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BRASILIEN

Widerstand gegen die 'progressive' Lula-Regierung

Infomail 130, 1. August 2003

Erst sechs Monate im Amt, und schon macht sich Ernüchterung breit - bei den Massen, die die neue Regierung Brasiliens gewählt haben.

Luiz Inacio da Silva, besser bekannt unter seinem volkstümlichen Namen Lula, ging als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen 2002/2003 in Brasilien hervor. Als Vorsitzender der brasilianischen Arbeiterpartei PT, aber auch in seiner Eigenschaft als ehemaliger bedeutender Gewerkschaftsführer genoss Lula eine große Beliebtheit und eine entsprechende Erwartungshaltung seiner Wählerschaft, die sich in überwältigendem Maße aus der Arbeiterklasse und der städtischen und ländlichen Armut zusammensetzt.

Seine Wahlversprechen waren pompös: Umverteilung der Einkommen von oben nach unten, eine Million neue Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum durch niedrige Zinssätze, ein Programm 'niemand soll mehr hungern' sowie Freigabe von Bewirtschaftungsflächen zur Stillung des Landhungers der armen Bauern.

Was Lula seine WählerInnen verschwieg: noch vor den Wahlen hat der eingeschworene Arbeiterführer in Geheimverhandlungen mit dem imperialistischen Klassenfeind den Vertretern des Internationalen Währungsfonds die Annahme der Bedingungen, die noch der Vorgänger ausgehandelt hatte, zugesichert. Der 30 Milliarden-Kredit des IWF war mit der Auflage verbunden, die Schuldentilgung von 400 Milliarden bei den imperialistischen Gläubigern pünktlich und regelmäßig abzuwickeln.

Die 'Arbeiterregierung' hat sich in ihrer bisherigen Amtszeit nicht nur als gefügig gegenüber ihren imperialistischen Oberaufsehern erwiesen, sondern in Eigenregie einen Eifer und Erfindungsreichtum bei der Auspressung der Massen an den Tag gelegt, der selbst den gestandenen Hochadel des Finanzwesens in wohlig erstaunte Erregung versetzt. So porträtierte das Time Magazine Lula als 'Brasiliens Blair', und der US-Finanzminister Snow überschüttet ihn mit Komplimenten.

Die neue Regierung zeigt Einsicht in die strukturelle Kapitalistenlogik: um 1 Million Arbeitsplätze zu schaffen, müssen wohl erst eine halbe Million vernichtet werden. Die Arbeitslosigkeit ist auf den offiziellen Höchststand von 12% gestiegen.

Die versprochenen Zinssenkungen, Erleichterungen und Zuschüsse für die arme und arbeitende Bevölkerung blieben aus, ebenso wie ein Antasten der Besitzverhältnisse oder ein leiser Versuch zur Besteuerung der Reichen im Lande, ganz zu schweigen von den internationalen Konzernen.

Stattdessen wurde, um auch etwaiges Misstrauen der besitzenden Klassen zu besänftigen, mit H. Meirelles ein ehemaliger Chef eines US-Bankenkonsortiums auf den Vorsitz der brasilianischen Zentralbank berufen, außerdem bekleiden eine Reihe von kapitalistischen 'Fachleuten' die Chefsessel wichtiger ministerieller Ressorts, wie bspw. L. F. Forla, Minister für Entwicklung, Handel und Industrie oder der frühere Präsident der Agrokapital-Gesellschaft R.Rodrigues, jetziger Landwirtschaftsminister.

Diese illustre Gesellschaft zeichnet verantwortlich für ein Sparprogramm, das die öffentlichen Ausgaben drastisch zurückgeschnitten hat. Die verbliebenen notwendigen Staatsausgaben werden aus den Taschen der Lohnabhängigen bestritten. So werden die Renten teilweise bis zu 70% der letzten Bezüge gekürzt, das Rentenalter wird auf 63 heraufgesetzt, die Ausbildungszeit verlängert, aber nicht voll angerechnet.

Auf perfide Weise wird an die Klassensolidarität appelliert, in Wahrheit werden jedoch klassenspalterische Tendenzen gestärkt, wenn argumentiert wird, dass die Ruhebezüge zu hoch seien im Vergleich mit den Löhnen. Verschwiegen wird natürlich, dass die Erwartungen in Bezug auf Lohnzuwachsraten keineswegs positiv sind. Jetzt wird also wieder in die 'richtige Richtung' umverteilt, nämlich von unten nach oben, bzw. innerhalb der ausgebeuteten Klassen. So bleibt Brasilien Lula sei Dank der Status erhalten, eines der Länder mit der größten Schere in den Einkommensverhältnissen zwischen arm und reich zu sein.

Lula will seine unzufriedener werdende Anhängerschar mit der Durchhalteparole vertrösten, ein bis zwei schwierige Übergangsjahre müssten noch in Kauf genommen werden, dann würde es allen besser gehen. Aber viele lassen sich nicht mehr vertrösten. Sie wollen eine Einlösung der Versprechen und eine Besserung ihrer Elendslage jetzt, weil sich die Existenzfrage für sie so unmittelbar stellt, dass sie keine 2 Jahre mehr warten können. Und sie handeln selbst...

So wie die ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst, die einen Streik entfesselt haben, an dem 500.000 Beschäftigte teilnahmen. Und dies geschah trotz allerhöchster Intervention durch Lula, trotz Ausschlussdrohung gegen einige PT-Mitglieder, die sich gegen das Rentengesetz aussprechen wollten und trotz der massiven Unterstützung durch die gesamten Spitzenbürokratie des Gewerkschaftsverbandes CUT für die Regierungspläne.

Doch auch von anderer Seite regt sich Widerstand. Neben der Landknappheit herrscht auch Knappheit an Wohnraum in Brasilien. Der Fall einer Landbesetzung auf einem lange brachliegenden ehemals vom deutschen Volkswagen-Konzern genutzten und gehörenden Gelände in der Nähe von Sao Paulo macht in diesen Tagen Schlagzeilen.

Das 170.000 qm große Areal wird von derzeit 4000 Obdachlosen besetzt gehalten. Ihr Schicksal deckt beispielgebend die Verhältnisse in der zehngrößten Volkswirtschaft der Erde auf.

In Brasilien gehört die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche den Großgrundbesitzern, die aber nur 1% der Landbevölkerung ausmachen. Während viele Latifundien oft brach liegen, haben Kleinstbauern kein Land und schon gar nicht genug zu essen. Das Elend treibt sie seit Jahrzehnten zu Millionen in die großen Städte.

Der Journalist E. Rappold berichtet, dass selbst eine Vertreterin des Städtebauministeriums einräumte, daß eine menschenwürdige Unterkunft in Brasilien Privileg einer Minderheit sei. In den Großstadtzentren irren Obdachlose vor allem nachts zu Tausenden umher. Sie hausen auf Grünanlagen und an Stränden. Der große Rest der rund 50 Millionen Armen im 170 Millionen Einwohner zählenden Land lebt unter schlimmsten Bedingungen in Slums, wo die Drogenmafia oft das einzige Gesetz weit und breit ist. oder außerhalb der Städte unterhalb des Subsistenzniveaus.

Besonders erbarmungslos ist die Lage für die Straßenkinder. Auch heute noch, 10 Jahre nach dem grauenerregenden Massaker an mehreren 100 Kindern in Rio de Janeiro, werden Kinder auf offener Straßen durch die sogenannten Todesschwadrone, die auch für das gezielte Gemetzel an Indios im Amazonas-Becken verantwortlich waren, ermordet. Ihre Auftraggeber sitzen auch heute noch unbehelligt in staatlichen Polizeibüros, in kapitalistischen Chefetagen, oder auf Großfarmen.

Gelegentlich kann eine Wohn- oder Landraumbesetzung auch zum Erfolg führen ein Grundstück wurde vor kurzem amtlich enteignet. Meist wird aber gewaltsam geräumt, so vor einem halben Jahr in einem Stadtviertel von Sao Paulo. Obwohl die rund 4000 Besetzer einem Räumungsbeschluss der Justiz friedlich nachkommen wollten, walzten Traktoren ihre Behausungen und Habseligkeiten platt. Das Gelände lag genau hinter einem Golfplatz und luxuriösen Eigentumswohnungen.

Die Besetzer des VW-Brachlands, das pikanterweise in der Nähe der Wohnung von Präsident Lula liegt, wollen ebenso wenig aufgeben wie die 3500 Obdachlosen, die seit dem 18.7. 2 Wohnhäuser und stillgelegte Hotels im Zentrum von Sao Paulo besetzt haben.

Sie alle wollen Widerstand leisten bei Räumungsversuchen. Bei einem Schlichtungstreffen zwischen den Besetzern bei VW und den Behörden am 28.7.kam es zu keiner Einigung. Anschließend marschierten die Obdachlosen zum Rathaus der zuständigen Gemeinde Sao Bernardo, um so ihrer Forderung nach Übereignung des Grundstücks Ausdruck zu verleihen. "Wenn wir aus dem Gelände vertrieben werden, müssen die Behörden wissen, dass wir dann in das Rathaus oder den Gouverneurspalast einziehen werden", warnte eine Sprecherin der Obdachlosen.

Formiert und geleitet wird dieser selbsttätige Widerstand durch die Bewegung der Landlosen (MST). Lula sah sich Anfang Juli genötigt, ihre Vertreter zu empfangen. Sie machten deutlich, dass mindestens eine Million landlose Menschen bis 2006 mit Land versorgt werden müssten. Die bisherigen angeblichen 60000 Umsiedlungen, die die Regierung für sich reklamiert, sind nur Zahlenspiele, denn es fehlt v.a. auf dem Land an den lebensnotwendigen Voraussetzungen für die Bewirtschaftung von Land: Strom, Wasser und günstige Kredite.

Die Regierung Lula weiß, dass sie mit dem Faktor Zeit den gewaltigen sozialen Sprengstoff nicht entschärfen kann. Sie muss ihr Sparprogramm durchzusetzen versuchen, auch auf die Gefahr hin, damit die Sympathien bei den Massen zu verlieren. Den aufblitzenden Widerstand muss sie abwürgen, bevor er sich landesweit formiert und vernetzt hat.

Das ist auch die Herausforderung für die brasilianische Arbeiterbewegung und die Bewegung der Armut. Für sie gilt das gleiche, ein Wettlauf mit der Zeit. Sie muss rasch und flächendeckend aufgebaut werden und muss auch die Erfahrungen aus dem Nachbarland Argentinien aufnehmen und für sich wenden, sonst bleibt auch diese Widerstandsbewegung isoliert und kann von den Feinden im eigenen Land und international schnell wieder erstickt werden. Auch hier stellt sich das Problem einer revolutionären Alternative, die gegen Lula und die PT aufgebaut werden muss.

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