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Der DGB am Ersten Mai

Kampftag oder Tag der Sozialpartnerschaft?

Martin Suchanek, Neue Internationale 219, Mai 2017

An einen Kampftag erinnert wenig. Die DGB-Gewerkschaften werden sicher auch dieses Jahr wieder Hunderttausende unter dem Motto „Wir sind viele. Wir sind eins“ zu Aufmärschen samt anschließender Bratwurstverkostung mobilisieren.

Aufruf

Anders noch als zu Beginn des Jahrhunderts, als Schröders Agenda 2010 die Bindung zur SPD und damit auch zur Regierung tief erschütterte, zeigen sich die Gewerkschaftsführungen selbstzufrieden. Mit der Sozialdemokratie sind sie wieder im Reinen. Die Regierung und die „Arbeitgeber“ wissen sie als „Sozialpartner“ wieder zu schätzen. Tarifliche Auseinandersetzungen folgen wieder einem jahrlang eingeübten Ritual, das allenfalls von einigen Spartengewerkschaften oder bei schwer regulierbaren Konflikten zeitweilig durchbrochen wird. Selbst eine Krise wie bei VW oder der Verkauf von Opel gehen bisher ruhig und geordnet über die Bühne. GewerkschaftsvertreterInnen und Betriebsratsspitzen sind für Außenstehende vom Management kaum noch unterscheidbar.

Natürlich gibt es auch in Deutschland und der Welt noch viel zu verbessern. „Ob auf dem Arbeitsmarkt, bei der Rente, bei der Krankenversicherung, bei den Löhnen - es geht nicht gerecht zu in Deutschland.“

Angesichts solcher Erkenntnisse legt der DGB auch wieder ein Reformprogramm auf, das die bestehende Wirtschaftsordnung und damit die Ursache der „Gerechtigkeitslücke“ nicht antastet. Es soll aber „soziale Gerechtigkeit“ garantieren, die die „Würde des Menschen auch in der Arbeitswelt respektiert und schützt.“

Eigentlich verlangt der DGB politische und soziale Wunder in einer Gesellschaft, die auf Ausbeutung beruht. Beim Aufruf zum Ersten Mai geht es freilich nicht um theoretische oder analytische Stimmigkeit, sondern vor allem um die feierliche Begleitmusik zu einer Gewerkschaftspolitik, die vor allem auf „Partnerschaft“ und „Kooperation“ mit Kapital und Staat setzt.

Sozialpartnerschaft

So „kritisch“ die Bilanz der Zustände beim DGB auch ausfallen mag - der eigenen Politik und gesellschaftlichen Rolle stellen die Gewerkschaften ein gutes Zeugnis aus. Das Abrücken der SPD von Teilen der Agenda 2010 begrüßen sie - über das Mitmachen bei den Hartz-Gesetzen hüllen sie den Mantel des Schweigens.

Dabei wäre das „Exportwunder“ des deutschen Kapitals ohne die moderate Lohnpolitik zu Beginn dieses Jahrhunderts und ohne massive Ausweitung des Billiglohnsektors überhaupt nicht möglich gewesen.

Zweifellos haben die Stärke des deutschen Großkapitals und seine Fähigkeit, andere europäische Länder - insbesondere jene des Südens und Ostens - über EU und Euro zu einem vom deutschen Kapital kontrollierten Ausbeutungsgebiet zu machen, dazu beigetragen, dass der deutsche Kapitalismus relativ gut aus der ökonomischen Krise kam. Von 2002 bis 2010 sanken die Reallöhne im Durchschnitt um fast 6 Prozent. Seit der konjunkturellen Erholung nach der großen Krise - also von 2010 bis 2017 - erholten sie sich zwar wieder um 11 Prozent je Beschäftigten (diese und folgende Zahlen aus ISW-Report „BILANZ der Großen Koalition 2013 -2017“).

Angesichts von Rekordgewinnen der Großkonzerne änderte das freilich nichts an einer weiteren Umverteilung zugunsten der KapitalistInnen und großen VermögensbesitzerInnen.

Vor allem konnte die Lohnspreizung, die zunehmende Kluft innerhalb der ArbeiterInnenklasse nicht gestoppt werden. Das liegt vor allem an der Zunahme der „Working Poor“ in Deutschland, also jener Lohnabhängigen, die trotz eines oder mehrer Jobs in Armut leben müssen. Der kontinuierliche Anstieg der Armutsquote von 14 Prozent im Jahr 2006 auf 15,7 Prozent 2015 bei gleichzeitigem Fall  der Arbeitslosenquote von 10,8 (2006) auf 6,4 Prozent (2015) verdeutlicht das.

Angesichts der Einkommenseinbußen, des Abbaus von staatlichen und Sozialversicherungsleistungen, der Verteuerung von Wohnraum, Kinderbetreuung, Bildungswesen, Altersvorsorge und Gesundheit für die Masse der Bevölkerung hat sich die Lage der arbeitenden Menschen verschlechtert. Die „Gerechtigkeitslücke“ ist größer geworden.

Die DGB-Gewerkschaften verschweigen angesichts dieser Bilanz jedoch vor allem, dass sie selbst in mehrfacher Hinsicht eine Mitverantwortung für diese Verschlechterung tragen.

Erstens reden sie die reale Lage selbst schön. Das betrifft nicht nur Unterlassungen der Gewerkschaftspolitik. 2016 und auch 2017 konnten zwar Entgeltzuwächse herausgeholt werden. Sie blieben aber allesamt im Rahmen der Margen, die für das Großkapital verkraftbar sind. Im Gegenzug wird sozialer Frieden und Partnerschaft garantiert. Selbst solche Kampagnen wie bei Amazon sind weit davon entfernt, eine Ausnahme der Gesamtstrategie darzustellen - hier geht es vielmehr darum, die sozialpartnerschaftliche „Kultur“ auch bei „abweichenden“ Konzernen durchzusetzen.

Einer „Wettbewerbspartnerschaft“ verschließen sich die deutschen Gewerkschaften und Betriebsratsvorsitzenden nicht nur nicht - sie fordern sie geradezu ein, legen ihre eigenen Vorschläge für „Wettbewerbssicherung“ vor und sind dafür zu weiteren „Produktivitätssprüngen“, also weiterer Arbeitsverdichtung und Flexibilisierung bereit.

Die Tarifverträge gelten realiter für immer weniger Lohnabhängige, die Anzahl der „einvernehmlichen“ Ausnahmen, von „freiwilligen“ Betriebsvereinbarungen steigt kontinuierlich weiter.

Eine Folge dieser Politik ist die Vertiefung der Spaltung von Belegschaften und Beschäftigtengruppen, an der z. B. die IG Metall selbst eifrig mitwirkt. So wurde im Frühjahr 2017 ein Tarifvertrag vereinbart, der die Dauer der Beschäftigung von LeiharbeiterInnen in einem Betrieb für bis zu 48 Monate (bislang 24) erlaubt. Dies ist eine Verschlechterung gegenüber der Gesetzeslage, die 18 Monate vorsieht und  ihrerseits die „freiwillige Zustimmung“ der Betriebsräte zu Ausnahmen gestattet. Die LeiharbeiterInnen selbst werden erst gar nicht gefragt - ganz abgesehen davon, dass der „Freiwilligkeit“ vom Sklavenhändler ohnedies besonders enge Grenzen gesetzt sind.

Dies ist nur ein aktuelles Beispiel dafür, was Gewerkschaftsführungen, was Apparat und Bürokratie unter „Ausgestaltung“ verstehen, ein Beispiel für den realen Gehalt des Systems der „Mitbestimmung“. Es ist auch ein Beispiel für die „hartnäckige Reformpolitik“ - höchstens kleine Verbesserung an großen Angriffen, meist erkauft mit neuen größeren Verschlechterungen und alles schön geredet.

Staat, Sozialdemokratie und Gewerkschaften

In den Jahren seit der großen Krise wurde der Korporatismus in Deutschland gerade im Bereich des industriellen Großkapitals wieder massiv gestärkt. Gewerkschaften und Betriebsräte sind enger in die Regulierung der Arbeitsverhältnisse in diesen Kernsektoren der Mehrwertproduktion eingebunden. Sie stützen sich dabei auf eine - im Vergleich zur Masse der Beschäftigten - relative privilegierte „Aristokratie“ der ArbeiterInnenklasse. Diese schrumpft zwar, aber sie stellt noch immer einen großen Teil der IndustriearbeiterInnenschaft gerade in Schlüsselsektoren dar (Autoindustrie und Zulieferer; Chemie; Energieversorgung, Maschinenbau ...).

Vor allem ist es der Bereich, wo die ArbeiterInnenbürokratie in Betriebsräten und Gewerkschaften am klarsten den Takt vorgibt.

Der quasi-natürliche Ausdruck dieser Schicht ist auf politischer Ebene die Sozialdemokratie. Es ist kein Wunder, dass Schulz und die „neue“ SPD sich wieder stärker darauf beziehen. Niemand sollte sich in diesem Zusammenhang von der „politischen Neutralität“ der „Einheitsgewerkschaft“ täuschen lassen. Im Kern sind die DGB-Gewerkschaften sozialdemokratische Richtungsgewerkschaften, die andere Parteien (CDU/CSU und Linkspartei, früher auch die DKP) über Apparatsposten integrieren.

In den letzten Jahren sind die Verbindungen zur SPD wieder stärker geworden. Das hat z. T. mit ihr selbst zu tun, da sie sich „sozialer“ gibt. Die engere Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Konzernbetriebsräten mit „ihrem“ Unternehmen bildet aber auch selbst einen Nährboden für die Klassenzusammenarbeit auf politischer Ebene. Und schließlich erlaubt auch die konjunkturelle Entwicklung moderate Lohnerhöhungen, die in Großunternehmen auch noch durch Boni ergänzt werden.

In jedem Fall ist dieses Verhältnis eine entscheidende Ursache für die relative Stabilität des deutschen Imperialismus und auch für die Separierung der organisierten ArbeiterInnenklasse in den Großbetrieben von der „radikalen Linken“. Auch diese wurde in den letzten Jahren verschärft.

Linkspartei?

Die Linkspartei spielt dabei eine unrühmliche Rolle. Sie ist zwar in der Lage, Konferenzen wie zum Streikrecht mit hunderten GewerkschafterInnen und FunktionärInnen der mittleren Ebene zu organisieren. Sie stellt auch eine zunehmende Zahl von SekretärInnen, Beschäftigten im Gewerkschaftsapparat und Betriebsräten - sie organisiert sie aber nicht als politische Opposition. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens verfügt sie selbst über kein oppositionelles Programm, keine alternative Strategie. Zweitens besteht ein Aspekt der sozialdemokratischen Arbeitsteilung von „Politik“ und „Gewerkschaftsarbeit“ auch darin, dass die Partei den GewerkschafterInnen nichts vorschreibt, dass auch der „linke“ Betriebsrat „seine“ Betriebsvereinbarung, seine eventuell etwas linkere Version der „Zusammenarbeit“ ohne politische Diskussion oder gar Kontrolle durch seine Organisation durchzieht.

Eine klassenkämpferische Betriebs- und Gewerkschaftspolitik müsste aber gerade auch das in Frage stellen - und das will die Linkspartei auf keinen Fall, nicht zuletzt, weil sich damit unwillkürlich auch die Frage nach der Kontrolle von Abgeordneten, politischen MandatsträgerInnen oder gar Regierungsmitgliedern durch die Basis erheben würde.

Die sozialpartnerschaftliche Politik erschöpft sich natürlich nicht in der Bindung an die SPD. Klassenkollaboration gibt es nicht nur im Betrieb und bei „industriepolitischen Initiativen“. Auch im Kampf gegen Rassismus setzen die Gewerkschaften vor allem auf die Zusammenarbeit mit Staat und Unternehmerverbänden. So organisieren die DGB-Gewerkschaften zusammen mit Kirchen und „Arbeitgeber“verbänden eine „Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, die neben viel demokratischem Gedöns natürlich keine offenen Grenzen, sondern eine „kontrollierte“ Migration, keine gleichen Rechte, sondern gezielte Eingliederung in den Arbeitsmarkt unter Aufsicht von Staat, Gewerkschaften und UnternehmerInnen erfordert. So wird auch die „humanitäre“ Flüchtlingspolitik noch in eine Standortpolitik eingegliedert.

Schließlich zeigt sich der bürgerliche, staatstreue Charakter der Politik der Gewerkschaften gerade darin, worüber sie am Ersten Mai fast gar nicht sprechen - die innerimperialistische Konkurrenz, die Politik des deutschen Imperialismus, die Frage von Krieg, Besatzung, Militarismus. „Verrückt“ und Frieden gefährdend erscheinen allenfalls die anderen. Für die DGB-Gewerkschaften steht der Hauptfeind nicht im „eigenen“ Betrieb - und erst recht nicht im „eigenen“ Land.

Aufbrechen?

Die strategische Frage für die RevolutionärInnen, ja für die gesamte Linke und kämpferische ArbeiterInnenbewegung besteht darin, wie dieser Block, diese über die Gewerkschaftsbürokratie und Reformismus vermittelte Allianz von Kapital und Arbeit aufgebrochen werden kann.

Zweifellos wird das nur begrenzt möglich sein, solange diese Politik über eine Basis in der konjunkturellen Entwicklung verfügt. Bei einer verschärften Krise und wirtschaftlichen Problemen wird sie selbst auf viel breiterer Basis in Frage gestellt werden, auch bei jenen Schichten der Lohnabhängigen, die heute damit relativ zufrieden sind. Das darf aber nicht zu einem passiven Warten auf „schlechtere“ Zeiten führen. Der Aufstieg des Rechtspopulismus und die rassistischen Angriffe zeigen, dass schon heute größer werdende Teile der Klasse, die bei der sozialpartnerschaftlichen Regulierung unter den Tisch fallen (oder zu fallen drohen) nach rechts gehen, während andere in einem Zustand permanenter rassistischer Diskriminierung und Benachteiligung gehalten werden.

So wichtig es ist, die Ursachen und Bedingungen der herrschenden Gewerkschaftspolitik zu verstehen, so wenig reicht die bloße Kritik aus, um sie zu verändern.

Schließlich ist es noch heute so, dass auch in den Gewerkschaften immer wieder Brüche sichtbar werden. So stimmten immerhin rund 40 Prozent der Tarifkommissionsmitglieder in Bayern gegen den Abschluss der IG Metall zur Leiharbeit.

Das zeigt beispielhaft, dass es durchaus Unmut und die Suche nach einer alternativen, kämpferischen Politik gibt. Doch diese ist oft zersplittert und zerstreut.

Die Gewerkschaftslinke, die nach den Hartz-Gesetzen bei Konferenzen hunderte Aktive mobilisieren konnte, ist heute ein Schatten ihrer selbst - nicht, weil es weniger Probleme gäbe, sondern weil sich gezeigt hat, dass Vernetzung, Koordinierung nicht „spontan“ geschieht.

Dazu braucht es erstens politische Kampagnen oder Bündnisse um konkrete Forderungen. Diese müssen keineswegs auf GewerkschafterInnen beschränkt sein wie z. B. für den Aufbau eines anti-rassistischen Bündnisses aus ArbeiterInnenorganisationen (einschließlich der Gewerkschaften), MigrantInnen und Geflüchteten. Aber es ist wesentlich, dass solche Kampagnen einen betrieblichen Schwerpunkt haben, dass es dazu in Betrieben Versammlungen und Strukturen gibt.

Sicherlich könnten dazu nicht nur anti-rassistische Forderungen einen Ansatz bilden. Nicht minder wichtig und sinnvoll wären Forderungen im Kampf gegen die Ausweitung der Leiharbeit und prekären Beschäftigung, um einen Mindestlohn von 12,- Euro oder um eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich.

Zur Durchsetzung solcher Forderungen wäre freilich erstens eine politische Kampagne notwendig und zweitens ein Bruch mit der Politik der Sozialpartnerschaft.

Dazu braucht es aber in den Betrieben und Gewerkschaften selbst eine Kraft - den Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition.

Eine solche Opposition oder Bewegung, das hat auch die Erfahrung gezeigt, wird nicht einfach als Verlängerung ohnedies eher schwach ausgeprägter gewerkschaftlicher Kämpfe entstehen. Im Gegenteil, für ihren Aufbau braucht es einen politischen Kern. Sie ist daher selbst mit einer anderen, letzthin wichtigsten Aufgabe verbunden - dem Aufbau einer revolutionären Organisation, die eine politische und programmatische Alternative zu Sozialpartnerschaft, Klassenzusammenarbeit und Reformismus darstellt.

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