Treffen kam heraus, dass Suleiman die Jugend-Organisation eingeladen hat, an dem “Dialog” teilzunehmen. Aber sie lehnten dieses Angebot ab und erklärten stattdessen, dass sie “den Weisen” delegiert haben, sie zu vertreten.

Das Dialog-Komitee und die Jugend Koalition einigten sich über eine Reihe von Forderung, die sofort erfüllt werden muss, bevor Verhandlungen beginnen können. Die sind wie folgt:

1) Die Beendung der nationalen Notstand, die seit 30 Jahren in Kraft geblieben ist.

2) Die sofortige Freilassung sämtlicher politischen Gefangenen und Gewissengefangenen.

3) Die sofortige Verhaftung und Strafverfolgung der NDP-Oligarchen, Beamten, Polizisten und Agenten, die in den verbrecherischen Angriffen gegen Demonstranten verwickelt waren.

4) Ein sofortiger Stopp aller Anklagen von dem Staat und den staatlichen Medien gegen die Demonstranten und:

5) Die Entlassung des Ministers für Information, Anas El-Fiqi, und die Stellung des ägyptischen, staatlichen Fernsehkanals unter der Aufsicht eines unabhängigen Kuratoriums (Board of Trustees).

Wenn die Streikwelle sich weiterhin verbreitet, und sich zu einem landesweiten Generalstreik entwickelt, dann könnte das Mubarak-Regime wie ein Kartenhaus zusammenfalten. Das Vakuum, das dadurch entstehen würde, könnte rasch durch die etablierten politischen Parteien und die liberal-demokratischen Kräfte, die in dem Dialog-Komitee vertreten sind, sowie die Jugend-Allianz gefüllt werden, wenn die loyal zu den anderen Gruppen bleiben. Aus all diesen Kräften und der Armee würde eine provisorische Regierung gebildet werden.

Aus diesem Gründe ist es äußerst wichtig, dass revolutionäre SozialistInnen in Ägypten für die Unabhängigkeit der Arbeitklasse von all diesen bürgerlichen Kräften kämpfen, die kein Interesse daran haben, die fundamentalen Forderung der ArbeiterInnen zu erfüllen. Die Arbeiterklasse soll einer solchen Regierung überhaupt kein Vertrauen schenken.

Für die ArbeiterInnen ist jetzt ist die wichtigste Aufgabe die Errichtung von Streik-Komitees durch Massenversammlungen an jedem Arbeitsplatz. Diese können die wirtschaftlichen und sozialen Forderungen der ArbeiterInnen formulieren. Aus den Arbeitsplätzen, den Stadtteilen, den Schulen und Universitäten und von der arbeitslosen Jugendlichen können die Streik-Komitees auch lokale Räte von Delegierten bilden. Dadurch können die arbeitenden Masse garantieren, dass nicht nur das Regime von ihrer Machtposition hinausgeworfen wird, sondern auch die Unternehmer, Diplomaten, Akademiker oder andere Parteien wie Neue Wafd Partei oder die Moslem-Bruderschaft diese Position nicht erobern.

Die Arbeiterbewegung, die Jugend, und die armen Bauer aus den kleinen Städten und Dörfern müssen ihre eigenen VertreterInnen wählen und nicht die selbst ernannten bürgerlichen Figuren, die das Vertrauen der herrschenden Klasse und der USA genießen. Ein Komitee von Anwälten und Akademikern sollen nicht erlaubt werden, die Verfassung hinter den Rücken der Masse und gegen ihr Interesse zu verändern. Wahlen für eine souveräne konstitutionelle Versammlung müssen aufgerufen werden, damit die gewünschte Form von Demokratie, die die wirtschaftliche Basis des Staates sein soll, von Millionen und nicht von ein paar Millionären debattiert und entschieden werden kann.

Neue Gewerkschaften, die revolutionären Jugend und sozialistische Organisationen müssen sofort zusammenkommen, um eine revolutionäre Partei zu gründen, die die Führung übernehmen kann bei der Bildung von neuen Organisationen-, Arbeiter-, Soldaten-, und Bauernräten. Eine solche Partei konnte die Frage einer ägyptischen Revolution stellen, die ununterbrochen weiterläuft bis alle demokratischen Rechte etabliert sind, jenseits jeglicher Bedrohung deren Umstoßung, und bis die brennenden, wirtschaftlichen Bedürfnisse der Masse erfüllen sind: Das Mindestlohn muss erhöht werden, Jobs für die Millionen arbeitslosen Jugendlichen müssen geschaffen werden, geschlossene Fabriken müssen geöffnet werden, und die Wohlhabenden müssen gezwungen werden, die Kosten zu übernehmen usw.

Eine solche revolutionäre Partei würde auch dafür kämpfen, eine Arbeiterdemokratie und soziale Gerechtigkeit zu etablieren, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum der Produktionsmittel basiert. Kürz gefasst, die demokratische ägyptische Revolution kann und muss sich in eine sozialistische Revolution verwandeln und sich sowohl auf die ganze Region als auch die ganze Welt verbreiten. Wenn dies nicht geschieht, dann zeigt die Erfahrung aller vorhergehenden, großen Revolutionen, wie die Iranische Revolution von 1979, dass die Revolution ihre demokratischen Ziele nicht permanent sichern wird.

Leserbrief schreiben   zur Startseite