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Zwischenbilanz

Ägypten nach dem Militärputsch

Dave Stockton, Infomail 698, 16. August 2013

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde schon vor dem Ausnahmezustand verfasst. Wir veröffentlichen ihn hier, weil er auf die weitere Zuspitzung und ihre Ursachen verweist. Demnächst werden wir eine aktuelle Stellungnahme der „Liga für die Fünfte Internationale“ zum Ausnahmezustand veröffentlichen.

Unter dem anhaltenden Widerstand des Massenanhangs der Moslembruderschaft scheint der am 3. Juli durch den obersten Armeegeneral Fattah-al-Sisi inszenierte Putsch zu wanken. Es ist dem Militär nicht gelungen, den Widerstand der DemonstrantInnen für den abgesetzten Präsidenten Mursi zu brechen - trotz der Massaker in der Rabaa al-Adawija-Moschee und dem Blutbad bei der gewaltsamen Räumung des Protestcamps, das am 14. August 300 Todesopfer forderte und wonach der Ausnahmezustand verhängt worden ist.

Druck

Die provisorische Regierung und ihre militärischen Drahtzieher stehen auch unter starkem Druck durch die US-Administration. US-Staatssekretär William Burns sowie die Senatoren John McCain und Lindsay Graham weilten mehrere Tage in Ägypten, um mit beiden Seiten zu verhandeln.

Die außenpolitische Sprecherin der EU, Catherine Ashton, und ihr Stellvertreter Bernardino Leon sind ebenfalls nach Kairo geeilt, um zu vermitteln und Druck auf Liberale wie den provisorischen Vizepräsidenten El Baradei von der Nationalen Rettungsfront auszuüben. Ashton wurde sogar eine Unterredung mit dem immer noch unter Militärarrest stehenden Ex-Präsidenten Mursi gewährt.

In ähnlicher Mission trafen auch Burns und Leon gemeinsam mit Spitzendiplomaten aus Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Unterstützer der Moslembruderschaft sind, mit Khairat-al-Schater zusammen, der noch in Haft ist. Al-Schater ist als millionenschwerer Kapitalist einer der Hauptgeldgeber, praktisch die Nummer 2 in der Bruderschaftsrangfolge und gilt als ‚pragmatischster’, d.h. kompromissbereitester Kopf der islamistischen Führungsriege.

Das einzige Problem für die amerikanischen und europäischen Kompromisspläne stellt der wieder auflebende Rückenwind der Popularität für die Moslembruderschaft dar, der auf die  Wiedereinsetzung von Mohammed Mursi als Präsident abzielt.

Nach dem Ende des Fastenmonats Ramadan hat der in die Enge getriebene provisorische Premierminister Hasem el-Beblawi nun den Abriss der Protestcamps der Mursi-Anhänger befohlen.Wenn die Armeedisziplin anhält, würde dies die Errichtung einer totalen Militärdiktatur bedeuten. Wenn sie bröckeln sollte, könnte dies den Weg freimachen für eine neu gefestigte Herrschaft der Moslembruderschaft.

Zwickmühle

Die Liberalen und die radikaleren Kräfte, die sich mit ihnen in der Tamerod-Front verbündet haben, hatten die Demonstrationen am 30. Juni in Gang gesetzt. Nun befinden sie sich selbst in der Zwickmühle. Wenn das Militär auf totale Unterdrückung setzt, werden sie als Steigbügelhalter für die Restauration des alten Regimes (Feloul) angesehen. Wenn die US-Regierung einen Kompromiss zwischen Armee und Moslembruderschaft aushandelt, werden sie wahrscheinlich die großen Verlierer sein. Ein solcher Kompromiss würde zweifellos Zugeständnisse an die reaktionäre Sozialpolitik der Islamisten auf Kosten der weltlichen Verfassung beinhalten. Eine ‚all-inclusive’-Lösung nach den Vorstellungen von EU und USA würde bedeuten, dass die Liberalen als Geiseln in einer militär-islamistischen Feloul-Regierung gefangen sein würden.

Bei solchen Resultaten müssten die Liberalen damit rechnen, dass ihr Massenanhang auf den Straßen tief enttäuscht werden würde. Bei allen künftigen Wahlen würden sie für ihren Opportunismus bei der Unterstützung für den Militärputsch abgestraft werden.

Trotz des riesenhaften Aufruhrs in der Bevölkerung gegen Mursi im Mai und Juni war der al-Sisi-Putsch dennoch zweifelsohne ein konterrevolutionärer Akt und keinesfalls eine Fortsetzung der Revolution, wie die Liberalen und teilweise sogar Linke dies behaupteten.

Tamerod hatte von Beginn an die Unterstützung des alten Mubarak-Regimes, des Feloul. Die Schnelligkeit und Koordination, mit der das Militär handelte, zeigt zweifellos, dass dies keine normale ‚revolutionäre’ Erhebung war. Welche revolutionäre Welle kann wirklich auf die Unterstützung des Oberkommandos von Armee und Polizei rechnen? Das ist völlig zu unterscheiden von der Gewinnung aufrührerischer einfacher Soldaten.

Es bedeutet jedoch nicht, wie einige linke Mursi-SympathisantInnen meinen, dass die Aufstände reine Verschwörung mit Beteiligung der US- und EU-Imperialisten gewesen wären, um den Präsidenten zu stürzen. Seine Regierung stellte keine antiimperialistische Gefahr dar, und seine neoliberale Politik entsprach dem Willen von Teilen der Bourgeoisie, die nicht mit dem Militär verbandelt waren. Mursi führte die Pläne des IWF zur Öffnung der ägyptischen Wirtschaft ergeben durch.

Seine Behauptung, er vertrete ein wahrhaft demokratisches Regime, war allerdings völlige Schaumschlägerei, selbst wenn man die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen und die Arbeit der betrügerischen Verfassungversammlung außer Acht lässt. Seine Deklaration vom 22. November 2012, in der er seine Präsidentenbefugnisse außerhalb jeder juristischen Kontrolle stellen wollte, sowie die Einsetzung eines Schura-Rates mit gesetzgeberischer Macht, der zu einem Drittel von ihm ernannt wurde, waren ganz klar eine Aushebelung der bestehenden Verfassung. Der konterrevolutionäre Charakter seiner Regierung ist belegt durch die zunehmende Zahl von Misshandlungen und Morden, verübt von Banden der Bruderschaft an revolutionären Jugendlichen, AktivistInnen der unabhängigen Gewerkschaften, streikenden ArbeiterInnen und Kopten in mehreren ägyptischen Städten.

Mursis Regierung war durch und durch konterrevolutionär und ihr Verweis auf die Legitimität durch Wahlen hatte keine Gültigkeit unter den Bedingungen einer revolutionären Entwicklung, die ihre Legitimität aus der Mobilisierung und Aktivität der Massen bezieht.  Die Massenbewegung vom Mai/Juni gegen Mursi war echt, auch wenn sie wahrscheinlich von Kräften des Staates im Staat, die ansonsten einer solche Bewegung entgegengewirkt und sie unterdrückt hätten, koordinativ unterstützt worden ist.

Der Militärputsch vom 3. Juli hat jedoch alle Vorteile des Massenwiderstands gegen Mursi im Nu beseitigt. Denn nun genoss die Moslembruderschaft die offensichtliche demokratische Legitimität des Widerstands ihrerseits gegen die Armeeaktionen.

Die Ermutigung zum Militärputsch oder dessen Unterstützung, auch auf dem Höhepunkt der massenhaften Anti-Mursi-Bewegung, war eine opportunistische, ja abenteuerliche Taktik seitens der radikal-demokratischen Kräfte. Abenteuerlich, weil sie kurzsichtig die soziale Massenbasis der Moslembruderschaft unterschätzte, die praktisch noch existierte, obschon sie sich durch die Erfahrungen in Mursis Amtszeit abgeschwächt hatte. Opportunistisch ist sie, weil sie die Desillusion über die Bruderschaft durch neue Illusionen in die „bevölkerungsfreundliche“ und „demokratische Glaubwürdigkeit“ des Armeeoberkommandos ersetzt hat, ganz zu schweigen von der Nichtbeachtung der Rolle der Feloul-Kräfte.

Jede Unterstützung für die Machenschaften dieser Gruppe wirkt wie ein Bumerang auf alle wahrhaft populären Kräfte. Es war richtig, für Mursis Rücktritt zu demonstrieren; es war falsch, al-Sisis Putsch zu unterstützen. Es wäre die Pflicht von RevolutionärInnen gewesen, vom ersten Augenblick an den Putsch vollkommen abzulehnen und dagegen auf der Straße so weit wie möglich aufzutreten.

Die Politik der „Revolutionären Sozialisten“

Während dieser Ereignisse schwankten die „Revolutionären SozialistInnen von Ägypten“ (RSÄ), Teil der „Internationalen Sozialistischen Tendenz“ (in Deutschland: Marx21), an deren Spitze die britische Socialist Workers Party steht, hin und her. Anfangs führte sie ihre Neigung zur Nachtrabpolitik und zum Spontaneismus, die sie zweifelsfrei von der IST gelernt haben, dazu, die Bedeutung des Militärputsches zu leugnen oder herunter zu spielen und die Ereignisse als eine weitere Welle der Revolution zu begrüßen.

Dies wurde mit ihrem Kommentar vom 5. Juli deutlich: „Der 30.6. war zweifellos der historische Beginn einer neuen Welle der Ägyptischen Revolution, die größte seit Januar 2011. Die geschätzte Zahl der DemonstrantInnen an diesem denkwürdigen Tag betrug noch nie da gewesene 17 Millionen. Die Bedeutung übersteigt die Beteiligung von Überbleibseln des alten Regimes oder die offensichtliche Unterstützung durch Armee und Polizei.“

In Hinsicht auf das Militär, das Mursi gestürzt hat, fährt der Kommentar fort: „Aber es liegt eine besondere Logik in Revolutionen der Bevölkerung, die sich nicht den Illusionen oder Plänen der Liberalen oder Feloul-Angehörigen unterwirft, selbst wenn Teile der Massen vorübergehend von den Losungen und Versprechungen dieser Elite angetan sind, genau so wie sie zuvor mit denen der islamistischen Elite sympathisiert haben.“

Die RSÄ folgert: „Die Geschehnisse in Ägypten zeigen den Höhepunkt der Demokratie, eine Revolution von Millionen, um unmittelbar einen Herrscher zu stürzen. Die Entfernung von Mursi aus dem Amt durch das Militär stand bereits von vornherein fest, als die Armee sah, dass die Massen die Frage schon auf den Straßen und Plätzen Ägyptens gelöst hatten.“

Im Laufe des Juli trat die Logik des Militärputsches jedoch immer deutlicher zu Tage. Es wurde klar, dass die fortschrittlichen Massen von Liberalen und Armee benutzt und getäuscht worden waren. Die brutale Repression gegen Platzbesetzungen und beabsichtigte Demonstrationen von Mursi-Anhängern entlarvte die lange gehegten Absichten der Militär- und Feloul-Kreise. Die ‚neue Welle der ägyptischen Revolution’ versandete, als dies den Massen bewusst wurde.

Das blieb auch den „Revolutionären SozialistInnen Ägyptens“ nicht verborgen. Innerhalb von Wochen verweigerten sie korrekt jede Unterstützung für den Militärputsch oder die ausgeübte Unterdrückung. In ihrer Erklärung am 25.7. schrieben sie: „Gleich welche Verbrechen die Bruderschaft gegen die Bevölkerung und gegen die Kopten begangen hat, in Verteidigung ihrer Macht im Namen der Religion, geben wir Armeeoberhaupt al-Sisi nicht die Autorität, die Moslembruderschaft zu verfolgen. Wir gehen nicht am Freitag auf die Straße, um dem Militär einen Blankoscheck auszustellen, dass es Massaker anrichtet.“

Sie fügten noch korrekt hinzu: „Dem alten Staat mit all seinen repressiven Einrichtungen ein Mandat zu geben, gegen ihre ehemaligen Spießgesellen vorzugehen, heißt auch, ihm hinterher freie Hand bei der Unterdrückung jeglicher Opposition zu lassen. Sie werden alle Protestbewegungen, Arbeiterstreiks, Sitzblockaden und Demonstrationen unterdrücken.“

Nach dem 25. Juli verurteilte ihre Erklärung einmütig das Massaker und verteidigte auch das Recht der Unterstützer der Bruderschaft zu demonstrieren: „Wir verteidigen das Recht der gesamten Bevölkerung, ihre Meinung mit allen friedlichen Mitteln, seien es Demonstrationen oder Sitzblockaden kund zu tun. Dieses  Recht ist in der Januarrevolution 2011 mit dem Blut unserer Märtyrer erkämpft worden.

Wir verurteilen das Massaker, das Dutzende Arme aus der Provinz und Jugendliche der Bruderschaft das Leben gekostet hat (…) Die auf die Leiber der Bruderschaft gerichteten Gewehre  werden unter dem Vorwand, dass die Produktion laufen müsse, schnell auch auf die RevolutionärInnen und diejenigen zielen, die unter den ArbeiterInnen und Armen gegen das Regime protestieren.“

Die RSÄ haben auch die „Initiative des Dritten Platzes unterstützt“, zu der die Partei „Starkes Ägypten“ unter Leitung des früheren Bruderschaftsführers Abdel Moneim Aboul Fotouh, aber auch linke Gruppen aufgerufen haben, und die auf dem Sphinx-Platz in Kairo demonstrierten. Berichten zufolge hatte diese jedoch Bewegung kein massenhaftes Echo. So läuft sie Gefahr, zwischen dem Militär und den Liberalen auf der einen und den Bruderschaftsislamisten auf der Gegenseite zerrieben zu werden.

Wie weiter?

Zweifellos braucht Ägypten eine neue Welle der Revolution. Die Ziele der demokratischen Umwälzung gegen Mubarak sind nicht erreicht worden, weil die Massen, die die Revolution gemacht haben, die Jugend und AktivistInnen der unabhängigen Gewerkschaften keinen Weg fanden, ihre Macht aufrecht zu erhalten, nachdem Mubarak gestürzt war. Als Folge riss zunächst der Oberste Rat der Streitkräfte, dann die Moslembruderschaft und nun wieder die Armee die Macht an sich, diesmal sogar mit Hilfe der Liberalen.

Die Aufgabe von RevolutionärInnen besteht jetzt in der Zusammenführung der Organisationen der Jugend  und Arbeiterschaft unter einer politischen Führung, einer Partei, die einem unabhängigen politischen Programm folgt. Dies muss an erster Stelle für den Sturz der Militärherrschaft und der Übergangsregierung, gegen die Wiedereinsetzung Mursis als Präsident auftreten. Es muss die Einberufung einer souveränen Verfassunggebenden Versammlung auf Grundlage von demokratischen Wahlen unter der Aufsicht der Organisationen der ArbeiterInnen und der Massen fordern.

Klar ist auch, dass eine solche Revolution mehr braucht als die Besetzung von städtischen Plätzen, um Erfolg zu haben. Solche Massendemonstrationen können bei der Bildung einer revolutionären Bewegung zwar hilfreich sein, aber weit stärkere Kräfte können durch einen Generalstreik und von demokratischen Arbeiter- und Bauernorganisationen aktiviert werden. Das bereits vergossene Blut unterstreicht die Notwendigkeit, dass sich Arbeiterorganisationen bewaffnen und Arbeitermilizen formieren.

Ein solcher Kampf um demokratische Rechte, angeführt von Arbeiterorganisationen, vermag nicht nur die revolutionäre Jugend und Studentenschaft einzubeziehen, sondern auch die Massen der städtischen Armut und Kleinbauernschaft und sogar Teile, die zuvor die liberale Bewegung unterstützt hatten. Im Laufe des Kampfes werden aber Schritte über die demokratische Revolution hinaus notwendig sein. Maßnahmen zur Verteilung von Lebensmitteln und zur Stromversorgung, zur Sicherung von lebenswichtigem Verkehr und Kommunikation müssen von den ArbeiterInnen selbst durchgeführt werden, weil die Kapitalisten und der Staatsapparat den Generalstreik brechen wollen.

Eine Organisierung auf dieser Ebene erfordert weit mehr als den Einsatz von Gewerkschaften oder Freiwilligen vor Ort. Jede Revolution hat gezeigt, dass allein Arbeiter- und Soldatenräte, die durch Delegierte zusammenarbeiten, sowohl die Autorität genießen, solche Beschlüsse zu fällen wie auch über die Mittel verfügen, sie zu verankern. Diese Organe sollten die Sicherheit vor Ort und die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung überwachen. RevolutionärInnen propagieren, dass jede neue Regierung diesen Räten verantwortlich zu sein hat.

Eine solche Arbeiter- und Bauernregierung, gebildet und im Auftrag des revolutionären Kampfes für Demokratie würde auch vor Aufgaben und Gefahren stehen, die sie selbst über die radikalsten Maßnahmen einer bürgerlich-demokratischen Regierung hinausgehen lassen. Sie muss die Banken und Schlüsselindustrien verstaatlichen, muss den Reichtum, der v.a. vom Armeeoberkommando angehäuft worden ist, enteignen und die Arbeiterkontrollorgane anerkennen, wo sie schon eingerichtet worden sind. Das ist in der Praxis die Anwendung der Strategie der Permanenten Revolution. Sie allein kann nicht nur den ägyptischen Massen Demokratie bringen und gewährleisten, sondern auch den Weg zur sozialistischen Umwandlung des Landes und schließlich der ganzen Region ebnen.

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