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Brasilien

Gewerkschaftskämpfe weiten sich aus

Interview mit dem Gewerkschafter Périkles da Lima, Neue Internationale 164, November 2011

Ein Jahr nach der Wahl von Präsidentin Dilma befindet sich Brasilien in einer Situation, in der soziale Spannungen und Klassenkämpfe zunehmen. Die Ungleichheit und die Lügen der herrschenden Klasse sind eklatant: Brasilien ist ein reiches Land, hat viele  Ressourcen, landwirtschaftliche Flächen von riesigem Ausmaß und mittlerweile eine hochentwickelte Industrie. Doch anders, als uns die Medien Glauben machen wollen, hat ein Grossteil der Bevölkerung in Brasilien wenig von diesem Reichtum: die Arbeiterklasse ist von zunehmender Prekarisierung und Inflation bedroht, die LandarbeiterInnen leben unter elenden Bedingungen. Die Ärmsten in den Städten werden gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben, um das Bild Brasiliens für die WM und die Olympischen Spiele aufzupolieren.

Vor diesem Hintergrund wächst auch der Widerstand. Die Arbeiterklasse beginnt sich neu zu organisieren und fängt an, die Lügen der Regierung der “Arbeiterpartei” in Frage zu stellen. Im Bildungsbereich haben dieses Jahr viele ProfessorInnen und LehrerInnen für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft. So im August in Juiz de Fora, einer kleinen Stadt im Bundesstaat Minas Gerais in der Nähe von Rio de Janeiro. Die LehrerInnen dort haben, wie in vielen anderen Städten auch, für einen Mindestlohn gestreikt.

Wir hatten die Möglichkeit, ein Interview mit dem Genossen Périkles da Lima zu führen, der in der LehrerInnengewerkschaft aktiv ist und den Kampf an vorderster Front erlebt hat.

Neue Internationale (NI): Ihr, die LehrerInnen in der Halbmillionenstadt Juiz de Fora, habt kürzlich gestreikt. Worum ging es?

P: Es war ein bemerkenswerter Streik, weil die Forderungen der Lehrerschaft hier sich mit denen in ganz Brasilien deckten, zumal alle unter den Bedingungen eines föderativen Gesetzes arbeiten. Durch dieses Gesetz soll ein Mindestlohn für LehrerInnen eingeführt werden, der bei 1.597 Real (rd. 660 Euro) liegt. Die Lehrer verdienen aber derzeit nur 6-700 Real. Das hat Auseinandersetzungen mit etlichen Streiks hervorgerufen, einige dauern schon über 100 Tage.

NI: Wann wurde dieses Gesetz verabschiedet?

P: Es stammt von 2008, der Endphase der Lula-Regierung, wurde aber lange vom Obersten Gerichtshof blockiert, weil einige Gouverneure dagegen geklagt hatten. Erst im April 2011 erklärte es das Gericht für verfassungskonform, so dass es nun in Kraft tritt.  LehrerInnen in ganz Brasilien haben seither Streiks organisiert. Wir haben ein Gesetz, dieses Gesetz gilt, und wir wollen, dass es angewendet wird. Das ist die gemeinsame Grundlage unserer Aktionen.

Aber ist das Vorgehen der nationalen Leitung des Gewerkschaftsverbandes CUT ist hinderlich. Er sollte doch eigentlich Kämpfe zusammenfassen und einen allgemeinen Streik überall im Land ausrufen. Aber stattdessen wandten sie eine Nadelstichtaktik an, ließen nur hier und da und zeitlich getrennt streiken. Sie verhandelten auch nicht mit der Regierung, damit das Gesetz zentral angewandt wird. So konnten die Gouverneure und Bürgermeister die Streiks nacheinander niederwerfen. Dabei bedienten sie sich insbesondere der Gerichte, die die Kampfmaßnahmen für ungesetzlich erklärten und der Gewerkschaft hohe Geldbußen auferlegten. In Juiz de Fora verhandelte die Stadtverwaltung nach 20 Streikttagen immer noch nicht mit der Gewerkschaft, zog vor Gericht, forderte eine Strafe von 50.000 Real für jeden Streiktag ein und drohte mit Entlassung der LehrerInnen. So endete der Streik, ohne auch nur etwas erreicht zu haben.

Was war aber die positive Seite an unserem Streik? Zunächst einmal waren wir imstande, den KollegInnen klar zu machen, dass es ein Gesetz gibt, dessen Einhaltung wir einfordern müssen. Die LehrerInnen waren sehr empört über das Verhalten der Stadtverwaltung. Sie haben den Streik zwar abgebrochen, wollen aber eine neue Bewegung entfachen. Der Kampf soll nun härter geführt werden. Nun fangen die Leute auch an, ihre Forderungen selbst zum Ausdruck zu bringen und sich zu organisieren. Das Klassenbewusstsein der Lehrerschaft erhöht sich. Anfangs nahmen 85% der KollegInnen in Juiz de Fora am Streik teil, dann sogar 90%, später sank ihre Zahl wieder auf 75%. Sonst sind es bei Aktionen höchstens 70% und gegen Ende findet ein größeres Abfallen auf unter 50% statt.

Auch die Versammlungen waren gut besucht, viele haben das Wort ergriffen. Wir hatten etliche Demonstrationen. Dieser Streik konnte auch den Arbeitern vermittelt werden. Eltern und Schüler unterstützten die Lehrer.

Heute bereuen Präsidentin Dilma und ihr Kabinett wahrscheinlich den Erlass dieses Gesetzes durch die Lula-Regierung, weil so eine Streikwelle ausgelöst wurde. Die jetzige Regierung sieht eine Krise in Brasilien heraufziehen, und die kommt schnell, mit Streiks von Nord nach Süd. Dilma muss entsetzt sein über diese Gefahr, denn damit hat sie zu Beginn ihrer Amtszeit bestimmt nicht gerechnet.

NI: Haben die Gouverneure der Regierungspartei PT dem Gesetz Genüge getan?

P: Natürlich nicht. Sie haben ebenso wie die rechten Provinzchefs die Gerichte bemüht, die Illegalisierung von Streikmaßnahmen gefordert, die Verträge der LehrerInnen aufgehoben, die Lohnauszahlung unterbunden und haben keine Gelegenheit ausgelassen, den Streik zu brechen.

NI: Wie sind die Gewerkschaften nach innen hin aufgestellt. Wer entschied über den Abbruch des Streiks? Ist dazu eine Versammlung abgehalten worden?

P: Der Beschluss wurde auf einer Versammlung mit 800-1.000 TeilnehmerInnen mit großer Mehrheit gefällt. Davor wurde auf 4-5 Versammlungen beraten, ehe die Entscheidung getroffen wurde. Wenn wir den Streik nicht ausgesetzt hätten, wäre dies ein Vorwand für die Justiz gewesen, die Gewerkschaft zu ruinieren, weil die Aktion für gesetzeswidrig erklärt worden war. Die Geldbuße hätten wir nicht zahlen können, und am Ende wären die Lehrer entlassen worden. Ohne den organisatorischen Rahmen wäre es uns schwer gefallen, die KollegInnen danach wieder zu Kampfmaßnahmen zu bewegen. Der Kampf für den Mindestlohn wird fortgesetzt. Wir leiten jetzt einige gerichtliche Schritte gegen den Stadtrat ein. Wahrscheinlich zu Beginn des kommenden Jahres ist ein neuer Streik geplant. Wir brauchen diese Erholungspause, um mit neuem Schwung weiter machen zu können.

NI: Auf landesweiter Ebene ist eine Kampagne zur Ausgabe von 10% des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts für Bildung im Gange. Wie steht ihr dazu?

P: Das ist eine breit angelegte Kampagne, die von der CUT angestoßen wurde und an der sich der Nationale Verband der Lehrenden, andere Gewerkschaftsverbände wie Conlutas und Intersindical genau wie Parteien, z.B. die PSTU, beteiligen. Unsere Gewerkschaftsleitung glaubt ebenso wie ich, dass diese Kampagne nützlich sein kann als unmittelbare Forderung. Aber sie ist keine Lösung auf Dauer, weil bei einer Wirtschaftskrise, der globalen Kapitalismuskrise, das Bruttoinlandsprodukt eines Staates schnell schrumpfen kann, und damit würde natürlich auch die Summe der Aufwendungen für das Bildungswesen sinken. Gegenwärtig jedoch gibt die Regierung nur 4,5% dafür aus. Nichtsdestotrotz hat die Kampagne einen hohen Mobilisierungswert, und man kommt mit den Beteiligten, auch ArbeiterInnen und Eltern ins Gespräch über die begrenzte Perspektive der Forderung, dass wir mit dem Geld auch die Qualität der Schulen in Brasilien steigern müssen ebenso wie die Löhne der LehrerInnen sowie Schulgebäude und Infrastruktur.

NI: Letzte Frage: Wie denkst Du über die Politik der CUT-Gewerkschaft?

P: Dazu müssen wir uns mit ihrer Geschichte beschäftigen. Sie wurde als von Regierung und Bossen unabhängige Einrichtung gegründet. Als RevolutionärInnen in diesem Verband verteidigen wir diesen Grundsatz. Die Mehrheit der CUT-Mitgliedschaft steht zu rund 95% der PT nahe. Sie repräsentieren verschiedene Strömungen dieser Partei. Die Hauptlinie folgt dem Regierungskurs. Wenn jemand in der ersten Amtszeit Lulas den Präsidenten kritisierte, wurde er als Sektierer abgestempelt. Dies machte sich auch unheilvoll für die Gewerkschaft bemerkbar. Eine Rentenreform beschnitt Rechte der ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst und legte ein Rentenmindestalter fest. In Lulas zweiter Amtsperiode spaltete sich die PSTU von der CUT ab und gründete den neuen Verband „Conlutas“. Auch die PSOL löste sich heraus und formierte „Intersindical“. In der CUT verblieben vornehmlich die KollegInnen der PT und der PCO (Partei der Arbeitersache), die als kleine Partei aber weitgehend einflusslos in der CUT ist.

Die Anpassungspolitik der CUT gab „Conlutas“ reichlich Anlass, sie als abseits von Kämpfen stehend und als regierungshörig anzuprangern. Daraufhin änderte die CUT ihren Kurs und erhob auf Geheiß der PT plötzlich Forderungen, denn in der Regierung saß nicht nur die PT, sondern auch Vertreter rechter Kreise, zudem tummelten sich im  Parlament viele rechte Fraktionen. Also wurde die CUT von der PT aus ihrer Passivität hochgescheucht. Lula griff bei verschiedenen Gelegenheiten die Gewerkschaften an: „Wir brauchen keine regierungstreuen Gewerkschaften, sie müssen kämpferisch sein.“ Mit kämpferisch meinte er jedoch, Projekte auszuarbeiten und der Regierung Vorschläge unterbreiten, aber eben nicht, Forderungen an sie zu erheben.

Unter Druck allerdings begann die Basis der CUT ihre Führung herauszufordern. Sie stellte Bedingungen, und die Leitung änderte ihren Kurs. Sie übte Selbstkritik, dass sie in Lulas erster Amtszeit eine falsche Politik betrieben hätte. Statt die Regierung blind zu unterstützen, hätte sie die Arbeiterklasse in Bewegung setzen müssen.

Die zweite Lula-Periode erlebte dann eine andere CUT: Sie organisierte verschiedene Märsche nach Brasilia, rief andere Verbände auf, ebenfalls tätig zu werden. Zusammen brachten sie 40.000 Leute auf die Beine. Die dritte geplante Rentenreform musste zurück genommen werden wegen der breiten Widerstandsbewegung. Bei der letzten Präsidentschaftswahl unterstützte die CUT im ersten Wahlgang nicht den Lula-Zögling Dilma. Erst in der Stichwahl zwischen Dilma und dem hart rechts positionierten Kandidaten Jose Serra von der PSDB rief die CUT zur Wahl Dilmas auf, nachdem sie sie erfolgreich aufgefordert hatten, ein Programm von Arbeiterforderungen zu unterschreiben. Durch diesen aktiven Wahlkampf wurde Dilma schließlich zur Präsidentin Brasiliens gewählt.

Sie hat bisher jedoch entgegen ihren Beteuerungen dieses Programm nicht umgesetzt, sondern betreibt eine Politik der Privatisierung und der Rentenentwertung. Der Vorsitzende der CUT äußerte in mehreren Interviews seine Enttäuschung darüber: „Diese reaktionäre Politik, Frau Präsidentin, wurde an den Wahlurnen besiegt. Sie wurden von der Arbeiterklasse gewählt und auf ein anderes Programm verpflichtet. Führen Sie dieses Programm aus, wir wollen darüber verhandeln!“ Zunächst empfing sie die CUT nicht zu Verhandlungen, jetzt aber tut sie es, denn sie spürt den Druck der Gewerkschaften. Noch zu Amtsantritt der neuen Regierung erklärte Wirtschaftsminister Mantegna, es sei unmöglich, angesichts der Krise höhere Löhne für die Arbeiterschaft zu verlangen. Artur Henrique da Silva, der CUT-Vorsitzende antwortete darauf, dass die Regierung im Unrecht sei, denn wenn die Löhne nicht stiegen, würde der Binnenmarkt nicht gestärkt. Deshalb müssten die Löhne erhöht werden, damit die Arbeiter mehr Kaufkraft hätten, und die Firmen, die mehr produzieren, würden das Land nicht verlassen. Das ist natürlich kapitalistische Logik. Trotzdem bewegt sich etwas.

Im Augenblick macht die CUT der Regierung Druck und empfiehlt den einzelnen Gewerkschaften, seit August an bestimmten Aktionstagen auf die Straße zu gehen. Nun ergreift die Arbeiterschaft in Banken, Post, der Öl- und Metallindustrie Maßnahmen, sie organisieren Streiks und fordern Reallohnerhöhungen. Die CUT wird von ihrer eigenen Basis angetrieben und in die Auseinandersetzung mit der Regierung gezwungen. Widersprüche tun sich auf innerhalb der CUT und in der PT. Was sich in der PT abspielt, kann ich nicht vorhersagen, da ich kein Mitglied bin. Im Augenblick dringt der Konflikt nicht so sehr nach außen, aber ich weiß von einigen CUT-Mitgliedern, dass sie die PT verlassen wollen, weil die Partei, ihre Parlaments- und Regierungsvertreter die Arbeiter verraten.

Das ist ermutigend für uns. Es zeigt, dass ein Bewußtseinsprozess im Kampf im Gang ist, und das können wir nutzen, um einen Schritt vorwärts zu machen in der CUT und sie weiter zu treiben.

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Nr. 164, November 2011
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