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Oktoberrevolution

Wie der SPIEGEL fälscht

Frederik Haber, Neue Internationale 126, Januar/Februar 2008

Das Nachrichtenmagazin mit dem seriösen Image stellt sich an die Spitze der antirevolutionären Propaganda: Mit einem SPIEGEL-SPECIAL, einem Film in Zusammenarbeit mit dem ZDF und zusätzlichen Artikeln soll demonstriert werden, dass der Oktober 1917 der Auftakt zum Terror war und die Revolution eigentlich keine war.

Etliche Historiker werden bemüht, was dem Projekt einen wissenschaftlichen Anstrich geben soll. Entstanden ist ein teilweise widersprüchliches Gemenge aus Wahrheiten, Halbwahrheiten, Lügen und bürgerlicher Propaganda.

„Experiment Kommunismus“ nennt sich das SPECIAL und in Anzeigen zu diesem Heft wird gleich ergänzt: „gescheitert.“ Das Leitmotiv des ganzen Heftes ist es denn auch, Lenin und Trotzki, die Bolschewiki und die Oktoberrevolution als die Quellen von Krieg, Terror und Hunger hinzustellen. „Ein gigantisches Sozialexperiment, das viele Millionen Menschenleben forderte.“ Im Text werden dazu gleich mal die Toten des Bürgerkrieges, also die Opfer der „weißen“ Konterrevolution und der ausländischen Truppen, den „Roten“ angelastet. Genauso wie die Opfer der folgenden Hungersnot, einer Hungersnot, die schon im Weltkrieg begonnen hatte und die der Bürgerkrieg verschärft hatte.

„Die Industrie-Produktion war auf 12 bis 16 Prozent des Standes von 1912 geschrumpft.“ wird der Historiker Hildermeier zitiert. Der Stand von 1912 war bekanntlich der eines rückständigen Agrarstaates. Man muss kein Kommunist sein, um daraus den umgekehrten Schluss zu ziehen: Wenn das das Erbe des Zarismus, des Weltkrieges und des gegen-revolutionären Bürgerkrieges war, dann war die industrielle Entwicklung der Sowjetunion eine gigantische Leistung.

In der Tat gibt es Hunger in den Nachfolge-Staaten der USSR nach Ende des II. Weltkrieges erst wieder im Kapitalismus. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland ist wenige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, „des wohl schrecklichsten Abschnitt in der Geschichte des Landes“, um rund 10 Jahre gefallen.

Terror

Der Stalinsche Terror nimmt den zentralen Platz des Heftes ein. Hier gibt es keinen Grund für den Spiegel einzelne Fakten zu verfälschen. Entscheidend ist für die Spiegel hier vielmehr, Stalin und seine Bürokratenherrschaft als, wenn auch nicht einzige, so doch als eine logische Konsequenz der Politik Lenins darzustellen.

So erklärt Mettke in seinem Betrag: „so unstreitig Lenin Wegbereiter für Stalin ist, so wenig findet er in Stalin seinen einzig logischen Vollstrecker.“

Auch wenn er den direkten Bezug Lenin-Stalin relativiert, so täuscht auch diese Formulierung: In der Tat ist Stalin nicht der Vollstrecker Lenins, sondern das Gegenteil. Wer Millionen KommunistInnen umbringt und wer die RevolutionärInnen ermorden lässt, vollendet nicht die Revolution, sondern erwürgt sie. Er führt nicht die Bolschewistische Partei weiter, sondern vernichtet sie. Wer die Arbeiterklasse politisch entmündigt, ersetzt die Diktatur des Proletariats durch die Diktatur der Bürokratie. Wer den proletarischen Internationalismus durch den „Sozialismus in einem Land“, die Klassenunabhängigkeit des Proletariats durch die Volksfront ersetzt, wird letztlich zum Agenten des Weltimperialismus, der nicht die sozialistische Weltrevolution, sondern nur seine eigenen Pfründe verteidigt.

Wohin diese Herrschaft führt, hatten Trotzki und die Linksopposition schon früh vorhergesagt: Wenn diese Bürokratie nicht durch eine politische Revolution gestürzt wird, wird sie die Oktobererrungenschaften an die Imperialisten ausliefern und versuchen, sich  zu einer herrschende Kapitalistenklasse zu transformieren.

Der halbherzige Halbsatz von Mettke ist nicht nur falsch - er kann auch gegen die durchgehende, noch weit plumpere Linie des SPECIAL nicht anstinken, Stalin als Lenins Alleinerben zu präsentieren - ganz im Einklang mit der stalinistischen Propaganda. Es ist überhaupt nichts Neues, dass Bürgerliche und Stalinisten hier gemeinsame Interessen haben, die Geschichte auf den Kopf zu stellen.

Was der SPIEGEL an angeblichem Neuen bringt, ist eine ausführliche Dokumentation der Unterstützung der Bolschewiki durch den deutschen Kaiser.

„Die gekaufte Revolution“

heißt die Titelstory der Nr 50, das SPECIAL bringt wortgleiche Passagen und eine DVD liefert den Film mit, den bereits 3Sat ausgestrahlt hat.

„Jahrelang unterstützte das Kaiserreich die Bolschewiki mit Millionen und Logistik“. „Ohne die Hilfe Wilhelms II. für Lenin hätte es die Oktoberrevolution ... so nicht gegeben.“ Lenin war „Revolutionär seiner Majestät“. So vollmundig agitiert der Artikel zu Beginn. Wenn es um Belege für die Zusammenarbeit geht, wird es dünner.

Im Zentrum der Darstellung steht Helphand, ein ehemaliger Revolutionär mit Decknamen Parvus. Es ist seit langem bekannt, dass er im Krieg gute, also schmutzige, Geschäfte gemacht hatte. Deshalb hatten alle linken Sozialisten die politischen Beziehungen zu ihm abgebrochen. Mit Sicherheit hatten auch andere (Ex-)Revolutionäre im Exil Positionen, die es erlaubten, Informationen, Geld oder Publikationen zu transportieren. „Kaum anzunehmen, dass Lenin dieses Netzwerk nicht genutzt hat, um Geld nach Petrograd bringen zu lassen..., “ sinniert der Spiegel. Mit solchen Spekulationen lässt sich freilich alles mögliche beweisen. Vor allem aber: solche Verbindungen nicht zu nutzen, wäre dumm und Dummköpfe sind selten unter revolutionären FührerInnen. Aber was beweist das?

Es gibt offensichtlich Dokumente, dass Helphand die deutsche Regierung um Geld anging, dass er sehr viel erhielt, so am 29.12.1915 etwa eine Million Rubel, und dass er dieses zum Teil selbst behielt. In seinem Plan hatte er „politische Streiks in den Putilow-Fabriken in Petrograd und Arbeitsniederlegungen in Nikolajew in Aussicht gestellt“. Beide Zentren der Rüstungsindustrie waren Hochburgen der Bolschewiki. Auch 10 Millionen Rubel hätten die ArbeiterInnen in diesen Fabriken nicht vom Streik abhalten können.

So müssen die Spiegel-Autoren entgegen ihrem großmäuligen Titel auch eingestehen: „Unter Historikern ist umstritten, in welchem Ausmaß deutsche Zahlungen an die Bolschewiki das Zarenreich destabilisierten“. Und so reduziert sich das ganze „Bündnis mit dem Feind des Feindes“ auf die längst bekannte Tatsache, dass Lenin und andere RevolutionärInnen mit der Bahn durch Deutschland fahren durften. Diese Maßnahme „allein rechtfertigt die These, dass die Bolschewiki ohne deutsche Hilfe nicht im Herbst 1917 an die Macht gekommen wären. Denn der Parteiführer begriff schneller als alle Rivalen, dass sich die Auflösung der russischen Gesellschaft nicht stoppen ließ, wenn man die großen Fragen hinausschob: die Bodenreform, die Regelung der Nationalitätenfrage, die Friedensfrage.“

Damit belegen die Spiegel-„Historiker“ aber vielmehr, wie wichtig die revolutionäre Führung ist: eine Partei(-Führung), die die Prozesse in der Gesellschaft und zwischen den Klassen versteht und die die Massen so anleiten kann, dass der Kampf nicht in blutigen Niederlagen endet, wie leider in so vielen Revolutionen, ob in 1848er Revolutionen, die Pariser Commune, der Novemberrevolution oder Ungarn 1956.

Partei und Klasse

Für den Spiegel sind die Bolschewiki Putschisten, die mit deutschem Geld Revolution machen. Die Petrograder Geheimpolizei wird bemüht: „Eine Krankenschwester sagte aus, sie habe gesehen, wie Bolschewiki Rubelmünzen an Passanten verteilten, um diese für eine Demonstration zu gewinnen.“ Wenn dem so gewesen wäre, hätten Hunderttausende davon wissen müssen. Nicht nur Polizeispitzel, sondern jeder Volontär eines Lokalblattes kann erkennen, wann Demos gekauft sind, wie z.B. die der PIN-Beschäftigten gegen den Mindestlohn. Mit gekauften Demonstranten entmachtet man allerdings nicht die Kapitalisten und Großgrundbesitzer eines Riesen-Landes und schlägt keine konterrevolutionären Armeen. Dazu ist eine revolutionäre Klasse und eine revolutionäre Klassenführung, eine kommunistische Partei, nötig. Genau dies soll die Darstellung unterschlagen, die die Revolution zur Sache von putschenden Abenteurern und geheimdienstlichen „Revolutionsspezialisten“ macht.

Aber jenseits aller Journalisten-Unterstellungen und Geheimdienst-„Wahrheiten“ bleibt die Frage: Waren die Bolschewiki politisch auf der Seite des deutschen Reiches? Wie dieses waren sie für die militärische Niederlage Russlands. War also der Vorwurf ihrer Gegner richtig, dass sie Vaterlandsverräter seien?

Revolutionärer Defätismus

„Proletarier haben kein Vaterland,“ hatte Marx geschrieben. Im Krieg zwischen imperialistischen Mächten, müssen alle KommunistInnen dafür eintreten, den imperialistischen Raubkrieg in einen Krieg zum Sturz der Herrschaft der Kapitalistenklasse zu machen ohne Rücksicht auf die „Verteidigung des Vaterlandes“. „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ sagte Liebknecht.

Hier unterscheiden sich revolutionäre KommunistInnen von SozialdemokratInnen oder ähnlichem, wie z.B. den Stalinisten der KP Frankreich, die auf der Seite des eigenen Imperialismus stehen. Selbstverständlich und bekannterweise haben die deutschen KommunistInnen wie Luxemburg und Liebknecht gegen den deutschen Imperialismus gekämpft und natürlich mit Unterstützung Lenins und Trotzkis. Denn es geht Revolutionären nicht darum, dem „zivileren“ oder „demokratischerem“ Kapitalismus zum Sieg zu verhelfen, sondern die Arbeiterklasse zu orientieren auf den Sturz der eigenen herrschenden Klasse und diese an ihrer Machtbasis im eigenen Land so schwer wie möglich zu schädigen.

Wer wem?

Die zweite Grundsatzfrage lautet: Dürfen Revolutionäre mit Teilen des Klassen-Gegners Bündnisse oder Abkommen schließen? Dürfen sie z.B. Geld nehmen?

„Sicher ist: Für die Revolutionsarbeit brauchten die Bolschewiki Geld.“ Da haben die Spiegel-Experten schlicht recht und das gilt für alle Revolutionen. Meistens haben die Unterdrückten und Ausgebeuteten wenig Mittel. Am Ende des Weltkriegs waren die Petrograder ArbeiterInnen deutlich unter dem Existenzminimum. Da gab's nicht viel Beiträge oder Spenden zu sammeln. Es gibt Berichte über Banküberfälle der Bolschewiki. Hätten sie einige der Kriegsgewinnler ausgeraubt, wäre das politisch und moralisch völlig korrekt. Warum dann nicht Geld der deutschen Regierung nehmen, wenn die welches anbietet?

Zwei politische Konsequenzen müssen dabei ausgeschlossen werden: Erstens dürfen Revolutionäre sich nicht die Hände binden lassen und zweitens darf es ihrer Arbeit nicht schaden.

Auf letzteres haben die Bolschewiki sehr geachtet: Lenin bezahlte die Fahrkarte durch Deutschland aus diesem Grund selbst. Sollten sie wirklich Geld der Deutschen angenommen haben, haben sie dies sehr gut verborgen: erst heute gibt es Indizien.

Politisch - und das ist entscheidend - haben sie sowieso keine Konzessionen gemacht. Sie haben weiter die deutsche Revolution unterstützt, die zwar nicht die Bourgeoisie, aber auf jeden Fall den Kaiser stürzen konnte. Sie haben die deutschen Soldaten an der Front agitiert, was die deutsche Diplomatie bei den Friedensverhandlungen äußerst empörte.

Das unterscheidet die Bolschewiki deutlich von den stalinistischen Bürokraten. Sie haben für das Versprechen von Waffenlieferungen im Spanischen Bürgerkrieg aus England und Frankreich auf die Revolution verzichtet, ja sogar die Revolutionäre bekämpft. Stalin hat im Bündnis mit Nazi-Deutschland die Teilung und Unterdrückung Polens besorgt und dann im für das Bündnis mit den USA gegen Hitler-Deutschland die Kommunistische Internationale aufgelöst. Zugunsten der Absprachen von Potsdam und Jalta, wurde 1945 die Revolution in Griechenland geopfert.

Sollte die deutsche Regierung den Bolschewiki Geld gegeben haben, hat das den Kurs der Russischen Revolutionäre nicht beeinflusst. Ob dieses Geld oder die Fahrt durch Deutschland letztlich ausschlaggebend war, ist müßig.

Hätte der Kaiser und die anderen Imperialisten keinen Weltkrieg angezettelt und vorangetrieben, wäre die Chance auf die Revolution weder in Russland noch in Deutschland entstanden. Hätte die russische Bourgeoisie das Agrarproblem zu lösen vermocht - und das wäre ihre historische Aufgabe gewesen - hätten das Proletariat nicht 1917 an die Macht kommen können.

Aber zu den Gesetzen der Geschichte gehört es, dass der Kapitalismus die Gegensätze zwischen den imperialistischen Mächten verschärft, ebenso wie die Tatsache, dass die Vertreter der untergehenden Klassen einfach unfähig werden. „...wenn die Sonne der alten Gesellschaft sich endgültig dem Untergange zuneigt: aus Organisatoren des nationalen Lebens verwandeln sich die privilegierten Klassen in eine parasitäre Wucherung....ihr Niveau sinkt, die Gefahren nehmen zu.“ (Trotzki)

Dass Wilhelm II. Lenin durch Deutschland fahren ließ, macht nicht Lenin zum „Revolutionär seiner Majestät“, sondern Wilhelm zum nützlichen Idioten des Roten Oktober.

Vielleicht sollen die Spiegel-Ergüsse die Vertreter der herrschenden Klasse warnen, sich ähnlich dumm zu verhalten. Mit Sicherheit sollen sie das Bild der Oktober-Revolution in den Dreck ziehen, denn es gibt ein Problem: „Revolutionäre Bewegungen in verschiedenen Teilen der Welt berufen sich auch 16 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion noch immer auf die kommunistische Tradition.“

Alle, die sich ernsthaft mit dem Widerstand gegen Hunger, Ausbeutung, Unterdrückung und Umweltzerstörung befassen, mit dem Kampf gegen Kapitalismus und Krieg, kommen um die Oktoberrevolution nicht herum, der ersten und einzigen erfolgreichen Räterevolution. „Sogar wenn das Sowjetregime infolge ungünstiger Umstände und Schläge vorübergehend gestürzt werden sollte, der unauslöschliche Stempel der Oktoberumwälzung würde dennoch auf der weiteren Menschheitsgeschichte verbleiben.“ (Trotzki)

Möglich, dass deshalb schon heute die Spiegel-Propaganda mehr Leute für den Oktober interessiert als sie davon abschreckt. Ihnen allen empfehlen wir, selbst weiter zu lesen. Der Spiegel würde dann seinerseits zum nützlichen Idioten.

Anmerkung: Alle Zitate, soweit nicht anders angegeben aus Spiegel 50/07 und SPECIAL NR 4.

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