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Frankreich:

Aufstand der Vorstädte

Infomail 232, 8. November 2005

Seit über einer Woche toben in mehreren Pariser Vororten und anderen französischen Städten Straßenschlachten: Barrikaden werden errichtet, Müllcontainer werden angezündet, Autos stehen in Flammen, Schaufenster gehen zu Bruch. Am Tage schleppt sich das Öffentliche Leben noch so dahin, nachts ist Bürgerkrieg.

Die Bilder in den Medien erinnern an Gavroche, den jugendlichen Barrikadenhelden aus dem Roman „Die Elenden“ von Victor Hugo. Die Revoltierer sind Gangs aus Jugendlichen überwiegend nordafrikanischer Herkunft, die meisten aber schon in Frankreich geboren.

Erster Anlass für die Ausbrüche von Gewalt war der Tod zweier Jugendlicher, die auf der Flucht vor der Polizei in ein Trafohaus geflüchtet waren und dort einen Stromschlag erlitten. Diese Episode war nur eine Eskalation des permanenten Kleinkriegs zwischen der Polizei und den Jugendlichen, die sich oft mit Kleinkriminalität oder illegalem Handel durchschlagen müssen. Die Ursachen der Unruhen in den Vorstädten, die seit Jahren immer wieder aufflackern, liegen freilich tiefer.

Die Pariser Vorstädte sind Beton-Gettos ähnlich denen von Berlin-Marzahn oder Berlin-Gropiusstadt. Dort wohnen vor allem ImmigrantInnen, oft Nachkommen von AlgerierInnen, die nach Ende des Kolonialkrieges nach Frankreich gekommen waren. Keine Regierung hatte in den Jahrzehnten ernsthaft versucht, diesen Menschen eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. So verstärkten sich die Tendenzen der sozialen Desintegration immer mehr: schlechtere Bildung, weniger Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, Separierung und Gettoisierung des sozialen Lebens der ImmigrantInnen.

In den letzten Jahren hat sich deren Lage durch die diversen Sparprogramme der Regierung weiter verschlechtert. Die Ausgaben für Schulen, Jugendeinrichtungen, soziale Unterstützungen usw. wurden gerade in den Pariser Randbezirken gekürzt. Das Gefühl der Jugendlichen dort, Menschen zweiter Klasse zu sein, nicht gebraucht zu werden, überflüssig zu sein, hat handfeste soziale Ursachen. Arbeitslosenraten um die 40% sind keine Seltenheit.

Hinzu kommt die politische Krise der herrschenden Klasse in Frankreich – das NEIN beim EU-Referendum, die Streiks und Blockaden korsischer und französischer Hafenarbeiter, der landesweite Massenstreik im Oktober und die Planung eines weiteren Aktions- und Streiktages im November.

Sarkozy’s Eskalation

In dieser Situation hat Innenminister Sarkozy die Situation bewusst eskaliert. Nach dem Tod der beiden Jugendlichen inszenierte er seine rassistischen Provokationen in den Vorstädten und im Fernsehen. Die Jugendlichen seien „Gesindel, das man wegpusten müsse“.

Chirac und De Villepin ließen verlauten, dass man sich in der Sprache mäßigen müsse – und überließen Sarkozy das Feld. SP-Chef Hollande forderte Sarkozy’s Rücktritt – jedoch nur solange, wie sich die Aufstände noch nicht ausgeweitet hatten.

Die Regierung hat deutlich gemacht, dass sie die Jugendrebellion mit allen Mitteln niederschlagen und nun die Notstandsgesetze aus der Zeit des Algerienkriegs in Kraft setzen will.

Zugleich werden über die Medien gezielt rassistische Lügen verbreitet. Der Aufstand der Jugend soll als sinnlose Krawallmacherei oder „bestenfalls“ als Ausdruck von Empörung gesehen werden, „der jetzt jedoch beendet werden müsse“. In dieser Situation stimmt auf die oppositionelle SP damit überein, dass die Hauptaufgabe die „Wiederherstellung der Ordnung“ sein müsse, um dann die Jugend mit Knüppel, Sozialarbeit und leeren Versprechungen zu befrieden.

Vor allem aber geht es darum, die Mittelschichten und Teile der Arbeiterklasse mit der „Angst vor dem Chaos“ und durch rassistische Hetze auf die Seite der Unterdrückung zu ziehen, um die Lohnabhängigen zu spalten und den eigenen sozialen Frust auf die „Fremden“ zu projizieren.

Eine landesweite Rebellion

In Wirklichkeit handelt es sich bei der Bewegung nicht um Aktionen einzelner „Jugendgangs“. Es handelt sich um eine landesweite Rebellion, um einen Aufstand der Vorstädte, der sich auf die Masse der überwiegend migrantischen Jugendlichen vor allem aus subproletarischen Schichten stützt und die Sympathie der Mehrheit der BewohnerInnen dieser Vorstädte genießt.

Sarkozy hatte spekulierte, dass die von ihm provozierten Jugendlichen in den Pariser Vorstädten isoliert blieben, dass er sie tatsächlich ohne landesweiten Widerstand mit schweren Polizeieinheiten „säubern“ und niedermachen könne. Diese Rechnung ging nicht auf. Er spielte mit dem Feuer – jetzt brennt es.

Der Aufstand ist ein spontaner Versuch, eine Art Aufruhr, um sich gegen den staatlichen Rassismus, gegen die Massenarbeitslosigkeit und gegen die Verelendung zur Wehr zu setzen. Deshalb hält er seit fast zwei Wochen an und wird auch weitergehen – trotz der massiven Repression und der Inhaftierung von weit über 1000 Jugendlichen.

Es ist eine reaktionäre Lüge, dass es sich um „blindwütige Krawallmacher“ handeln würde. Die meisten Aktionen, von denen berichtet wird, wenden sich gegen die Polizei. gegen die Brennende Autos und Barrikaden sind das unvermeidliche Nebenprodukt jedes Straßenkampfes. Solche „Vorwürfe“ laufen darauf hinaus, den Jugendlichen vorzuwerfen, dass sie sich gegen die hochgerüsteten französischen Cops zu Wehr setzen.

Eine andere Aktion der Jugendlichen (und wohl nicht nur von Jugendlichen) ist die Plünderung von Supermärkten. Die bürgerliche Presse ist empört über diesen „Vandalismus“, darüber, dass die Hungernden ihren Hunger stillen.

Die von den Jugendlichen artikulierten Forderungen, die im Grunde alle auf die nach sozialer und politischer Gleichberechtigung hinauslaufen, stehen in einem, auf den ersten Block krassen Gegensatz zu den Kampfformen, die jedoch das tiefe Ausmaß angestauter Wut, die Desillusionierung über Staat und Politik und die Bereitschaft zu kämpfen ausdrücken.

In dem, was oberflächlich als „Vandalismus“ und „Krawallmacherei“ bezeichnet wird, zeigt sich der Charakter des Aufstandes als einer spontanen Emeute, einer Art Aufruhr, die sich gegen die staatliche Ordnung richtet, diese vor Ort herausfordert, der es jedoch auch (noch) an einer politischen Perspektive und Organisierung fehlt.

Die bürgerliche Presse und „Migrationsforscher“ versuchen, den Aufstand in rassistischer Manier als „islamistische“ Aktion darzustellen. Das ist nicht nur lächerlich. Es wird dabei auch die Haltung der islamischen Organisationen in Frankreich vollkommen ausgeblendet – diese unterstützen nämlich die Regierung und nicht die Jugendlichen. So hat die den Moslembrüdern nahe stehende „Union der islamischen Organisationen Frankreichs“ (UOIF) sich in einer Fatwa gegen die Aufständischen ausgesprochen, d.h. ihnen mit religiöser „Verdammung“ gedroht, falls sie den Aufstand nicht beenden!

Zweifellos gibt es bei den Kämpfen auch Aktivitäten Einzelner oder von Gangs, die nicht die Polizei treffen, sondern andere BewohnerInnen der Vorstädte. Solche Akte werden von der Polizei und der Rechten nur zum Vorwand für die Repression oder die Forderung nach reaktionären Bürgerwehren genommen.

Anstatt dieser reaktionären „Lösungsversuche“ ist es notwendig, den spontanen Rebellionen eine organisierte, koordinierte Form zu geben – durch den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees, die den Widerstand gegen die Polizei koordinieren und Verbindung zur organisierten Arbeiterbewegung und zur Linken herstellen.

So kann die von der Regierung beabsichtige Isolierung der Jugend und die Vertiefung der rassistischen Spaltung der Gesellschaft verhindert werden, indem der Aufstand in den Vorstädten mit dem Kampf gegen die Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme, gegen die Privatisierung, mit dem Kampf für ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Kontrolle der Beschäftigten verbunden wird.

Verteidigt die Jugend!

De Villepin, Chirac, Sarkozy setzen – bei allen Differenzen in der Rhetorik – alles daran, diese Bewegung niederzuschlagen, zu isolieren und die Mehrheit der französischen Bevölkerung dafür zu gewinnen.

Mögen sie auch versprechen, irgendwann Jobs zu schaffen und Legionen von Sozialarbeitern und Lehrern in die Vororte zu bringen – zunächst schicken sie nur 10.000 Polizisten.

Gegen die Polizeiangriffe ist es notwendig, die spontane Rebellion zu einer organisierten Bewegung zu entwickeln, welche die Selbstverteidigung in den Wohnvierteln organisiert.

Solche Selbstverteidigungskomitees müssen von der Arbeiterbewegung, von der französischen Linken, von den Komitees gegen die EU-Verfassung unterstützt werden!

Vor allem aber muss die Arbeiterbewegung die Solidarität mit den Jugendlichen in den Vorstädten in die städtischen Zentren tragen - mit Massendemonstrationen unter folgenden Forderungen:

Rücknahme der Notstandsgesetze!

Sofortiger Rückzug der Polizei aus den Vorstädten! Sofortige Freilassung aller festgenommenen Jugendlichen!

Aufbau von Selbstverteidigungskomitees gegen die Angriffe!

Sofortiger Rücktritt Sarkozy`s und Untersuchung der rassistischen Provokationen der Polizei und der Regierung durch die Arbeiterbewegung und Migrantenorganisationen!

Die Verteidigung der Revolte in den Vorstädten steht nicht nur vor der Aufgabe des gemeinsamen Kampfes gegen Staat und Kapital. Sie muss auch verbunden werden mit einer landesweiten Kampagne für den Aufbau einer unabhängigen, revolutionären Jugendorganisation, die die Jugendlichen der Vorstädte, die jungen ArbeiterInnen und BilligjobberInnen, die SchülerInnen und Studierenden umfasst!

Die Rebellion der Jugend, die Koordinierung des gemeinsamen Widerstandes und Kampfes gegen die Regierung verweist jedoch auch und vor allem auf die Frage des Aufbaus einer neuen revolutionären Arbeiterpartei, einer politischen Organisation der Klasse, die BewohnerInnen der Pariser Vorstädte ebenso umfasst wie die korsischen Hafenarbeiter.

Der Aufstand der Vorstädte speist sich aus der zunehmenden Zerstörung des sozialen Zusammenhangs, der fortschreitenden sozialen Polarisierung, der Deklassierung immer größerer Teile der Gesellschaft in Folge der Krise des Kapitalismus und der neoliberalen „Lösungsversuche“. Die brennenden Mülltonnen in den Betonwüsten um Paris sind ein Fanal!

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