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Flüchtlingsfrage in der Türkei

Wie reagieren auf die alevitischen Proteste gegen Flüchtlingscamps in Maras?

Diskussionsbeitrag der Liga für die 5. Internationale zur Diskussion in der Linken in der Türkei, Infomail 889, 20. Juni 2016

Maras (Kahramanmaras) ist eine Region im Süden der Türkei. Genau dorthin, auf das Ackerland zwischen den vielen kleinen Dörfern, soll nun ein Flüchtlingscamp für rund 30.000 SyrerInnen gebaut werden.

Doch Maras hat eine traurige Vergangenheit. In den 80ern gab es dort Pogrome von Faschisten und Islamisten an der alevitischen Bevölkerung, bei denen viele Angehörige dieser religiösen Minderheit ihr Leben verloren. Dieses Trauma ist bis heute im Bewusstsein, vor allem der älteren Generation, geblieben.

In Anbetracht der Camps, die nun dort entstehen sollen, entwickelte sich in den letzten Monaten eine Protestbewegung gegen die Lager, gegen Islamismus und gegen religiöse Unterdrückung. 12 alevitische Verbände riefen im Mai landesweit zu Protesten auf, während die Linke in der Türkei sie unterstützte oder passiv blieb.

Doch wie kann man diese Bewegung politisch einordnen? Wieso gibt es Proteste gegen vermeintlichen Islamismus syrischer Flüchtlinge, aber einen hohen Prozentsatz an Wählerstimmen für die AKP, also die Partei des Islamismus in der Türkei? Sind die AlevitInnen die PEGIDA der Türkei, „gegen die Islamisierung des Morgenlandes“? Nein, so einfach ist diese Frage nicht beantwortet und dazu müssen wir zunächst die Strukturen und den politischen Hintergrund solcher Flüchtlingslager erklären.

Die Größen dieser Lager umfassen die einer türkischen Kleinstadt wie zum Beispiel Artvin. Sie ähneln jedoch eher einer Kaserne, denn sie sind hermetisch abgeriegelt, eingezäunt mit Stacheldraht und Wachtürmen, damit niemand unkontrolliert hinaus oder hinein gelangt.

Schon ein früherer Antrag der CHP, eines der anderen Lager der staatlichen Hilfsorganisation AFAD besuchen zu dürfen, wurde ohne Begründung abgelehnt. In die Lager durften bisher nur die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajans? und Bürokraten der AKP hinein. Die innere Struktur ist von der Öffentlichkeit abgetrennt, weder unabhängige JournalistInnen, Menschenrechtsorganisationen noch die Oppositionsparteien CHP, MHP oder HDP dürfen dort hinein. Gleichzeitig sind die „Insassen“ jedoch vollkommen abhängig von der türkischen Regierung, denn diese stellt die komplette Versorgung. Aufgrund dieser Abhängigkeit erscheint es unwahrscheinlich, dass dort eine Anti-AKP-Oppositionsbewegung heranwächst, die nur darauf wartet, sich mit dem kurdischen und alevitischen Widerstand gegen Erdogan zu verbünden. Doch auch wenn der Zustand der Lager weitgehend unklar ist, für die dort lebenden 30.000 Menschen  sind die Bedingungen hart, vor allem für die Frauen. Die Regierung beauftragte die staatliche Organisation AFAD, die eigentlich für den Katastrophenschutz im Falle von Erdbeben verantwortlich ist, schon in der Vergangenheit mit der Einrichtung solcher Lager. Doch wenn es keinen öffentlichen Zugang gibt, wer überprüft dann, unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben müssen?

Alevitische DorfbewohnerInnen meinen, dass dort islamistische Extremisten angesiedelt oder gar neue IS-Einheiten trainiert werden. Obwohl die große Abhängigkeit zur türkischen Regierung geschaffen wurde und die Menschen von politischem Einfluss abgeschottet sind, leben sie dennoch nicht in Saus und Braus der Gastfreundschaft, sondern in einem Gefangenenlager ohne jegliche politische Rechte. Noch haben die Geflüchteten kein Wahlrecht und dürfen das Lager nicht verlassen, doch die Angst unter den AlevitInnen wächst, dass diese Menschen nicht nur zu einer AKP-wählenden, sondern auch zu einer erneuten physischen Gefahr für sie werden könnten. Denn die AKP sagt, sie arbeite auf Hochtouren daran, denjenigen, die politisch für sie nützlich sind, so schnell wie möglich Staatsbürgerrechte zu geben. Damit könnte nicht nur die Anhängerschaft im eigenen Land, sondern auch die islamistische Opposition gegen den syrischen Diktator Assad vergrößert werden. Ob das Wahlrecht wirklich eingeführt wird, ist nicht absehbar, denn genauso könnten bei einer Verschiebung der Machtverhältnisse die Geflüchteten auch ganz schnell wieder abgeschoben werden. Erdogan und seine AKP sind nie Menschenfreunde gewesen oder haben etwas aus einer freundlichen Absicht getan; ebenso wenig ist dies nun in der Flüchtlingsfrage der Fall.

Wenn europäische PolitikerInnen also sagen, Erdogan sei ein „Vorbild in der Flüchtlingsfrage“ (Tusk) und man dürfe ihn nicht kritisieren, dann bedeutet das konkret, dass die Versklavung von Flüchtlingen zum eigenen Machtausbau eine tolle Sache ist...

Ist es deshalb richtig, gegen diese Camps auf die Straße zu gehen, um eventuelle Pogrome gegen die AlevitInnen in Maras zu verhindern? Sicher nicht, SozialistInnen müssen vielmehr gegen die chauvinistischen Aktionen eintreten!

Schuld an der Misere sind nicht die Flüchtlinge selbst. Nicht sie waren es, die von heute auf morgen beschlossen, aus Syrien auszuwandern, wo seit mehreren Jahren ein Krieg tobt, der jetzt schon der verheerendste Konflikt seit dem 2. Weltkrieg ist. Was von Seiten der am Konflikt beteiligten Fronten meist als rein religiöser Konflikt dargestellt wird, ist weit mehr als das. Der syrische Bürgerkrieg begann mit einem berechtigten Aufstand gegen den Diktator Assad als Teil des arabischen Frühlings. In dessen Verlauf wurden Fronten verschoben; vor allem Islamisten wie die Al-Nusra-Front wurden extrem stark und auch der Aufstieg des IS wurde begünstigt. Grund hierfür war das Ausbleiben einer internationalen aktiven Solidarisierung mit den fortschrittlichen Kräften, die sich gegen einen Diktator wendeten, dessen Repressionsorgane Erdogan heute insgeheim als Vorbild dienen, auch wenn Assad selbst sein politischer Gegner ist.

Auch nutzt es Assad natürlich, dass er mittlerweile gegenüber dem IS als kleineres Übel betrachtet wird, mit dem westliche Mächte verhandeln wollen, obwohl zu seinen Verbündeten auch die libanesische Hizbollah, der iranische Staat und der russische Imperialismus zählen. Es geht also um die Einflussgebiete verschiedener imperialistischer Mächte in Syrien, denn so wie nicht jeder Alawit zum syrischen Herrscherclan gehört, gibt es nicht nur eine sunnitische Unterschicht, sondern ebenso sunnitische Kapitalisten in Syrien.

Zu Beginn hätte niemand ahnen können, dass dieser Konflikt sich zu so einem langen und blutigen Kampf ausweiten würde. Sich also grundlegend gegen das Recht auf Flucht aus Syrien zu stellen, bedeutet vor allem, die komplette sunnitische Bevölkerung zu beschuldigen, im syrischen Bürgerkrieg auf der falschen Seite zu stehen und einen berechtigten Aufstand gegen den Diktator Assad nicht anzuerkennen. Viele der nach Europa flüchtenden Menschen standen auf dem Balkan mit Fotos von Angela Merkel in der Hand und baten sie persönlich, die Grenzen zu öffnen. Soll die europäische Linke deshalb diesen Menschen verwehren, nach Europa zu kommen, weil sie vielleicht eine konservative Politikerin wählen würden, die eigentlich Schuld an ihrem Schicksal trägt? Der wichtigste Verbündete der KurdInnen in Rojava ist mittlerweile der US-Imperialismus geworden, der auch von heute auf morgen die Seiten wechseln und wieder hinter der Türkei stehen könnte. Haben die KurdInnen deshalb automatisch ihr Recht auf Selbstverteidigung und Solidarität verwirkt?

Auch in deutschen Flüchtlingsunterkünften sind viele SyrerInnen dankbar, dass die deutsche Regierung sie aufgenommen hat und bedanken sich bei „Mama Merkel“. Doch einige schließen sich auch den wachsenden Protestbewegungen gegen Massenunterkünfte, gegen Arbeitsverbot und Abschiebung an.  Einige AfghanInnen waren jedoch so enttäuscht von der Perspektivlosigkeit in Deutschland, dass sie sich entschlossen, nach Afghanistan zurückzukehren, in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Wer vom Nahen Osten spricht, muss auch von imperialistischem Einfluss sprechen, der erst die Grundlagen für solche Krisen und Kriege gelegt hat und sich am Blut derjenigen labt, die im Kampf für Religion, Nation und Freiheit ihr Leben lassen. Seit hundert Jahren gibt es Flüchtlingsbewegungen, seien es die PalästinenserInnen, die KurdInnen oder die ArmenierInnen. Wie wir es in der EU und auch in der Türkei beobachten können, bilden sich nun Bewegungen, welche die Flüchtenden selbst dafür verantwortlich machen und sie als Vaterlandsverräter beschimpfen. In Deutschland häufen sich Angriffe auf Asylbewerberheime, Familien werden nachts aus ihren Betten gezerrt und in Flugzeuge gesetzt, die sie in Kriegsgebiete abschieben, weil die deutsche Regierung diese zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt hat. Mit dem EU-Türkei-Deal werden die europäischen Außengrenzen abgeriegelt, sodass die meisten Flüchtlinge nie in Europa ankommen. Die Linke versucht mit ihrer momentan geringen Stärke, rechte Aufmärsche wie den von PEGIDA zu verhindern, versinkt jedoch auch in karitativer Arbeit, wodurch große Proteste gegen die eigentlichen Schuldigen ausbleiben.

Im Gegensatz zu den AlevitInnen in Maras, haben deutsche BürgerInnen keine Erfahrungen mit islamistischen Pogromen, sondern sind schlicht RassistInnen, die sich wilde Geschichten ausdenken, um ihre Ausländerfeindlichkeit zu begründen. Dass sie jedoch keineswegs Verbesserungen für sich erreichen, sondern mit der sozialen Spaltung zwischen ihnen selbst und „den Ausländern“ der herrschenden Klasse in die Hände spielen, ist ihnen nicht bewusst. Ebenso scheint es bei den Aleviten-Protesten in Maras die Vorstellung zu geben, dass ihre Proteste sich gegen den Islamismus wenden, der sie in Form syrischer Flüchtlinge bedroht. Doch der Islamismus ist schon da, er sitzt im Palast in Ankara, er führt Krieg im Osten der Türkei, er schürt Rassismus im ganzen Land und würde am liebsten die gesamte Opposition vernichten, um ungehindert das Präsidialsystem einzuführen, von dessen Thron aus er den gesamten Nahen Osten beherrschen will. Dass dieser sich nun die Opfer eines Bürgerkrieges zum Steigbügelhalter machen will, ist perfide und sollte uns deutlich zeigen, gegen wen sich die Proteste richten müssen. Die Opposition in der Türkei wurde über die letzten Monate stark geschwächt und kann sich selbst kaum verteidigen. Es liegt daher in ihrem Interesse, gegen die Unterdrückung der Geflüchteten zu kämpfen, um der AKP gar nicht erst die Chance zu geben, die Geflüchteten für ihre Politik auszunutzen. Es müssen Forderungen im Interesse der Geflüchteten aufgestellt werden wie das Recht auf freie Entscheidung über den Wohnort, das Recht auf Arbeit und politische Organisierung und ausreichende Finanzierung durch den türkischen Staat. Dafür könnte dieser beispielsweise beim Militär und teuren Prestigeobjekten einsparen.

So wird schnell deutlich, dass Erdogan kein menschliches Interesse an ihnen hat, sondern sie als Manövriermasse nutzt, um die Opposition zu vernichten. Natürlich ist es auch nicht im Interesse der Geflüchteten, auf dem Ackerland alevitischer Dörfer zu leben. Sie dessen zu beschuldigen, ist Chauvinismus, der zu sozialer Spaltung unter den Unterdrückten führt.

Unsere Interessen und die der Geflüchteten sind ähnlicher als die mit der AKP! Die HDP bezeichnet sich selbst als Partei der unterdrückten Völker und die Geflüchteten in der Türkei gehören ganz sicher mit dazu. Dennoch wird von der Parteiführung wenig getan, um diese Menschen in die politisch zu organisieren, und somit werden sie den Rattenfängern der AKP überlassen. Doch es ist ihre Aufgabe, auf sie zuzugehen und über die politischen Verhältnisse aufzuklären, in die sie hineingeraten sind. Schließlich sind wir SozialistInnen es, die für Frieden kämpfen, für Gleichberechtigung der Völker, für eine Welt ohne Unterdrückung, ohne religiösen Fanatismus, ohne Sexismus und Rassismus. Wir sind es, die volle Staatsbürgerrechte für Geflüchtete fordern, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Ethnie. Wir wollen den Sturz von Assad nicht deshalb, weil wir das Einflussgebiet der Türkei vergrößern wollen, sondern um den Weg zu ebnen für ein demokratisches, säkulares Syrien, das die fortschrittlichen Kräfte gegen den Einfluss des Islamismus und des Imperialismus verteidigen.

Doch solange Erdogan und die AKP an der Macht sind, ist das nicht möglich; solange kann es auch keinen Frieden für Rojava, für die AlevitInnen in der Türkei und die KurdInnen in Bakur geben. Solange die AKP an der Macht ist, werden syrische Flüchtlingskinder zur Arbeit gezwungen, um die Löhne der türkischen Bevölkerung niedrig zu halten, werden die Menschenrechte in den Flüchtlingslagern mit Füßen getreten und die verschiedenen Minderheiten in der Türkei gegeneinander ausgespielt. Dem müssen wir einen gemeinsamen Kampf entgegensetzen! Wir müssen die Flüchtlinge in unsere Bewegung integrieren, denn nur wir können ihnen eine echte Perspektive bieten! Nicht die Betonung der blutigen Geschichte, an der diese Geflüchteten keine Schuld tragen, sollte dabei im Vordergrund stehen, sondern die gemeinsame Zukunft und der gemeinsame Kampf gegen Krieg und Unterdrückung müssen das Ziel sein. Wir dürfen es nicht der AKP und ihren islamistischen Anhängern überlassen, die Geflüchteten auszunutzen und mit ihrer Demagogie hinters Licht zu führen. Wir müssen selbst aktiv werden, auf sie zugehen und eine gemeinsame Front gegen die Kriegstreiber in Ankara und Damaskus bilden! Wenn wir der AKP zeigen, dass ihr Plan der Spaltung und der Aufhetzung der Unterdrückten gegeneinander nicht funktioniert, dann können wir es auch schaffen, sie zu stürzen und statt der Präsidialdiktatur ein demokratisch-sozialistisches System zu errichten, das im Sinne des Friedens, der Hoffnung der ausgebeuteten Menschen nach Befreiung und der Jugendlichen und deren Zukunft funktioniert!

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