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Kaschmir-Intifada

Solidarität mit dem Kampf um nationale Selbstbestimmung

Michael Gatter, Infomail 501, 8. August 2010

Es war der Grausamkeiten zuviel. Am 6. Juni 2010 machte die Nachricht die Runde, dass die indische Armee Ende April 3 junge Männer Schachsad Achmad, Rijas Achmad und Mohammed Schafi hingerichtet hatte, weil sie angeblich als militante Elemente aus Pakistan eingesickert wären. Das war eine Lüge, die nicht einmal die Polizei selber glaubt.

Am 11.6. feuerten paramilitärische Einsatzkräfte der zentralen Reservepolizeitruppen Tränengas aus kürzester Entfernung  auf Demonstranten und traf dabei den 17jährigen Tufail Achmad Mattu tödlich am Kopf. Tausende nahmen am folgenden Tag an dem Trauermarsch teil.

Diese Ereignisse entfachten einen Ausbruch von Unruhe unter der Bevölkerung des Kaschmir, die in Unterdrückung und Furcht vor der Besatzung der indischen Armee lebt. Mehrtägige Streiks und Massendemonstrationen wurden ausgerufen, zuletzt am 13.7., dem historische Märtyrertag, da 1931 21 Muslime aus dem Kaschmir in einer Erhebung gegen den damaligen hinduistischen Herrscher Maharadscha Hari Singh getötet worden waren.

Die Asia Times Online behauptet, dass 2 islamistische Organisationen Al Badr unter Führung von Bakt Samin Khan und Laschkar-e-Taiba führend in dem Konflikt seien, es handelt sich jedoch klar um eine spontane Massenerhebung.

Junge Kaschmiris stehen in vorderster Linie in den Straßenkämpfen, werfen mit Steinen nach den Sicherheitskräften, errichten Straßensperren mit brennenden Reifen, um die indische Polizei aufzuhalten. Der Staat antwortet mit Tod bringendem Feuer. Viele Tote, im Juni mindestens 15, und Verwundete sind zu beklagen.  Die meisten Zusammenstöße ereignen sich in Srinagar, der Hauptstadt der zu Indien gehörenden Provinzen Dschammu und Kaschmir.

Die Protestler in Kaschmir rufen Losungen wie „Wir wollen Freiheit“ und „Indien raus“. Auf Spruchbändern ist zu lesen „Verlasst Kaschmir“, Geh Indien, geh zurück“, „Kein Indien, kein Pakistan, wir wollen ein freies Kaschmir“. Ähnliche Plakate sind auch in der Innenstadt von Srinagar zu sehen.

Einer der Führer der Bewegung Mirwais Umar Farocq, der an der Spitze von tausenden Demonstranten marschierte, erklärte: „Unsere Proteste und ziviler Ungehorsam werden so lange anhalten, bis Indien seine regulären und paramilitärischen Streitkräfte aus allen bewohnten Gebieten zurück gezogen hat.“

Schon jetzt wird die populäre Erhebung auch in den Medien Kaschmir Intifada genannt. Selbst die Vertreter der indischen herrschenden Klasse müssen den Massencharakter der Erhebung zugeben. In der US-Zeitschrift Christian Science Monitor wird am 13.Juli aus einem Artikel von B. Raman, dem ehemaligen Chef der Abteilung Antiterrorismus beim indischen Geheimdienst, zitiert: „Wir sind Zeuge eines Beginns einer Intifada in einigen Gegenden von Dschammu und Kaschmir.“ Die Gründe dafür formuliert er jedoch sehr untertrieben: „Die Wurzel liegt in der zunehmenden Wahrnehmung einiger Teile der Jugend, dass die Sicherheitskräfte unsensibel bei der Eindämmung der Erhebung vorgehen und nicht einwandfreie Mittel... sowie unverhältnismäßige Gewalt gegen die Bevölkerung anwenden.“

2008 schrieb Amnesty International an den indischen Premierminister „Grabstätten weisen auf Reste von Opfern ungesetzlicher Morde, zwangsweiser Verschleppungen, Folter und anderer Missbräuche hin, die im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten seit 1989 stehen. Die Gräber von mindestens 940 Personen sind allein in 18 Dörfern des Uri-Bezirks gefunden worden.“

Eine Kaschmir-Nichtregierungsorganisation, das Internationale Volkstribunal zu Menschenrechten und Gerechtigkeit im indisch verwalteten Kaschmir (PTK) sagt aus, dass es in der Zeit der indischen Besetzung des Kaschmir zwischen 1989 und 2009 über 70000 Todesfälle durch Übergriffe der Besatzungsmacht gegeben habe.

Geschichte nationaler Unterdrückung

Die Intifada kommt nicht von ungefähr. Sie ist nur der jüngste Ausbruch in der Geschichte der nationalen Unterdrückung des Kaschmir-Volkes. Als Folge des Erbes des britischen Kolonialismus und der reaktionären Teilung des indischen Halbkontinents haben die herrschenden Klassen die Region in Indien (vorwiegend hinduistisch) und Pakistan (vorwiegend islamisch) aufgeteilt. Dies führte zu reaktionären Kriegen 1947, 1965, 1971 und 1999 sowie zu Dauerspannungen zwischen beiden Ländern.

In zwei der drei indo-pakistanischen Kriege war Kaschmir der Zankapfel. Kaschmir ist eines der übelsten Beispiele für die reaktionäre Teilung Indiens 1947. Die Bevölkerung im Kaschmir ist auf drei Staaten verteilt, ein ähnliches Schicksal wie das kurdische Volk. Indien besitzt annähernd 43%, den größten Teil von Dschammu, Kaschmir-Tal, Ladakh und den Siatschen-Gletscher. Pakistan verfügt über 37%, vornehmlich Asad Kaschmir und die nordlichen Bezirke von Gildschit und Ballistan. China wiederum gebietet nach dem sino-indischen Krieg 1962 und der Abtrennung des Trans-Krakorum Trakts von Pakistan 1963 territorial über 20%.

3,6 Millionen Kaschmiri leben in Pakistan, die Mehrheit allerdings gegen ihren Willen im indischen Teil von Kaschmir. Damit ist es die einzige von Muslimen majorisierte Provinz in ganz Indien. Im Kaschmir-Tal bildet diese Gruppe 90% der Bevölkerung, in Dschammu hinwieder sind die 2 Millionen Hindus in der Mehrzahl. Eine kleine buddhistische Minderheit lebt zur Hauptsache in Ladakh.

Die Erhebung 1988

Es gibt eine geschichtliche Widerstandstradition der Kaschmir-Bevölkerung gegen die indische Besetzung. Nach einer Wahlfälschung 1987 wandelte sich der Widerstand zu einem bewaffneten Aufstand. Darin spielten kleinbürgerliche Organisation mit sozialistischem Vokabular wie die Dschammu und Kaschmir Befreiungsfront (JKLF) eine führende Rolle. Der Aufstand wurde jedoch durch die indische Armee brutal niedergeschlagen. Mindestens 30000 Menschen verloren dabei ihr Leben.

Heute hat der indische Staat, der auch schon seit längerem eng mit der israelischen Armee in Antiaufstandsübungen zusammenarbeitet, etwa 700.000 Mann starke Kampfverbände und 70.000 Polizisten stationiert für eine Einwohnerschaft von 8 Millionen. Das sind mehr Besatzungssoldaten als in Afghanistan und Irak, einer für 10 Kaschmirbewohner!

Ein besonders trauriges Kapitel des Massenmords und der Unterdrückung ist das Schicksal der so genannten Halbwitwen. Das sind Frauen, deren Männer vermisst sind, aber nicht als tot gelten. Sie dürfen sich nicht wieder verheiraten. Auch von Hilfsprogrammen seitens der Nichtregierungsorganisationen sind sie meist ausgeschlossen. Viele von ihnen organisieren sich nun in Verbänden, die sich gegen ihre elenden Lebensbedingungen und gesellschaftliche Aussonderung zusammenschließen.

Die Unterdrückung des Widerstands führte zu einem Niedergang der fortschrittlichen JKLF und dem Aufkommen von islamistischen Terrorgruppen wie Laschkar-e-Taiba-ul-Mudschahedin. In verzerrter Form verkörpern sie zwar das Streben eines Teils der Kaschmiri nach nationaler Selbstbestimmung, zugleich agieren sie aber als Marionetten ihrer Hinterleute, dem pakistanischen Geheimdienst ISI.  Ihre Einschleusung aus Pakistan löste den Kargilkrieg 1999 aus.

In den vergangenen 3 Jahren haben sich jedoch neue Bewegungen und Proteste formiert. Die Kaschmir-Bevölkerung hat die militärische Besatzung, Folter, Ermordungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen, Massengräber und erniedrigende Kontrollen satt. Als Resultat wurden Massenproteste gegen den Landschacher an die Amanath Schrein-Behörde der indischen Regierung 2008 organisiert. Ein weiterer Anlass für Proteste ergab sich nach dem Vergewaltigungsprozess im Bezirk Schop 2009. Als der indische Premierminister Manmohan Singh Kaschmir im Juni 2010 besuchte, wurde er mit einem Generalstreik ‚begrüßt’.

Solidarität mit der Kaschmir-Intifada !

Die Liga für die 5.Internationale und die „Revolutionäre Sozialistische Bewegung“ (RSM) in Pakistan stehen in vollständiger Solidarität mit der Erhebung in Kaschmir gegen die Unterdrückung durch den indischen Staatsapparat. Die Bewegung tut völlig recht daran, zu Demonstrationen und zu Generalstreiks aufzurufen.

Dennoch bleiben einige Fragen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden, zunächst über die politische Kampfperspektive.

Einige oppositionelle Gruppen sind für Verhandlungen mit der indischen Regierung und lediglich für Autonomie des Kaschmir sowie für ein Eingreifen der ‚internationalen Gemeinschaft’ eingetreten. Die meisten islamistischen bewaffneten Kräften unterstützen die Lostrennung des Kaschmir von Indien, aber den Anschluss an Pakistan. Immerhin besteht eine lange Tradition und noch ein großer Massenzuspruch für die ‚Asadi’ (Unabhängigkeit). Sie wollen die Loslösung der Kaschmirregion sowohl von Indien wie auch von Pakistan und die Vereinigung in einem separaten souveränen Staat.

Die Forderung nach Selbstbestimmung und, wenn frei und demokratisch ausgedrückt, nach Unabhängigkeit ist fortschrittlich, und alle SozialistInnen sollten sie gegen die indischen und pakistanischen Annexionisten unterstützen. Weder ‚religiöse’ noch ‚historische’ Ansprüche eines Landes dürfen diese Wünsche des Kaschmir-Volkes negieren.

Wie können die Massen entscheiden, ob sie in einem unabhängigen Staat leben wollen oder sich Pakistan anschließen? Hierfür fordern SozialistInnen die Wahl einer souveränen Verfassung gebenden Versammlung, um die Zukunft Kaschmirs bestimmen zu können. Diese revolutionär demokratische Forderung könnte den Ausschlag geben für die Vereinigung der Massen zu einem gemeinsamen demokratischen Ziel.

Perspektive

Doch dann würde sofort die Frage entstehen, welche Gestalt ein unabhängiges Kaschmir annehmen soll. Wird eine neue Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse herrschen und die Massen unterdrücken oder eine freie Republik der Arbeiter und Bauern entstehen? SozialistInnen treten natürlich für die zweite Perspektive ein.  Eine solche Arbeiter- und Bauernrepublik Kaschmir wäre isoliert allerdings nicht lange von Bestand.

Für Kaschmiri SozialistInnen ist es elementar, Schulter an Schulter mit ihren Klassengeschwistern in Indien und Pakistan zu kämpfen. Für indische und pakistanische SozialistInnen ist die Verteidigung des Rechts auf Abtrennung von ihren Staaten, falls so gewünscht, die Grundlage des Internationalismus. Ein freies Kaschmir muss sich gegen die überlegenen Truppen des indischen und pakistanischen Staates wehren und die Isolation und wirtschaftliche Unterentwicklung verhindern. Das Ziel muss sein, die sozialistische Revolution permanent zu machen, den Kampf der Massen nach Indien und Pakistan hinein zu tragen. Eine sozialistische Staatengemeinschaft auf dem ganzen indischen Halbkontinent muss angestrebt werden.

Eine wichtige Lehre der palästinensischen Intifada ist, dass die Massen sich in Aktionsausschüssen in Städten und Dörfern organisieren und über die Perspektive des Kampfes entscheiden. Nur so können sie vermeiden, von kleinbürgerlichen öder bürgerlichen Kräften, denen es an einer sozialistischen Zielsetzung mangelt, in die Niederlage geführt zu werden.

Partei

Das dringende Gebot der Stunde ist der Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei als Teil der 5.Internationale. Eine solche Partei wird die klassenbewusstesten ArbeiterInnen und Jugendlichen zusammenführen und für die brennenden sozialen und demokratischen Forderungen kämpfen. Sie wird auch versuchen, der Bewegung eine Perspektive der Massenaktion, eines unbefristeten Generalstreiks und des bewaffneten Aufstands zu geben. Die revolutionäre Partei wird die Nationalchauvinisten, politischen Islamisten und hinduistischen Chauvinisten bekämpfen sowie alle Tendenzen, die die internationale Unterstützung und die Ausbreitung des Kampfes auf die indischen und pakistanischen Massen untergraben wollen. Für diese Perspektive setzen sich die Liga für die 5.Internationale und die Revolutionäre Sozialistische Bewegung ein:

- Für den sofortigen und  völligen Rückzug aller indischen und pakistanischen Kräfte aus dem Kaschmir

- Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung des Kaschmir-Volkes einschließlich des Rechts auf Bildung eines unabhängigen Staates

- Für die Wahl einer souveränen Verfassung gebenden Versammlung, die über die Zukunft des Kaschmir befindet

- Für die Freilassung aller politischen Gefangenen im Kaschmirkampf

- Für das Recht auf Rückkehr aller von indischen oder pakistanischen Sicherheitstruppen vertriebenen Kaschmiri in ihre Heimat

- Für Arbeiter- und Bauernrepubliken in Indien, Pakistan und Kaschmir

- Für eine sozialistische Föderation von Südasien

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