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60. Jahrestag von Stalingrad

Stalingrab

Infomail 105, 13. Februar 2003

Vor 60 Jahren ging die größte Kesselschlacht der Kriegsgeschichte zu Ende. Etwa 300.000 Soldaten der faschistischen Wehrmacht und ihrer Verbündeten waren im November 1942 von der Roten Armee eingeschlossen worden. Nur rund 6.000 überlebten das Kesselschlachten und die Gefangenschaft und kehrten nach dem Krieg zurück.

Stalingrad war der östlichste Punkt, den die Wehrmacht bei ihrem Eroberungskrieg gegen Sowjetrussland erreichte. Stalingrad wurde zum Wendepunkt eines Krieges, der im Mai 1945 dort zu Ende ging, von wo er ausgegangen war.

In den zahlreichen Beiträgen zum Thema in den Medien, v.a. in Dokumentationen der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, werden immer wieder dieselben Fragen aufgeworfen: Welchen Sinn hatte die Tragödie an der Wolga? Wer hat sie zu verantworten?

Die Frage nach dem Sinn des deutschen Vorstoßes auf Stalingrad zu stellen, heißt, die Frage nach dem Sinn des von Hitler 1939 entfesselten Krieges zu stellen, heißt, die Frage nach dem Klasseninteresse zu stellen, das hinter diesem Krieg Deutschlands stand.

Wurzeln

Der Aufstieg Hitlers erfolgte vor dem Hintergrund der von der Revolution von 1918 nicht gelösten Klassen- und Systemfrage. Die Weimarer Republik erbebte unter Krisen, Inflation und Klassenkämpfen. Ihre instabile Demokratie geriet schließlich in der Weltwirtschaftskrise vollends ins Wanken. Eine Lösung der Krise konnte nur mittels Gewalt erreicht werden - Revolution der Arbeiterklasse oder Konterrevolution durch die faschistische kleinbürgerliche Massenbewegung. Aufgrund der falschen Politik beider Arbeiterparteien, der SPD wie der KPD, konnte die Arbeiterbewegung den Sieg der Faschisten nicht verhindern.

Hitlers Programm war ein doppeltes: Zerschlagung der Arbeiterbewegung und ihrer größten historischen Errungenschaft, der Sowjetunion, und Aufstieg Deutschlands zur führenden imperialistischen Macht Europas durch Niederringung seiner imperialistischen Konkurrenten.

Der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war als Blitzkrieg geplant, blieb jedoch auf den blutigen Schneefeldern vor Moskau stecken. Die deutsche Sommeroffensive 1942 sollte nun im Süden die Entscheidung erzwingen.

Diese Offensive war - wie die ganze deutsche Kriegführung im Zweiten Weltkrieg - jedoch vom Widerspruch zwischen den anvisierten Zielen und den vorhandenen militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen geprägt. Waren die deutschen Kräfte schon 1941 angesichts der geografischen Dimensionen wie der militärischen Stärke, der ökonomischen Ressourcen und der sozialen Kräfte, die trotz der bürokratischen Herrschaft in der Sowjetunion steckte, zu gering, so offenbarte sich dieses Missverhältnis 1942 noch krasser. Der Besitz des Kaukasusöls wurde für Hitler wie für die Sowjetunion zur Bedingung für die Weiterführung des Krieges. Um es zu erobern, musste die Wehrmacht aber nicht nur die östliche Flanke seiner Kaukasuskräfte sichern, sie musste zugleich die Wolga als wirtschaftliche Lebensader des Gegners abschneiden. Das bedeutete eine immense Verlängerung der Front und Aufspaltung der Kräfte in zwei Stoßrichtungen.

Die Besetzung Stalingrads war nicht das eigentliche Ziel der 6. Armee. Aber das sich abzeichnende Steckenbleiben des Vorstoßes im Kaukasus, die voreilige Verkündung der Eroberung Stalingrads durch Hitler und die Notwendigkeit eines symbolträchtigen Erfolges, wie es die Eroberung der Stadt mit Stalins Namen gewesen wäre, erzeugte eine Eigendynamik, die nicht Ausdruck einer Irrationalität Hitlers, sondern Folge einer Strategie war, zu deren Umsetzung die Mittel fehlten.

Die "Irrationalität" des Faschismus war keine persönliche Eigenheit Hitlers. Sie war ein unverzichtbarer Teil der faschistischen Politik, ihrer massenwirksamen Demagogie und Militanz.

Der sowjetische Zangenangriff auf Stalingrad konnte für die Wehrmachtsführung keine Überraschung sein - und er war auch keine. Die Wehrmacht hatte keine Reserven mehr, um ihn zu verhindern und die verbündeten rumänischen und italienischen Truppen waren in jeder Hinsicht zu schwach, um einer geballten Offensive stand zu halten. Auch um sie kampffähig zu machen, fehlten die Mittel. Alle Interpretationen von "genialer Strategie" Shukows oder Stalins wie die des militärischen Versagens Hitlers sind genau solcher Unfug, wie der Hinweis, es wäre besser gewesen, Stalingrad zu räumen und die gefährdeten Flanken zurück zu nehmen. Damit wäre automatisch nicht nur die Sommeroffensive, sondern - das war Hitler schon Ende 1941 bewusst - auch der ganze Krieg im Osten verloren. Hitler war nicht in die Falle Shukows gegangen, er hing nur endgültig in der von ihm selbst schon 1939 aufgestellten Falle fest: mit zu wenig zu viel erreichen zu müssen.

Falsche Analysen

Was in den Bewertungen und Kommentaren der zahlreichen Dokumentationen immer wieder durchschimmert, ist falsch und greift zu kurz: es waren nicht militärische Fehler, es waren nicht Hitlers Fehler, die zur Tragödie Stalingrad führten. Es war die Logik der Strategie des deutschen Imperialismus insgesamt.

Die Alternative zum Massensterben in Stalingrad waren weder eine militärische, noch eine personelle. Die Alternative war der Sturz, war die Zerschlagung des Faschismus!

Die Entscheidung Hitlers, die 6. Armee nicht ausbrechen zu lassen, wird als besonderes Verbrechen und als militärischer Fehler Hitlers und des Chefs der 6. Armee Paulus dargestellt. Doch die "Rettung" der 6. Armee hätte nur bedeutet, dass ihre Soldaten irgendwann, irgendwo und irgendwie anders für die Interessen des deutschen Kapitals krepiert wären.

Militärisch war es zu keiner Zeit realistisch, aus dem Kessel auszubrechen oder ihn von außen zu entsetzen. Der Vergleich der von der Wehrmachtsführung angeforderten Entsatzkräfte mit denen der dann real vorhandenen der Gruppierung Hoth, die zum Kessel durchstoßen sollte, zeigt, dass es weder am militärischen Sachverstand noch am Willen mangelte, die 6. Armee herauszuhauen. Es mangelte an Ressourcen. Noch drastischer zeigte sich das bei der Luftversorgung des Kessels.

Was waren die realen Alternativen für Hitler und seine Generäle? Entweder Kapitulation, was nicht nur politisch unannehmbar war, sondern auch bedeutet hätte, die sich aus dem Kaukasus zurückziehende Heeresgruppe B der Gefahr der Einschließung und Zerschlagung auszusetzen oder das Ausharren und der Untergang in Stalingrad. Beide Varianten hätten für hunderttausende Soldaten den Tod gebracht und eine gravierende militärische Niederlage bedeutet. Hitler entschied sich für Variante zwei - nicht aus Wahnsinn und Zynismus, sondern aus durchaus rationaler militärischer Überlegung!

Der Ausweg lag einzig und allein in der Kapitulation. Diese aber hätte vorausgesetzt, dass die deutschen faschistischen Offiziere und Generale bewusst mit ihrem verbrecherischen Regime gebrochen hätten. Das aber nicht zu tun, war gerade Inhalt und Sinn deutschen "Soldatentums" und preußischer Offiziersehre. Aufgrund der faschistischen Indoktrinierung und wegen der Zerschlagung der Arbeiterbewegung und jeder politischen Opposition gab es auch kaum einen Ansatz von Opposition oder gar Verweigerung der Soldaten. Wie bekannt, gehorchte der deutsche Landser in der Regel bis zuletzt den Befehlen seiner verbrecherischen Führer.

Es ist kein Zufall, dass bei der Frage, wer Courage gegen Hitler hätte beweisen sollen, immer nur von Paulus und seinen Generälen geredet wird. Alles andere ist offenbar außerhalb jeder Vorstellung der Zeitzeugen wie der Autoren der Beiträge. Nach dem Motto "Alles Gute kann nur von Oben kommen" erwarten sie - wie die Geschichte zeigt, völlig zu unrecht - eine Alternative, Einsichten, Moral usw. gerade von denen, die Millionen deutscher Soldaten in den Krieg geführt haben!

Auch in dieser völligen Verkennung der Sache offenbart sich wieder das Nichtverstehen, das Ausblenden der Klassenfrage. Wenn der millionenfache blutige Brudermord der Proletarier an den Fronten beendet wurde, dann doch wohl durch die Verbrüderung der Soldaten, z.B. an der russischen Front im Gefolge der russischen Revolution. Aber auch die andere Variante der Beendigung des Krieges durch einen raschen und klaren Sieg des (degenerierten) Arbeiterstaates Sowjetunion über Deutschland liegt völlig außerhalb der Vorstellungswelt aller Akteure und Macher dieser Beiträge.

Es ist eine nicht nur oberflächliche, sondern zynische und falsche Sichtweise, die oft in den Bewertungen Stalingrads zum Ausdruck kommt. Die Schilderungen all der Leiden, der Entbehrungen, der Tapferkeit der Soldaten, die mitfühlende Moral, die Verweise auf die "anständigen" deutschen Kämpfer verdecken oft genug den Kern der Sache: den verbrecherischen und reaktionären Charakter des Krieges des faschistischen imperialistischen Deutschlands. Hinter wie vielen Argumenten und Überlegungen steckt nur ein naiver und unangebrachter Pazifismus, der selbst im Nachhinein noch überlegt, wie der Krieg hätte etwas "humaner" und etwas weniger furchtbar hätte gemacht werden können. Während man sonst unaufhörlich von der "Spirale der Gewalt" fabuliert, begreift man die Zwanghaftigkeit, die brutale Logik des imperialistischen Krieges überhaupt nicht. Unbewusst schürt man so die Illusion, dass es möglich gewesen wäre, die Opfer von Stalingrad zu vermeiden, ohne den Krieg zu beenden.

Die Darstellungen führen zu Betroffenheit, erzeugen Mitleid mit den einfachen Soldaten - zu Recht. Zur Erhellung der hinter jedem Krieg steckenden Klassenfrage und zur Klärung der Frage, wie imperialistischer Krieg verhindert oder beendet und wie v. a. seine Ursachen ausgemerzt werden können, trägt sie nichts bei.

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