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Ver.di-Kampagne der “Druck muss raus”

Wo bleibt der Druck?

Jürgen Roth, Infomail 580, 30. September 2011

Eine große Betriebs- und Personalrätekonferenz im November 2010 in Berlin beschloss, die Debatte über einen Tarifvertrag zum Arbeits- und Gesundheitsschutz zu eröffnen. Darauf startete ver.di betriebliche Befragungen zur Arbeitsbelastung. Deren Ergebnis diskutierten 300 Klinik-Beschäftigte am 28. Juni 2011 in Kassel. Am 9. September tagte die Große Tarifkommission und beschloss einen Eckpunktekatalog, der bis Ende Oktober in den Kliniken diskutiert werden soll.

Die Forderungen

Die Zuschlagsregelungen für Überstunden und alle außerplanmäßigen Einsätze sollen so gestaltet werden, dass „Arbeitgeber“ einen Anreiz erhalten, zusätzlich Personal einzustellen. Mindestbesetzungsregelungen für Nacht- und Wochenenddienste sehen nicht weniger als zwei examinierte Fachkräfte pro Spätschicht vor. Der Dienstplan soll einen Anspruch auf gute Praxisanleitung für Auszubildende vorsehen. Ferner sollen Rahmenbedingungen umgestaltet werden und eine Zulage von 333 Euro für SpringerInnen festgelegt werden. Zudem sollen ein verbindlicher Umgang mit Belastungs- und Gefährdungsanzeigen sowie ein Fortbildungsanspruch von 5 Tagen festgeschrieben werden.

Nicht enthalten in diesem Katalog bzw. verwässert sind folgende Forderungen der Kasseler Konferenz: Freistellung der Stationsleitungen vom allgemeinen Dienst, Begrenzung der Quadratmeter pro Stunde bei Reinigungskräften, keine Nacht- und Wochenenddienste vor und nach Urlaub, Freizeitausgleich für Holen aus dem Frei, Begrenzung von Überstunden und Mehrarbeit.

Einschätzung

Mit Ausnahme der fragwürdigen Freistellung der Stationsleitungen vom allgemeinen Dienst sind alle Forderungen unterstützenswert. Positiv ist auch, dass der Tarifvertrag für alle Träger gelten soll. Auch die gewerkschaftliche „Selbstkritik“, dass der Schulterschluss von September 2008 (Großdemo in Berlin mit 135.000 TeilnehmerInnen) mit diesen selben „Arbeitgebern“ zu praktisch keinem Ergebnis geführt hat und man jetzt um einen Tarifvertrag kämpfen müsse, ist eine erfreuliche, wenn auch späte Einsicht.

Doch nun zu den einzelnen Forderungen. Mindestbesetzungsregelungen greifen nur dann, wenn konkrete Zahlen festgelegt werden. Zumindest müssen ca. 90.000 Stellen in der Pflege wieder besetzt werden, die in den letzten Jahren wegrationalisiert wurden. Zudem: was nützt eine heute überall übliche Besetzung mit 2 Examinierten im Spätdienst, wenn eine Nachtdienstkraft für 35 Betten und mehr mit z.T. Frischoperierten zuständig ist? Fallzunahme und höherer Fallindex (CMI, ein Maßstab für den Schweregrad), enorm gestiegene Anforderungen an Dokumentation und Abrechnung (Codierung nach Fallart und Begleitsymptomen) finden ebenfalls keine Berücksichtigung. Verbindliche Regelung von Überlastungsanzeigen? Heute heften „Arbeitgeber“ und Betriebsräte diese artig in Aktenordner. Zukünftig soll eine paritätische Kommission beraten. Neue Pfründe für freigestellte Betriebs- und Personalräte sowie Gewerkschaftssekretäre tun sich auf, aber am Los der Beschäftigten dürfte es spurlos vorbeigehen.

Den komplexen und sich rapide verändernden modernen Krankenhausbetrieb im Tarifvertrag abzubilden, ist überhaupt eine bürokratische Vorstellung. Eine Umsetzung des Tarifvertrags unter Einbezug aller sich ständig raffiniert verdichtenden Arbeitsabläufe sowie Schritthalten damit bedarf ständiger Anpassung durch (über-)betrieblich gewählte Organe von qualifizierten ArbeitskollegInnen aller Berufsgruppen. Diese müssen über Kontroll- und Vetorechte verfügen müssen, in den Krankenhausbetrieb eingreifen können, um z.B. Aufnahmen und Behandlungsregime zu reglementieren sowie die Marktkonkurrenz unter den „Anbietern“ mittels eines Krankenhausentwicklungsplanes im Ansatz auszuhebeln als erster Schritt zur einheitlichen staatlichen Trägerschaft unter Kontrolle der Arbeitenden als Beschäftigte, Sozialversicherte und PatientInnen!

Hinzu kommt, dass die geforderten Mindestbesetzungsregelungen einelne Beschäftigtengrupen aussparen. Warum fallen ausgerechnet die am schlechtesten bezahlten Berufsgruppen wie Reinigungskräfte im Katalog durch den Rost? Wo bleiben die ambulanten Dienste und die Altenheime?

Basisdemokratische DGB-Gewerkschaft?

Glaubt man ver.dis Verlautbarungen, hat sich hinter unser aller Rücken geradezu eine Revolution abgespielt: „Der Vorstand gab keine Losung aus und ver.di marschierte (…) Statt wie so oft üblich ‚von oben nach unten', heißt es nun ‚von unten nach oben'. Ein Kampagnenrat wurde gebildet, Regionalkonferenzen wurden durchgeführt. Ver.di vertraut den Beschäftigten“.

Natürlich ist die ver.di-Bürokratie im Gesundheitswesen (Fachbereich 3) schwächer als z.B. die der IGM in der Autobranche. Wohl und Wehe der Bonzen hängen auch nicht unbeträchtlich davon ab, dass die Basis aktiv wird. Aber diese ist kaum organisiert, das Gewerkschafts- und Vertrauensleutewesen liegt danieder. Die sozialpartnerschaftliche Bürokratie und ihre sozialdemokratisch dominierten Betriebs- und Personalräte schwingen unangefochten das Zepter. Unabhängige, oppositionelle Kerne sind sehr schwach. Eine ernsthafte Alternative mag sich, wenn überhaupt, erst in einem eventuellen Streik entwickeln. Dazu hat die ver.di-Führung mit ihrer Abwartepolitik selbst beigetragen. Regt sich an der Basis nichts, darf die Spitze schulterzuckend erklären: „Die KollegInnen wollen oder können nicht“.

Führung stellen wir uns anders vor! Wenn der Druck aus den Krankenhäusern raus soll, müssen wir ordentlich selbigen entfalten!

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