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Stuttgart21

Baustopp selbst gemacht!

Anne Moll/Renate Röckweis, Infomail 563, 22. Juni 2011

Seit Wochen hatte Bahn-Boss Grube mit Schadensersatzforderungen wegen der  Bauverzögerungen gedroht, dann setzte er mit einem beschleunigten Weiterbau noch einen drauf.

Den Baustopp für das Milliardengrab, den er im März nach der Landtagswahl verkündet hatte, hatte es nie wirklich gegeben. Es wurde immer weiter gearbeitet. Aber jetzt meinte er kurz vor dem „Stresstest“, richtig Gas geben zu müssen: Millionen an Aufträgen wurden noch vergeben, Rohre für den Grundwasserabfluss wurden geliefert. Am Montag, dem 20.6., wurde sogar die Zufahrtsstraße von der Polizei gesperrt, um die Anlieferung sicherzustellen und eine mögliche Blockade zu verhindern.

Demonstration und Besetzung

Das scheint die Leute wohl provoziert zu haben. Zur Montagsdemo am Abend kamen mit 5.000 TeilnehmerInnen endlich wieder mehr Leute als zuletzt, danach zogen mehr als 3.000 zum Gelände gegenüber dem Südflügel. Während dort auf der einen Seite die „Architekten gegen S21“ die kulturhistorische Fassade gegen die Barbarei der Spekulanten verbal verteidigten, ging es auf der anderen Seite, der Parkseite, zur Sache.

Dort liegt die Baustelle des Grundwassermanagments (GWM), für die am 30.09.10 die ersten Bäume im Schlossgarten fallen mussten. Kaum waren die ersten DemonstrantInnen am Bauzaun angekommen, wurde dieser in einer effektiven schnellen Aktion niedergerissen. Für alle Demoteilnehmer und auch für die Polizei, von der seit Tagen Hunderte positioniert waren, kam diese Aktion völlig überraschend. Sie waren ein paar hundert Meter von Ort des Geschehens entfernt.

So ging die Rechnung der AktivistInnen auf: Die DemonstrantInnen, die sich alle klar darüber sind, dass die Aktionen über einen rein symbolischen Charakter hinaus gehen müssen, besetzten nicht nur die Baustelle und die Wassertanks, sondern haben nachhaltig den Bau verzögert, in dem sie Baumaterial verschwinden ließen, sämtliche Fahrzeuge fahruntüchtig machten und durch fünf Stunden Besetzung ein deutliches Zeichen setzten!

Die völlig überraschte Polizei hatte keine Chance einzugreifen: Knapp 2.000 DemonstrantInnen standen auf einer Baustelle mit viel Material und Möglichkeiten sich zu wehren, es wäre zu einem Katz- und Maus Spiel gekommen, wäre die Polizei eingeschritten. So wurde diese Aktion zu einem neuen Höhepunkt in der Widerstandsbewegung gegen S21.

Sie wurde von allen Schichten der Bewegung getragen: von Jugendlichen, Lohnabhängigen, Rentnern. Es „haben unzählige Bürger aller Altersklassen die Gelegenheit genutzt, ihren Unmut über die Bahn und S21 an Baumaterial und Geräten auszulassen. Betagte Damen ließen die Luft aus gewaltigen Lastwagenreifen, Familienväter und Rentner halfen einander beim Umwerfen von Paletten. Es flogen mächtige Metallteile, ganze Gruppen harmlos anmutender Protestler versuchten sich am Anzünden von Gummiteilen ...“, schreibt ein fassungsloser Journalist der Stuttgarter Zeitung am 21. Juni.

Nach mehreren Stunden gaben dann diejenigen auf, die sich auf die hohen Wassertanks gewagt hatten. Um ihnen freien Rückzug zusichern, hätte ein organisierter Angriff die Polizei zwanzig Meter zurücktreiben müssen. Das war am Montag, dem 20. Juni, jedoch nicht möglich. Im Laufe der Nacht wurde dann auch die Baustelle geräumt.

Für die besondere Empörung der bürgerlichen Medien sorgte die Tatsache, dass ein Zivil-Bulle enttarnt und rausgeworfen wurde. Hier zeigt sich der ganze makabere Zynismus der „Informationspolitik“. Wie mittlerweile auch ein Video auf you tube zeigt, war der Zivil-Bulle als frecher Provokateur unterwegs und fotografierte Leute ab. Als er zur Rede gestellt wurde, warum er denn ungefragt AktivistInnen fotografiere, kam auch noch seine Schusswaffe zum Vorschein. Statt diese üble, wenn auch keinesfalls unübliche Machenschaft anzuprangern, stellten sich die Medien vor den Provokateur, seinen Staatsapparat und die Konzernchefs.

Bei der Räumung wurden 15 AktivistInnen festgenommen. Diesen gilt unsere ungeschränkte Solidarität. Wir fordern die Niederschlagung aller Anklagen und Verfahren gegen die 15 wie gegen alle anderen S21-GegnerInnen, die nun zunehmend kriminalisiert werden sollen. Daher ist es jetzt erforderlich, dass sich die Bewegung nicht spalten lässt in „friedliche“ und „gewalttätige“ AktivistInnen, sondern gemeinsam umso entschlossener vorgeht.

Wie verhält sich das K21-Bündnis?

Es war allerdings wieder einmal bezeichnend, dass von den offiziellen Sprechern des Widerstands, dem K21-Bündnis und den Parkschützern, keine offene Unterstützung kam. M. von Herrmann gab eine Presseerklärung ab, anstatt zu den DemonstrantInnen zu sprechen. Diese Erklärung ging außerdem völlig an der Aktion vorbei: „friedlicher Feierabendprotest“  war wohl reines Wunschdenken und zeugt nur davon, dass er selbst nicht wahrhaben will, dass der zivile Ungehorsam gestern Abend zu Recht abgedankt hat.

Jochen Stopper, Stadtrat der Grünen, beeilte sich, sich von der Aktion zu distanzieren. „Das Aktionsbündnis habe nicht zur Gewalt aufgerufen“, ließ er postwendend verkünden.

Wenn die führenden Köpfe nicht in der Lage sind, eine Perspektive für den Protest aufzuzeigen, nichts anderes bieten können als Phrasen und Beschwörungen des friedlichen, kreativen Protestes, während die Gegenseite permanent angreift und die Kreativität ignoriert, der muss sich nicht wundern, wenn sich der Protest außerhalb ihrer Kontrolle radikalisiert.

Seit dem Widerstandscamp gegen S21 mit anschließender 30stündiger Blockadeaktion am Grundwassermanagement, wurde diese Blockade bis gestern weitergeführt - mit der Beteiligung von bis zu 300 Leuten und wechselnder Unterstützung der Bezugsgruppen, bis hin zu den Unternehmern gegen S21. Insgesamt war diese Dauerblockade aber für die aktivsten Widerständler zunehmend frustrierend. Der Massencharakter blieb aus, es waren überwiegend dieselben Leute, die sich über Wochen bei der Aufrechterhaltung der Blockaden zermürben.

Die Bahnmanager, Bauherren und politischen Verantwortlichen nahmen diese Aktionen durchweg nur als lästiges Übel, nicht aber als ernstzunehmenden Widerstand wahr. Bahnchef Grube verkündete die Wiederaufnahme der Bauarbeiten in vollem Umfang ab dem 20. Juni 2011!

Die „Anti-S21-Partei“ der Landesregierung - die Grünen mit Ministerpräsident Kretschmann an der Spitze - zeigte schnell ihr Gesicht als rein bürgerliche Partei. Sie akzeptieren das Diktat des Kapitals, auch wenn es „unvernünftig“ ist. Die Sozialdemokraten, die zumindest in Stuttgart selbst mehrheitlich inzwischen auf Anti-S-21-Kurs sind, bereiten sich darauf vor, „das Baurecht mit der Polizei durchzusetzen“, so Innenminister Gall (SPD).

Perspektive

Die Aktion vom 20. Juni zeigt aber, dass es nach wie vor ein großes Potential für einen neuen Aufschwung der Bewegung gibt. Es zeigt, dass hunderte, wenn nicht tausende AktivistInnen auf entschlossene Aktionen gegen das Bauprojekt drängen. Gerade weil DemonstrantInnen aus unterschiedlichen politischen Spektren und sozialen Milieus, die sog. „Wutbürger“ zunehmend bereit sind, sich auch an radikaleren Aktionsformen zu beteiligen, haben Presse und TV im Einklang mit Polizei und Kapital eine demagogische Diffamierungskampagne gestartet.

Aktionen wie am 20. Juni sollten aber nicht die Ausnahme bleiben. Sie müssen jedoch von mehr als einer Demonstrationsbewegung getragen werden. Sie werfen auch die Frage auf, auch welche gesellschaftliche Schicht, auf welche Klasse sich der Protest in einem neuen Stadium stützen soll und muss.

Wir treten seit Beginn der Bewegung dafür ein, die Lohnabhängigen mehr und organisiert in die Bewegung zu ziehen, organisiert über Betriebskomitees gegen S21, die politisch Druck auf die Gewerkschaften ausüben müssen, bis zu Streikaktionen, um einen Massenwiderstand gegen S21 aber auch gegen andere Schweinereien des Kapitals aufzubauen.

Es gab Streiks im Groß- und Einzelhandel, bei DruckerInnen und Journalisten. Jetzt kommen die Versicherungen, die Flugsicherung und die Lokomotivführer sind weiter dabei. Trotz kräftiger Aktionen, können diese Tarifbewegungen kaum das Realeinkommen sichern. Sie sind Opfer der gleichen Gier nach Profit, die auch S21 antreibt! Nein, es ist nicht die Kreativität, die hilft, die Bewegung wieder zu verbreitern, sondern es muss politisch bewusst gemacht werden, dass es der Kapitalismus und seine Krise sind, die das Problem sind.

Es gilt nicht nur den Bau zu blockieren, sondern der ganze Privatisierungskurs der Bahn muss angegriffen werden: Ausverkauf der Grundstücke, Spekulation, Umleitung von öffentlichen Geldern in zukünftige Dividenden nach dem Börsengang, Verlotterung des Fahrbetriebs und steigende Ausbeutung der Beschäftigten. Die Stuttgarter Bewegung muss den Schulterschluss mit den Bahnbeschäftigten und den BahnbenutzerInnen bundesweit suchen.

Stoppt 21! Keine Privatisierung, kein Börsengang der Bahn! Öffentlicher Verkehr muss öffentlich sein!

Milliarden für den Ausbau des Öffentlichen Nah- und Regionalverkehrs im Interesse der lohnabhängigen NutzerInnen! Kostenloser Nahverkehr für alle!

Die Macht der Manager bei der Bahn muss gebrochen werden. Rückverstaatlichung der Bahn und der anderen Verkehrs- und Transportunternehmen! - Kontrolliert nicht durch Beamte oder Manager, sondern durch Komitees der Beschäftigten und der BenutzerInnen!

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