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Ein Aufruf von russischen Linken an ihre GenossInnen im Kampf

Aufruf zur Beteiligung an den internationalen Solidaritätstagen gegen politische Repression in Russland

Rossiskoje sozialistitscheskije dwishenije (RSD, Russische Sozialistische Bewegung), Awtonomoje dejstwije (Autonome Aktion), Lewy front (Linke Front), Infomail 656, 23. November 2012

Heute wenden wir, die RepräsentantInnen von russischen linken Organisationen, uns mit einem Aufruf zur Solidarität an unsere GenossInnen überall auf der Welt. Dieser Aufruf und eure Antwort darauf sind für uns sehr wichtig. Zur Zeit haben es nicht mit einem weiteren Fall der Verurteilung von Unschuldigen durch die russische Straf„justiz“ oder einem weiteren Fall zu tun, wo menschliches Leben durch den repressiven Staatsapparat zerbrochen wird. Jetzt haben die Behörden gegen uns eine Repressionskampagne gestartet, die in der jüngeren Geschichte Russlands ohne Beispiel ist, eine Kampagne, deren Ziel es ist, die Linke als organisierte politische Kraft auszulöschen. Die vor kurzem vorgenommenen Verhaftungen, Bedrohungen, Prügeleien, aggressiven Medienangriffe und Schritte zur Illegalisierung von linken Gruppen deuten allesamt auf eine neue generelle Strategie seitens der Behörden, die viel grausamer und viel weniger absehbar ist als vorher.

Die massive Protestbewegung, die im Dezember 2011 begonnen hat, hat die Atmosphäre politischer und sozialer Passivität, die während der Putin-Jahre vorherrschte, radikal verändert. Zehntausende junger und Menschen im mittleren Alter, Büroangestellte und Staatsangestellte, begannen auf die Strasse zu gehen und Veränderungen zu fordern. Am 10. und 24. Dezember 2011 und dann am 4. Februar 2012 fanden in Moskau, Petersburg und anderen Großstädten massive Kundgebungen statt, die von einem neuen Niveau der Politisierung eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft zeugen. Das Modell der „gelenkten Demokratie“, an dem die herrschende Elite viele Jahre lang gearbeitet hat, ist in wenigen Tagen Bankrott gegangen. In Anbetracht von realer Politik, die unten entstanden ist, verfingen  politische Manipulationen nicht mehr. Die Bewegung, deren Forderungen anfänglich auf „ehrliche Wahlen“ beschränkt waren, wuchs rasch zu einem Protest gegen das ganze politische System an.

Nach der Wahl vom 4. März 2012, mit der sich Wladimir Putin unter Verwendung einer Kombination von massivem administrativem Druck auf die WählerInnen, massiven Fälschungen und verlogener populistischer Rhetorik eine weitere Amtszeit [als Präsident] gesichert hat, dachten viele, das Potential für Protestmobilisierungen sei erschöpft. Die naiven Hoffnungen der Tausenden von Oppositionsfreiwilligen, die in der Hoffnung auf ein Ende des Wählerbetrugs die Rolle von WahlbeobachterInnen übernahmen, wurden zerschlagen.

Die nächste Demonstration, an deren Erfolg nur wenige glaubten, war für den 6. Mai im Zentrum von Moskau angesetzt, für den Tag vor Putins Amtsantritt. Und an diesem Tag kamen trotz der skeptischen Vorhersagen über 60.000 Menschen zusammen. Als der Demonstrationszug den Platz erreichte, wo die Kundgebung stattfinden sollte, organisierte die Polizei eine massive Provokation und versperrte den Marschierenden den Weg auf den Platz. Alle, die den Polizeikordon zu umgehen versuchten, wurden verprügelt und festgenommen. Die beispiellose Polizeigewalt löste bei einigen der Protestierenden Widerstand aus, sie widersetzten sich den Festnahmen und weigerten sich, den Platz zu verlassen, bis alle freigelassen worden waren. Die Konfrontation am 6. Mai dauerte mehrere Stunden. Am Ende wurden über 650 Menschen festgenommen, einige von ihnen verbrachten die Nacht im Gefängnis.

Am nächsten Tag fuhr Putins Autokolonne durch ein leeres Moskau. Die Polizei hatte alle Protestierenden und mit ihnen alle FußgängerInnen aus der Stadt entfernt. Die Ereignisse vom 6. Mai führten zum Aufschwung der Occupy-Bewegung, zu der Tausende von jungen Menschen im Zentrum von Moskau zusammenkamen und die bis Ende Mai stark war. Linke Gruppen, die bis dahin gegenüber etablierten liberalen SprecherInnen der Protestbewegung eine randständige Rolle gespielt hatten, spielten zunehmend eine größere Rolle.

Diese Ereignisse waren für die Behörden ein Signal: Die Bewegung war über das hinausgegangen, was zugelassen war, die Wahlen waren vorüber, und es war an der Zeit, die Zähne zu zeigen. Fast sofort wurde eine strafrechtliche Untersuchung der „massiven Störung der öffentlichen Ordnung“ eingeleitet, und am 27. Mai fand die erste Verhaftung statt. Die 18-jährige Anarchistin Alexandra Duchanina wurde beschuldigt, sie habe sich an den Störungen beteiligt und Gewalt gegen die Polizei angewendet.

An den nächsten Tagen gab es weitere Verhaftungen. Die Beschuldigten waren sowohl langjährige politische AktivistInnen (vor allem Linke) als auch gewöhnliche Menschen, für die die Demonstration am 6. Mai die erste politische Erfahrung mit Politik auf der Straße war.

Bis jetzt sind 19 Menschen wegen der Teilnahme an diesen „Störungen“ angeklagt worden; 12 von ihnen befinden sich in Untersuchungshaft. Hier sind die Geschichten von einigen von ihnen:

Wladimir Akimenkow, 25, Kommunist und Aktivist der Linken Front, ist am 10. Juni 2012 festgenommen worden und wird bis zum 6. März 2013 in Haft bleiben. Wladimir hat einen angeborenen Sehfehler. Im Gefängnis wird dies noch schlimmer. Bei seiner letzten Untersuchung hatte er auf einem Auge eine Sehstärke von 10 %, auf dem anderen 20 %. Das war für das Gericht jedoch kein ausreichender Grund, um die Haft durch Hausarrest zu ersetzen. Bei der letzten Gerichtsverhandlung kommentierte der Richter zynisch, nur eine totale Erblindung würde ihn veranlassen, seine Entscheidung zu überdenken.

Michail Kosenko, 36, nicht politisch organisiert, ist am 8. Juni festgenommen worden. Kosenko, der unter psychischen Störungen leidet, hat ebenfalls Hausarrest anstatt Aufenthalt im Gefängnis beantragt. Das Gericht erklärte ihn für „gefährlich für die Gesellschaft“ und plant für ihn eine Zwangsbehandlung.

Stepan Simin, 20, Anarchist und Antifaschist, ist am 8. Juni festgenommen und bis zum 6. März 2013 in Haft genommen worden, danach kann seine Haft verlängert werden. Stepan sorgt für seine alleinstehende Mutter, doch auch in diesem Fall betrachtete das Gericht dies nicht als ausreichend, um ihn unter der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen, freizulassen.

Nikolai Kawkasski, 26, Sozialist, Menschenrechts- und LGBT-Aktivist, ist am 25. Juli festgenommen worden.

Die Untersuchungsbeamten verfügen über keine glaubwürdigen Beweise für die Schuld von irgendeinem der Beschuldigten. Trotzdem bleiben sie im Gefängnis, und die Zahl von weiteren Verdächtigen steigt weiter an. So wurde vor kurzem, am 18. Oktober, im Zusammenhang mit den „Ereignissen vom 6. Mai“ zuletzt der 51-jährige liberale Aktivist und Wissenschaftler Sergej Kriwow festgenommen.

Alles deutet darauf hin, dass er nicht der letzte gewesen ist. Wenn die Festnahmen von bereits fast 20 gewöhnlichen DemonstrationsteilnehmerInnen in der Protestbewegung Angst verbreiten sollte, dann zielt die Untersuchung gegen die „Organisatoren von massiven Störungen“ darauf ab, zum Schlag gegen die anerkannten Führungen auszuholen. Laut der Untersuchung waren diese „Störungen“ Ergebnis einer Verschwörung, und alle Verhafteten hätten besondere Aufträge erhalten. Dies zeigt, dass wir es nicht nur mit einer Reihe von Festnahmen zu tun haben, sondern mit Vorbereitungen eines groß angelegten politischen Prozesses gegen die Opposition.

Am 5. Oktober hat NTV, einer der führenden russischen Fernsehkanäle, einen Film in der Art eines „investigativen Dokumentarfilms“ ausgestrahlt, der phantastische Anschuldigungen gegen die Opposition und insbesondere gegen den bekanntesten Repräsentanten der Linken, Sergej Udalzow, erhob. Dieses Machwerk, das in der Tradition von Goebbels’ Propaganda steht, informiert uns über Udalzows Verbindungen zu ausländischen Nachrichtendiensten, und die Aktivitäten der Linken Front, an deren Spitze er steht, werden zu geheimen Plänen von ausländischen Staatsfeinden erklärt. Als entscheidenden Beweis enthält der Film Aufnahmen von einem Treffen von Sergej Udalzow, dem Aktivisten der Linken Front Leonid Raswoshajew und dem Mitglied der Russischen Sozialistischen Bewegung Konstantin Lebedew sowie Givi Targamadse, einem der engsten Berater des georgischen Präsidenten.

Bei der Unterhaltung ist insbesondere von Geld die Rede, das die Georgier für die „Destabilisierung“ von Russland zur Verfügung stellen. Trotz der Tatsache, dass die Gesichter auf der Aufnahme praktisch nicht zu erkennen sind und dass der Ton eindeutig bearbeitet und dem Video hinzugefügt worden ist, hat der Untersuchungsausschuss des Büros des Generalstaatsanwalts (die Instanz, die derzeit die führende Rolle bei der Organisation der Repression spielt) sie in nur zwei Tagen benutzt, um ein Strafverfahren zu eröffnen. Am 17. Oktober ist Konstantin Lebedew verhaftet und Sergej Udalzow nach einem Verhör wieder auf freien Fuß gesetzt worden, nachdem er sich schriftlich verpflichtet hatte, Moskau nicht zu verlassen. Am 19. Oktober hat ein dritter an der neuen „Affäre“ Beteiligter, der Aktivist der Linken Front Leonid Raswoshajew versucht, bei der Delegation bei den Vereinten Nationen in der Ukraine um den Status als Flüchtling nachzusuchen. Sobald er das Gebäude der Delegation verließ, zwangen ihn Unbekannte in ein Fahrzeug und transportierten ihn illegal über die ukrainische Grenze auf russisches Territorium.

Sobald er an einem unbekannten Ort in Russland war, wurde er gefoltert und bedroht (darunter Drohungen gegen die Sicherheit seiner Familie) und gezwungen, eine „freiwillige Gehorsamserklärung“ und eine „Geständniserklärung“ zu unterschreiben. In diesen „Erklärungen“ gestand Raswoshajew Verbindungen zu ausländischen Diensten und Vorbereitungen für einen bewaffneten Aufstand, an denen Konstantin Lebedew und Sergej Udalzow ebenfalls beteiligt seien. Danach wurde Raswoshajew nach Moskau überstellt und als eines Verbrechens Beschuldigter ins Gefängnis gebracht. Raswoshajew hat bei Treffen mit MenschenrechtsaktivistInnen versichert, dass er diese unter Zwang gemachten Geständnisse leugnet. Er konnte deren Folgen jedoch nicht leugnen. „Raswoshajews Liste“, die durch Folter aus ihm herausgeprügelt wurde, ist notorisch geworden: Sie enthält die Namen von Menschen, die über kurz oder lang auch verfolgt werden werden.

Der Umfang der Repression dehnt sich ständig aus. Vor kurzem hat der Untersuchungsausschuss den Beginn einer Untersuchung gegen Sergej Udalzows Organisation Linke Front bekannt gegeben, in deren Folge sie durchaus als „extremistisch“ verboten werden könnte. Der Druck gegen die antifaschistische Bewegung steigt gleichfalls an. Die bekannten AktivistInnen Alexej Sutug, Alexej Olesinow, Igor Harchenko, Irina Lipskaja, Alen Wolikow sind unter erfundenen Beschuldigungen festgenommen worden und befinden sich in Moskau in Vorbeugehaft. Der Sozialist und Antifaschist Filip Dolbunow wurde vielfach zu Verhören gezwungen und bedroht.

Es ist kaum ein Zufall, dass die Mehrzahl der Opfer dieser beispiellosen Repressionswelle zur linken Bewegung gehört. In Anbetracht der Vorbereitungen von Sparmaßnahmen in Russland, der Beschneidung des Arbeitsrechts und Rentenreformen hat die Putin-Medwedjew-Administration vor einem Bündnis zwischen der gegenwärtigen allgemeinen demokratischen Bewegung und möglichen Sozialprotesten mehr Angst als vor allem anderen. Die gegenwärtige Repressionswelle ist der wichtigste Test für die neue Protestbewegung in Russland: Entweder halten wir stand, oder uns steht eine neue Periode von Massenapathie und Furcht bevor. Aus genau diesem Grund ist in Anbetracht von beispiellosem Druck der Polizei die Solidarität unserer GenossInnen im Kampf in Europa und in der gesamten Welt so entscheidend.

Wir wenden uns mit der Bitte um die Organisierung von Tagen der Solidarität gegen politische Repression zwischen dem 29. November und 2. Dezember vor der Botschaft der Russischen Föderation oder anderen Vertretungen der russischen Regierung in euren Ländern an euch. Bei diesen Solidaritätstagen geht es um die Forderungen nach sofortiger Freilassung der illegal Verhafteten und Beendung der schändlichen verbrecherischen Aktionen und der Vorbereitungen von neuen, auf Folter und Fälschungen beruhenden „Moskauer Prozessen“. Wir bitten euch auch um die Verwendung der ganz konkreten Informationen bei euren Protesten und Forderungen, mit den Namen und Einzelheiten, die wir in diesem Aufruf nennen. Das ist für jeden Menschen wichtig, der sich heute hinter Gittern befindet.

Bitte schickt eure Berichte über Solidaritätsaktionen und weitere Informationen oder Fragen an diese E-Mail-Adresse: solidarityaction2012@gmail.com.

Solidarität ist unsere einzige Waffe!

Gemeinsam werden wir nie besiegt werden!

Rossiskoje sozialistitscheskije dwishenije (RSD, Russische Sozialistische Bewegung), Awtonomoje dejstwije (Autonome Aktion), Lewy front (Linke Front)

http://www.politzk-ru.org/prizyiv-k-mezhdunarodnyim-dnyam-solidarnosti-protiv-repressij-v-rossii.html

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