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Florenzer Versammlung:

Nein zur Formierung eines neuen Reformismus!

Infomail 234, 24. November 2005

Rund 180 Delegierte kamen am 12./13.11.2005 in Florenz zusammen, um die „Charta für ein anderes Europa“ zu diskutieren. Die Zusammenkunft war ein Versuch, eine Grundsatzerklärung über ein anderes Europa zu formulieren.

Der erste Versuch, die europäische Petition, entsprang der Pariser Konferenz vom 13./14.8.2005. Dafür sollten über 1 Million Unterschriften gesammelt werden. Die französischen Organisatoren unter Führung von Elisabeth Gauthier (KPF) und Michel Rousseau (LCR) sehen dies als Alternative zum EU-Verfassungsprojekt und zur Lissaboner Agenda.

Weder die Pariser noch die Florenzer Versammlung waren offiziell Teil des Europäischen Sozialforums (ESF), aber die Teilnehmer waren bis auf eine Ausnahme ident mit jenen Organisationen, die den Vorbereitungskreis des ESF dominieren. Nur die International Socialist-Tendenz (in Deutschland Linksruck) fehlte.

Die diesjährigen europäischen Vorbereitungstreffen (Athen im Februar, Prag im Mai und Istanbul im September) sowie das nächste (Wien, Januar 2006) sollten eigentlich die Aktionsaufrufe des ESF überarbeiten und über die angegliederte Versammlung der sozialen Bewegungen aktualisieren. Aber sie versumpfen regelmäßig in organisatorischem Gerangel und zähen Debatten über „methodische Fragen“, nur selten wird wirklich über Aktionen gesprochen.

Diese Zusammenkünfte haben ebenso wenig Fortschritte bei der Standortbestimmung des ESF gemacht, obwohl dies als entscheidende Frage nach dem Londoner ESF im Oktober 2004 angesehen worden war. Um diesem Mißstand abzuhelfen, haben Teile der französischen und italienischen ESF-Vorbereitungsgruppen, eigene Projekte, Petitionen und Plattformen ins Leben gerufen.

Die „Charta für ein anderes Europa“ ist ein italienisches Projekt. Neben einigen größeren Gruppen aus Frankreich und kleineren aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien und sogar Russland wurde die Mehrheit der Delegierten von Mitgliedern italienischer Parteien und Gewerkschaften gestellt – vom Gastgeber Rifondazione Comunista (RC), den Demokratischen Sozialisten, Arci, den italienischen Sozialforen, der größten Gewerkschaft CGIL und den radikaleren Verbänden COBAS und SinCobas.

Viele der ausländischen Delegierten vertraten poststalinistische politische Parteien, die nun in der europäischen Linkspartei (ELP) zusammengeschlossen sind, deren 1. Kongreß Ende Oktober in Athen stattfand. Die „Großen vier“ in der ELP sind die RC aus Italien, die KP Frankreichs, die deutsche Linkspartei/PDS und die griechische Synapsimos.

Zwischen Utopie und Reformismus

Die Diskussion wurde in 7 Bereiche aufgeteilt:

Frieden und Sicherheit

Europa in der Welt

Bürgerschaft, Gleichheit und Unterschiede

Arbeiter- und soziale Rechte

Demokratie und Mitbestimmung

für eine andere Wirtschaft – Ware und Umwelt

für eine andere Wirtschaft – gesellschaftliche Ware

Zwei ReferentInnen, üblicherweise aus verschiedenen Ländern, führten jedes Thema ein. Weitergeführt wird es dann auf dem Vorbereitungstreffen in Wien und vor dem Athener ESF. Hier werden Versammlungen zu jedem dieser Themen im Rahmen des ESF Programms abgehalten. Dann wird eine Vollversammlung gefragt, ob sie die Athener Charta für ein anderes Europa annehmen will.

Die Vorstöße zu einer Art Alternativprogramm für die sozialen Bewegungen gegen den Neoliberalismus gingen von einem Treffen von Intellektuellen, Aktivisten und Gewerkschaftlern auf dem Weltsozialforum aus, wo ein kurzes Manifest namens „Konsens von Porto Alegre“ verabschiedet wurde. Sein äußerst gemäßigter Ton konnte jedoch die AktivistInnen in Porto Alegre nicht begeistern. Sie wurden vielmehr von der linkspopulistischen Rhetorik des venezuelanischen Präsidenten Chavez angezogen, der zu einer ausdrücklicheren und sogar sozialistischen Initiative für den SF-Gipfel der Mittel- und Süd-Amerikaner in Caracas Ende Januar 2006 aufrief.

RC und KPF versprechen sich von ihrem Projekt, wieder mehr Aufmerksamkeit der von ihren Parteien durch die neoliberalen Attacken entfremdeten sozialdemokratischen ArbeiterInnen zu bekommen. Das erhoffen sich natürlich auch die vorgeblichen Trotzkisten aus dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale und die IST.

Die Charta für ein anderes Europa wird, gleich in welcher endgültigen Fassung, wie der Konsens von Porto Alegre ein sehr gemäßigtes, reformistisches Dokument werden und von einer Wolke von allgemeinen Rechten und postmodernem Wortschwall umhüllt sein. Es wird keine antikapitalistische oder gar sozialistische Bekundung sein.

Darin wird die Arbeiterklasse als treibende Kraft für gesellschaftliche Veränderung nicht erwähnt, sondern der Wahlsieg von Sektionen der europäischen Linken in Allianz mit ‚reuigen’ Neoliberalen wie Prodi oder ein Bündnis mit Fabius von den EU-Verfassungsgegnern aus der französischen sozialistischen Partei beschworen. Doch dieser Elektoralismus blieb in Florenz unausgesprochen.

Die Versammlung überging jeden revolutionären Gedanken mit Schweigen. Ein Nebel aus postmodernem Utopismus, der nur gelegentlich von Reformwünschen oder gar Unterstützung bestehender kapitalistischer Einrichtungen wie UNO oder internationaler Gerichtshof durchdrungen wurde, hüllte die Debatte ein. Wenn Reformprojekte kritisiert wurden, dann nur deswegen, weil diese Maßnahmen den schönen Traum eines idealen Europa in weitere Ferne rücken würden.

In der Eröffnungssitzung schlug Raffaela Bollini von Arci eine Reihe von ‚universellen Werten’ wie Frieden, demokratische und Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Freiheit vor. Da erhebt sich nur die Frage, für wen sind diese Werte universell?

Bollini forderte, wir sollten das Recht der Menschen auf Widerstand gegen Unterdrückung unterstützen, aber nur durch „Anwendung von Mitteln, die keine zusätzliche Unterdrückung und Verletzung der universellen Rechte produzieren (...) friedliche Mittel und den prinzipiellen Ausschluss von militärischer Gewalt“.

Kurzum, die „universellen Werte“ sind nur eine verlogene Formel zur Rechterfertigung des Gewaltmonopols der Herrschenden und dienen praktisch als Fessel der Unterdrückten.

Allessandra Mecozzi, Führerin der Fiom-CGIL-Gewerkschaft sprach von einem Europa, das nationale Identitäten überwinden muss, auch den Europäismus. Dieser Kosmopolitismus muss, wie sie sagte, sozial und kulturell sein: ein Europa der Frauen, BäuerInnen, ArbeiterInnen und der Ausgegrenzten. Das Recht von Nationen auf Selbstbestimmung wertete sie gering. Sie wies auf die schreckliche Zerstörung durch die im Namen des Nationalismus geführten Balkankriege hin, so als hätte nicht genau die Leugnung dieses Rechts den Kroatien- und Bosnienkrieg verursacht.

Eine weitere italienische Vertreterin, Lidia Menapace, hatte die geniale Idee, dass unterdrückte Nationen gleich zum Kosmopolitismus und menschlicher Solidarität übergehen sollten, statt noch den trennenden Umweg über die Errichtung unabhängiger Staaten einzuschlagen. Natürlich wandten sich die baskischen und katalanischen Vertreter, deren Nationalitäten noch nie das Recht auf Selbstbestimmung genossen haben, stark dagegen. Leo Gabriel betonte – in Anklang an Otto Bauers austromarxistische Lösung der Nationalitätenfrage – weitreichende Selbständigkeit für Nationen und Kulturen, aber keine Abtrennung.

Viele gleichartige Debatten folgten. Auf der einen Seite standen die Befürworter einer reformierten EU, während andere für ein unspezifiziertes alternatives Europa vom Cap Finisterre bis zum Ural argumentierten. Letztgenannte waren knapp in der Mehrheit, obwohl es wie beim ESF üblich, Resolutionen, Abänderungen und Abstimmungen nicht gab. Gegen alle Regeln der Arbeiterdemokratie können die Schreiber des Schlussdokuments den Farbtopf der Ideen aus der Versammlung frei vermischen und verwischen.

Die Debatte über die Struktur der Charta wurde laufend geführt. Einige Reformisten wie die griechischen Eurokommunisten von Synapsysmos wollten ein Programm mit konkreten Forderungen. Andere v.a. aus Teilen der italienischen Bewegung traten für eine alternative Vision eines neuen Europa auf der Grundlage von einer Reihe sozialer und politischer Rechte ein und drückten sich so vor der Gretchenfrage: wie gelangt man zu diesem anderen Europa?

Die Beweggründe für solche Ausweichmanöver sind unterschiedlich. Gianfranco Benzi von der CGIL brachte klar zum Ausdruck, dass das ESF nicht der Ort sei, Gewerkschaftsführern zu erzählen, was zu tun oder zu sagen ist. Andere wie Rafaela Bollini legten ihre Ablehnung ‚totalitärer’ Ideen wie Klasse und Sozialismus dar. Die Herstellung eines Konsenses sei vordringliche Aufgabe der Charta, meinte sie.

Dies könnte zur Konstruktion des ersten „postmodernen“ europäischen politischen Manifests führen, das die Bedeutung der Arbeiterklassenidentität herunterspielt und es ablehnt, für das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft zu kämpfen. Es würde als Alibi für die Bildung neuer Volksfrontallianzen von Linken und den Bossen dienen.

Es bewegt sich schon in die Richtung. Rifondazione stimmte auf ihrem letzten Kongress für die Unterstützung einer neuen Oliven-Koalitionsregierung. Und dies nachdem ihr Führer Fausto Bertinotti in derselben Stadt erklärt hatte, dass die RC aus den Fehlern dieses verhängnisvollen Experiments gelernt hätte und den Fehler kein zweites Mal begehen würde. Damals erhielt er donnernden Beifall aus dem vollen Saal.

In Deutschland hoffen Oskar Lafontaine und die Führungen von Linkspartei und WASG auf eine zukünftige Regierung mit der SPD und Grünen. In Frankreich hat die Tiefe der Risse in der Sozialistischen Partei durch die Abstimmung zur EU-Verfassung zu Ideen von einer neuen Linken, die sich von den umformierten Sozialisten über die KP bis hin zur LCR erstreckt, geführt.

Können Koalitionen eine Alternative bieten? Nein!

Europas Bosse sind fest entschlossen, die Lissaboner Agenda durchzuführen. Diese Haltung wird angetrieben durch die Konkurrenz zu den USA. Jede Koalitionsregierung würde in eine Zwickmühle geraten zwischen einem neoliberalen Programm und den Bedürfnissen der ArbeiterInnen, die sie an die Regierung gewählt haben. Die Massen werden von militanten Aktionen Abstand nehmen in dem Glauben, ‚ihre’ Regierung würde ihre Interessen vertreten.

Natürlich sind diese Vorschläge so neu nicht, sondern nur ein Aufguss einer altmodischen Volksfront. In den 30er Jahren standen KPen in Frankreich und Spanien an der Spitze radikaler Massenbewegungen, die einen grundlegenden Wandel forderten und mit heftiger Gegenwehr gegen faschistische Umtriebe verknüpft waren. Statt um die Macht zu kämpfen, engagierte sich die KP-Führung für Koalitionen mit Parteien der herrschenden Klasse. In Spanien war die Folge eine faschistische Diktatur, während in Frankreich die Ereignisse in den 2.Weltkrieg mündeten.

Die historische Verbindung kommt nicht überraschend. Zwei Wochen später hielt die europäische Linkspartei ihre Jahreskonferenz in Athen ab. Die Berichte sprechen von Selbstgefälligkeit statt ernsthafter Diskussion über die Aufgaben des Klassenkampfes und der Rolle der Linken darin. Die ELP sieht das Athener ESF wie die Gewerkschaftsbürokratie als Denkfabrik für politische Winkelzüge, die Schaffung eines Umfeldes von Sozialbewegungen um sie herum und sehr beschränkte Koordinationen von Protestaktionen.

Es ist dringend notwendig, eine radikalere Haltung einzunehmen!

In den letzten Monaten gab es mehrere Generalstreiks (allein zwei in Belgien), die massenhafte Jugendrebellion in französischen Vorstädten und die Fortsetzung der neoliberalen Offensive.

Doch die Florenzer Versammlung verabschiedete eine völlig unzureichende Erklärung zu den französischen Unruhen, die sich nicht mit der rebellierenden Jugend solidarisiert oder zu Massenaktionen für ihre Verteidigung gegen den französischen Staat aufruft. Selbst die Anberaumung eines europaweiten Aktionstages gegen Sozialabbau hat die ESF-Führung beharrlich vermieden.

Sicher stimmt das ESF auch keinem radikalen Programm von Massenaktionen gegen die neoliberalen Reformen in Europa zu, der Mobilisierung von Arbeitern für die Ausweitung sozialer Wohlfahrtseinrichtungen, einer Verstaatlichung von Industrie unter Arbeiterkontrolle, dem Kampf der Revolution gegen das Europa der Bosse und der Schaffung eines sozialistischen Europas der Arbeiter. Das ist das Ziel einer revolutionären Charta für ein wirklich anderes Europa. Dafür wird sich die Liga für die 5. Internationale als Programm für das Athener ESF einsetzen.

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